Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Indische Zustände

Astarabad gelöst werden. Khorassan ist dann ganz in seiner Hand, und jede
von Teheran ausgehende Unternehmung läßt sich von Astarabad ans leicht
vereiteln.

Von größerer Bedeutung ist die Haltung der Afghanen, weil sie die Zu¬
gänge zu den Suleimcmpässen besetzt halten. Aber auch hier hat England
wenig zu hoffen. Wohl bemüht es sich, dnrch regelmüßige Zahlung von Sub-
sidien den Amir ans seiner Seite zu halten und seine Zentralgewnlt zu ver¬
stärken. Aber Afghanistan hat nie eine feste monarchische Regierung gehabt
und kann sie nie haben. Die Nation besteht aus einer Vereinigung von mehr
oder weniger unabhängigen Stämmen, deren Hauptzug ein starkes, zügelloses
Freiheitsgefühl ist. Und selbst wen" der Amir treu zu England hielte, so
würde das von wenig Gewicht sein, wenn nicht die Masse seiner Unterthanen
zu derselben Seite hinneigte. Das ist aber kaum anzunehmen. Rußland er¬
scheint als der angreifende, folglich als der stärkere Teil. England hat sich
dnrch zwei ungerechte Kriege die rachsüchtigen Afghanen zu Feinden gemacht.
Und vor allem: "Der Afghane wie der Turkvmane ist ein berufsmüßiger
Freibeuter. Er hält es für löblicher, sich zu bereichern durch Mord und
Plünderung als durch Fleiß und Arbeit; und man kann sich leicht den Triumph
und die Freude dieser angenehmen Gesellschaft vorstellen, wenn es dem Weißen
Zaren an der Newa in den Sinn kommen sollte, einen Zug nach Indien zu
unternehmen und sie zur Teilnahme aufzufordern."

Auch die turkvmcmischen Freischaren, die sich dem Heere des Zaren
anschließen werden, sind nicht zu unterschützen. "Das nomadische Element hat
immer einen großen Teil der Heere gebildet, die in Indien vom Nordwesten
einfielen, und wenn diese Nomaden zur Zeit des Nadir im Felde erschienen,
gedrillt im Geiste der militärischen Organisation Altasiens, so wird Nußland
Sorge tragen, daß die mit ihm marschierenden in allen Beziehungen den mo¬
dernen Ansprüchen an eine Miliz dieser Art nachkomme" werden" (Vambvry).
Die Russen haben, nach Vambcirys Bericht, auch schon begonnen, die Turko-
manen als irreguläre Kavallerie nach dem Muster der Kosaken zu organi-
siren. Und daß sich Nußland der Hilfe dieser fliegenden Scharen bedienen
würde, dafür bürgen die Worte General Skvbeleffs. Im Jahre 1878, als
der Ausbruch eines russisch-englischen Krieges drohte, legte der Held von Plewna
der russischen Regierung einen Plan für einen Zug gegen Indien vor, der mich
zur Ausführung gekommen sein würde, wenn der Berliner Kongreß erfolglos
geblieben wäre. Darin heißt es: "Es wird schließlich unsre Pflicht sein,
Massen asiatischer Kavallerie zu organisiren, sie unter der Losung von Mord
und Plünderung nach Indien hineinzuwerfen, gleichsam als eine Avantgarde,
und so die Zeiten eines Tamerlan zu erneuern." Aber alle diese Nachteile
werden durch die Gunst der natürlichen Lage aufgewogen. Nicht in seiner
eignen Militärmacht, nicht in der Bundesgenossenschaft andrer Staaten oder


Indische Zustände

Astarabad gelöst werden. Khorassan ist dann ganz in seiner Hand, und jede
von Teheran ausgehende Unternehmung läßt sich von Astarabad ans leicht
vereiteln.

Von größerer Bedeutung ist die Haltung der Afghanen, weil sie die Zu¬
gänge zu den Suleimcmpässen besetzt halten. Aber auch hier hat England
wenig zu hoffen. Wohl bemüht es sich, dnrch regelmüßige Zahlung von Sub-
sidien den Amir ans seiner Seite zu halten und seine Zentralgewnlt zu ver¬
stärken. Aber Afghanistan hat nie eine feste monarchische Regierung gehabt
und kann sie nie haben. Die Nation besteht aus einer Vereinigung von mehr
oder weniger unabhängigen Stämmen, deren Hauptzug ein starkes, zügelloses
Freiheitsgefühl ist. Und selbst wen» der Amir treu zu England hielte, so
würde das von wenig Gewicht sein, wenn nicht die Masse seiner Unterthanen
zu derselben Seite hinneigte. Das ist aber kaum anzunehmen. Rußland er¬
scheint als der angreifende, folglich als der stärkere Teil. England hat sich
dnrch zwei ungerechte Kriege die rachsüchtigen Afghanen zu Feinden gemacht.
Und vor allem: „Der Afghane wie der Turkvmane ist ein berufsmüßiger
Freibeuter. Er hält es für löblicher, sich zu bereichern durch Mord und
Plünderung als durch Fleiß und Arbeit; und man kann sich leicht den Triumph
und die Freude dieser angenehmen Gesellschaft vorstellen, wenn es dem Weißen
Zaren an der Newa in den Sinn kommen sollte, einen Zug nach Indien zu
unternehmen und sie zur Teilnahme aufzufordern."

Auch die turkvmcmischen Freischaren, die sich dem Heere des Zaren
anschließen werden, sind nicht zu unterschützen. „Das nomadische Element hat
immer einen großen Teil der Heere gebildet, die in Indien vom Nordwesten
einfielen, und wenn diese Nomaden zur Zeit des Nadir im Felde erschienen,
gedrillt im Geiste der militärischen Organisation Altasiens, so wird Nußland
Sorge tragen, daß die mit ihm marschierenden in allen Beziehungen den mo¬
dernen Ansprüchen an eine Miliz dieser Art nachkomme« werden" (Vambvry).
Die Russen haben, nach Vambcirys Bericht, auch schon begonnen, die Turko-
manen als irreguläre Kavallerie nach dem Muster der Kosaken zu organi-
siren. Und daß sich Nußland der Hilfe dieser fliegenden Scharen bedienen
würde, dafür bürgen die Worte General Skvbeleffs. Im Jahre 1878, als
der Ausbruch eines russisch-englischen Krieges drohte, legte der Held von Plewna
der russischen Regierung einen Plan für einen Zug gegen Indien vor, der mich
zur Ausführung gekommen sein würde, wenn der Berliner Kongreß erfolglos
geblieben wäre. Darin heißt es: „Es wird schließlich unsre Pflicht sein,
Massen asiatischer Kavallerie zu organisiren, sie unter der Losung von Mord
und Plünderung nach Indien hineinzuwerfen, gleichsam als eine Avantgarde,
und so die Zeiten eines Tamerlan zu erneuern." Aber alle diese Nachteile
werden durch die Gunst der natürlichen Lage aufgewogen. Nicht in seiner
eignen Militärmacht, nicht in der Bundesgenossenschaft andrer Staaten oder


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0628" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/216352"/>
          <fw type="header" place="top"> Indische Zustände</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2440" prev="#ID_2439"> Astarabad gelöst werden. Khorassan ist dann ganz in seiner Hand, und jede<lb/>
von Teheran ausgehende Unternehmung läßt sich von Astarabad ans leicht<lb/>
vereiteln.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2441"> Von größerer Bedeutung ist die Haltung der Afghanen, weil sie die Zu¬<lb/>
gänge zu den Suleimcmpässen besetzt halten. Aber auch hier hat England<lb/>
wenig zu hoffen. Wohl bemüht es sich, dnrch regelmüßige Zahlung von Sub-<lb/>
sidien den Amir ans seiner Seite zu halten und seine Zentralgewnlt zu ver¬<lb/>
stärken. Aber Afghanistan hat nie eine feste monarchische Regierung gehabt<lb/>
und kann sie nie haben. Die Nation besteht aus einer Vereinigung von mehr<lb/>
oder weniger unabhängigen Stämmen, deren Hauptzug ein starkes, zügelloses<lb/>
Freiheitsgefühl ist. Und selbst wen» der Amir treu zu England hielte, so<lb/>
würde das von wenig Gewicht sein, wenn nicht die Masse seiner Unterthanen<lb/>
zu derselben Seite hinneigte. Das ist aber kaum anzunehmen. Rußland er¬<lb/>
scheint als der angreifende, folglich als der stärkere Teil. England hat sich<lb/>
dnrch zwei ungerechte Kriege die rachsüchtigen Afghanen zu Feinden gemacht.<lb/>
Und vor allem: &#x201E;Der Afghane wie der Turkvmane ist ein berufsmüßiger<lb/>
Freibeuter. Er hält es für löblicher, sich zu bereichern durch Mord und<lb/>
Plünderung als durch Fleiß und Arbeit; und man kann sich leicht den Triumph<lb/>
und die Freude dieser angenehmen Gesellschaft vorstellen, wenn es dem Weißen<lb/>
Zaren an der Newa in den Sinn kommen sollte, einen Zug nach Indien zu<lb/>
unternehmen und sie zur Teilnahme aufzufordern."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2442" next="#ID_2443"> Auch die turkvmcmischen Freischaren, die sich dem Heere des Zaren<lb/>
anschließen werden, sind nicht zu unterschützen. &#x201E;Das nomadische Element hat<lb/>
immer einen großen Teil der Heere gebildet, die in Indien vom Nordwesten<lb/>
einfielen, und wenn diese Nomaden zur Zeit des Nadir im Felde erschienen,<lb/>
gedrillt im Geiste der militärischen Organisation Altasiens, so wird Nußland<lb/>
Sorge tragen, daß die mit ihm marschierenden in allen Beziehungen den mo¬<lb/>
dernen Ansprüchen an eine Miliz dieser Art nachkomme« werden" (Vambvry).<lb/>
Die Russen haben, nach Vambcirys Bericht, auch schon begonnen, die Turko-<lb/>
manen als irreguläre Kavallerie nach dem Muster der Kosaken zu organi-<lb/>
siren. Und daß sich Nußland der Hilfe dieser fliegenden Scharen bedienen<lb/>
würde, dafür bürgen die Worte General Skvbeleffs. Im Jahre 1878, als<lb/>
der Ausbruch eines russisch-englischen Krieges drohte, legte der Held von Plewna<lb/>
der russischen Regierung einen Plan für einen Zug gegen Indien vor, der mich<lb/>
zur Ausführung gekommen sein würde, wenn der Berliner Kongreß erfolglos<lb/>
geblieben wäre. Darin heißt es: &#x201E;Es wird schließlich unsre Pflicht sein,<lb/>
Massen asiatischer Kavallerie zu organisiren, sie unter der Losung von Mord<lb/>
und Plünderung nach Indien hineinzuwerfen, gleichsam als eine Avantgarde,<lb/>
und so die Zeiten eines Tamerlan zu erneuern." Aber alle diese Nachteile<lb/>
werden durch die Gunst der natürlichen Lage aufgewogen. Nicht in seiner<lb/>
eignen Militärmacht, nicht in der Bundesgenossenschaft andrer Staaten oder</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0628] Indische Zustände Astarabad gelöst werden. Khorassan ist dann ganz in seiner Hand, und jede von Teheran ausgehende Unternehmung läßt sich von Astarabad ans leicht vereiteln. Von größerer Bedeutung ist die Haltung der Afghanen, weil sie die Zu¬ gänge zu den Suleimcmpässen besetzt halten. Aber auch hier hat England wenig zu hoffen. Wohl bemüht es sich, dnrch regelmüßige Zahlung von Sub- sidien den Amir ans seiner Seite zu halten und seine Zentralgewnlt zu ver¬ stärken. Aber Afghanistan hat nie eine feste monarchische Regierung gehabt und kann sie nie haben. Die Nation besteht aus einer Vereinigung von mehr oder weniger unabhängigen Stämmen, deren Hauptzug ein starkes, zügelloses Freiheitsgefühl ist. Und selbst wen» der Amir treu zu England hielte, so würde das von wenig Gewicht sein, wenn nicht die Masse seiner Unterthanen zu derselben Seite hinneigte. Das ist aber kaum anzunehmen. Rußland er¬ scheint als der angreifende, folglich als der stärkere Teil. England hat sich dnrch zwei ungerechte Kriege die rachsüchtigen Afghanen zu Feinden gemacht. Und vor allem: „Der Afghane wie der Turkvmane ist ein berufsmüßiger Freibeuter. Er hält es für löblicher, sich zu bereichern durch Mord und Plünderung als durch Fleiß und Arbeit; und man kann sich leicht den Triumph und die Freude dieser angenehmen Gesellschaft vorstellen, wenn es dem Weißen Zaren an der Newa in den Sinn kommen sollte, einen Zug nach Indien zu unternehmen und sie zur Teilnahme aufzufordern." Auch die turkvmcmischen Freischaren, die sich dem Heere des Zaren anschließen werden, sind nicht zu unterschützen. „Das nomadische Element hat immer einen großen Teil der Heere gebildet, die in Indien vom Nordwesten einfielen, und wenn diese Nomaden zur Zeit des Nadir im Felde erschienen, gedrillt im Geiste der militärischen Organisation Altasiens, so wird Nußland Sorge tragen, daß die mit ihm marschierenden in allen Beziehungen den mo¬ dernen Ansprüchen an eine Miliz dieser Art nachkomme« werden" (Vambvry). Die Russen haben, nach Vambcirys Bericht, auch schon begonnen, die Turko- manen als irreguläre Kavallerie nach dem Muster der Kosaken zu organi- siren. Und daß sich Nußland der Hilfe dieser fliegenden Scharen bedienen würde, dafür bürgen die Worte General Skvbeleffs. Im Jahre 1878, als der Ausbruch eines russisch-englischen Krieges drohte, legte der Held von Plewna der russischen Regierung einen Plan für einen Zug gegen Indien vor, der mich zur Ausführung gekommen sein würde, wenn der Berliner Kongreß erfolglos geblieben wäre. Darin heißt es: „Es wird schließlich unsre Pflicht sein, Massen asiatischer Kavallerie zu organisiren, sie unter der Losung von Mord und Plünderung nach Indien hineinzuwerfen, gleichsam als eine Avantgarde, und so die Zeiten eines Tamerlan zu erneuern." Aber alle diese Nachteile werden durch die Gunst der natürlichen Lage aufgewogen. Nicht in seiner eignen Militärmacht, nicht in der Bundesgenossenschaft andrer Staaten oder

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/628
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/628>, abgerufen am 22.07.2024.