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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Indische Zustände

Truppenmassen des europäischen Rußlands. Ungko-Jndien verfügt nur über
71000 Maun englische Truppen und 141000 uicht immer zuverlässige ein¬
heimische Söldner. Aber selbst von diesen 212000 Mann kann nur ein Teil
gegen außen verwendet werden. Denn die anglo-indische Armee ist nicht so
sehr eine Armee zur Verwendung gegen einen äußern Feind, als eine militä¬
risch organisirte Polizeitrnppe, deren Hauptaufgabe die Aufrechterhaltung der
Ruhe innerhalb des Reiches ist. Wenn wir annehmen, daß zur Verteidigung
der Nordwestgrenze eine Feldarmee von 100000 Mann aufgestellt werden
könnte, so haben wir wohl eher zu hoch als zu niedrig gegriffen. Auch das
Mutterland könnte keine bedeutenden Verstärkungen abgeben, da seine eignen
Nerteidiguugsmittel gegenüber der Gefahr einer französisch-russischen Verbin¬
dung keineswegs besonders stark sind. Ein so ungünstiges Zahlenverhältnis
wird auch nicht einmal zum Teil durch eine moralische Überlegenheit der cmglo-
indischen Truppen ausgeglichen. Denn eine überlegne Tapferkeit kann jeden¬
falls nur den britischen Soldaten zugeschrieben werden, nicht auch dem Sepoy,
und dem steheu ans russischer Seite gegenüber eine größere Genügsamkeit und
Gewöhnung an Entbehrungen bei dem gemeinen Mann, eine bessere Disziplin,
eine mehr modernen Verhältnissen angepaßte Taktik und größere Übung der
Generale in der Führung großer Truppenkörper.

Die Engländer können aber auch nnr mit wenig Wahrscheinlichkeit darauf
rechnen, in Asien Bundesgenossen zu finden. Ein Asiat, der zwischen der
Bundesgenossenschaft Rußlands und der Englands zu wähle" hat, wird sich
unbedingt folgende zwei Fragen vorlegen: Wer ist der Stärkere? und wo kann
ich am meisten gewinnen? Und es ist wohl kaum zweifelhaft, wie die Ant¬
wort ausfallen würde. Beginnen wir zunächst mit Persien. Wenn der Schah
Vertrauen auf die Stärke und Bundestreue Englands haben könnte, so würde
er wahrscheinlich dessen Partei ergreifen. Aber wo viel zu gewinnen ist, da
ist auch viel fiir ihn zu verlieren. Und die Aussichten auf Gewinn sind nicht
günstig. Auch ist der Schah schon einmal von England in der Stunde der
Gefahr vertragsbrüchig im Stich gelassen worden. Da ist es denn nicht zu
verwundern, daß die besten Kenner Persiens erklären, das beste, was England
hoffen könne, sei eine Neutralität des Schäds, ein Bündnis mit Rußland aber
sei durchaus nicht unwahrscheinlich. Schließlich würde eine feindselige Hal¬
tung Persiens gar nicht so gefährlich für Rußland sein, wie die Engländer
meistens annehmen. Die persische Provinz, von der aus allein die Flanke und
die Rückwärtsverbinduugen einer gegen Indien rückender russischen Armee be¬
droht werden konnten, ist Khorassan. Aber diese große nordöstliche Provinz
hängt, gemäß der Lage der großen Sandwüste, mit den westlichen und süd¬
lichen, bewohnten Teilen Persiens nur durch einen schmalen Streifen im Süd¬
osten des Kaspisees zusammen. Die politische Verbindung, die stets nur lose
gewesen ist, kann von Rußland mit einem Schlage durch die Besetzung von


Indische Zustände

Truppenmassen des europäischen Rußlands. Ungko-Jndien verfügt nur über
71000 Maun englische Truppen und 141000 uicht immer zuverlässige ein¬
heimische Söldner. Aber selbst von diesen 212000 Mann kann nur ein Teil
gegen außen verwendet werden. Denn die anglo-indische Armee ist nicht so
sehr eine Armee zur Verwendung gegen einen äußern Feind, als eine militä¬
risch organisirte Polizeitrnppe, deren Hauptaufgabe die Aufrechterhaltung der
Ruhe innerhalb des Reiches ist. Wenn wir annehmen, daß zur Verteidigung
der Nordwestgrenze eine Feldarmee von 100000 Mann aufgestellt werden
könnte, so haben wir wohl eher zu hoch als zu niedrig gegriffen. Auch das
Mutterland könnte keine bedeutenden Verstärkungen abgeben, da seine eignen
Nerteidiguugsmittel gegenüber der Gefahr einer französisch-russischen Verbin¬
dung keineswegs besonders stark sind. Ein so ungünstiges Zahlenverhältnis
wird auch nicht einmal zum Teil durch eine moralische Überlegenheit der cmglo-
indischen Truppen ausgeglichen. Denn eine überlegne Tapferkeit kann jeden¬
falls nur den britischen Soldaten zugeschrieben werden, nicht auch dem Sepoy,
und dem steheu ans russischer Seite gegenüber eine größere Genügsamkeit und
Gewöhnung an Entbehrungen bei dem gemeinen Mann, eine bessere Disziplin,
eine mehr modernen Verhältnissen angepaßte Taktik und größere Übung der
Generale in der Führung großer Truppenkörper.

Die Engländer können aber auch nnr mit wenig Wahrscheinlichkeit darauf
rechnen, in Asien Bundesgenossen zu finden. Ein Asiat, der zwischen der
Bundesgenossenschaft Rußlands und der Englands zu wähle» hat, wird sich
unbedingt folgende zwei Fragen vorlegen: Wer ist der Stärkere? und wo kann
ich am meisten gewinnen? Und es ist wohl kaum zweifelhaft, wie die Ant¬
wort ausfallen würde. Beginnen wir zunächst mit Persien. Wenn der Schah
Vertrauen auf die Stärke und Bundestreue Englands haben könnte, so würde
er wahrscheinlich dessen Partei ergreifen. Aber wo viel zu gewinnen ist, da
ist auch viel fiir ihn zu verlieren. Und die Aussichten auf Gewinn sind nicht
günstig. Auch ist der Schah schon einmal von England in der Stunde der
Gefahr vertragsbrüchig im Stich gelassen worden. Da ist es denn nicht zu
verwundern, daß die besten Kenner Persiens erklären, das beste, was England
hoffen könne, sei eine Neutralität des Schäds, ein Bündnis mit Rußland aber
sei durchaus nicht unwahrscheinlich. Schließlich würde eine feindselige Hal¬
tung Persiens gar nicht so gefährlich für Rußland sein, wie die Engländer
meistens annehmen. Die persische Provinz, von der aus allein die Flanke und
die Rückwärtsverbinduugen einer gegen Indien rückender russischen Armee be¬
droht werden konnten, ist Khorassan. Aber diese große nordöstliche Provinz
hängt, gemäß der Lage der großen Sandwüste, mit den westlichen und süd¬
lichen, bewohnten Teilen Persiens nur durch einen schmalen Streifen im Süd¬
osten des Kaspisees zusammen. Die politische Verbindung, die stets nur lose
gewesen ist, kann von Rußland mit einem Schlage durch die Besetzung von


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[0627] Indische Zustände Truppenmassen des europäischen Rußlands. Ungko-Jndien verfügt nur über 71000 Maun englische Truppen und 141000 uicht immer zuverlässige ein¬ heimische Söldner. Aber selbst von diesen 212000 Mann kann nur ein Teil gegen außen verwendet werden. Denn die anglo-indische Armee ist nicht so sehr eine Armee zur Verwendung gegen einen äußern Feind, als eine militä¬ risch organisirte Polizeitrnppe, deren Hauptaufgabe die Aufrechterhaltung der Ruhe innerhalb des Reiches ist. Wenn wir annehmen, daß zur Verteidigung der Nordwestgrenze eine Feldarmee von 100000 Mann aufgestellt werden könnte, so haben wir wohl eher zu hoch als zu niedrig gegriffen. Auch das Mutterland könnte keine bedeutenden Verstärkungen abgeben, da seine eignen Nerteidiguugsmittel gegenüber der Gefahr einer französisch-russischen Verbin¬ dung keineswegs besonders stark sind. Ein so ungünstiges Zahlenverhältnis wird auch nicht einmal zum Teil durch eine moralische Überlegenheit der cmglo- indischen Truppen ausgeglichen. Denn eine überlegne Tapferkeit kann jeden¬ falls nur den britischen Soldaten zugeschrieben werden, nicht auch dem Sepoy, und dem steheu ans russischer Seite gegenüber eine größere Genügsamkeit und Gewöhnung an Entbehrungen bei dem gemeinen Mann, eine bessere Disziplin, eine mehr modernen Verhältnissen angepaßte Taktik und größere Übung der Generale in der Führung großer Truppenkörper. Die Engländer können aber auch nnr mit wenig Wahrscheinlichkeit darauf rechnen, in Asien Bundesgenossen zu finden. Ein Asiat, der zwischen der Bundesgenossenschaft Rußlands und der Englands zu wähle» hat, wird sich unbedingt folgende zwei Fragen vorlegen: Wer ist der Stärkere? und wo kann ich am meisten gewinnen? Und es ist wohl kaum zweifelhaft, wie die Ant¬ wort ausfallen würde. Beginnen wir zunächst mit Persien. Wenn der Schah Vertrauen auf die Stärke und Bundestreue Englands haben könnte, so würde er wahrscheinlich dessen Partei ergreifen. Aber wo viel zu gewinnen ist, da ist auch viel fiir ihn zu verlieren. Und die Aussichten auf Gewinn sind nicht günstig. Auch ist der Schah schon einmal von England in der Stunde der Gefahr vertragsbrüchig im Stich gelassen worden. Da ist es denn nicht zu verwundern, daß die besten Kenner Persiens erklären, das beste, was England hoffen könne, sei eine Neutralität des Schäds, ein Bündnis mit Rußland aber sei durchaus nicht unwahrscheinlich. Schließlich würde eine feindselige Hal¬ tung Persiens gar nicht so gefährlich für Rußland sein, wie die Engländer meistens annehmen. Die persische Provinz, von der aus allein die Flanke und die Rückwärtsverbinduugen einer gegen Indien rückender russischen Armee be¬ droht werden konnten, ist Khorassan. Aber diese große nordöstliche Provinz hängt, gemäß der Lage der großen Sandwüste, mit den westlichen und süd¬ lichen, bewohnten Teilen Persiens nur durch einen schmalen Streifen im Süd¬ osten des Kaspisees zusammen. Die politische Verbindung, die stets nur lose gewesen ist, kann von Rußland mit einem Schlage durch die Besetzung von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/627>, abgerufen am 22.07.2024.