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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Gervinus Selbstbiographie

steifte Dünkel, der seitdem an unsern Universitäten so ins Kraut geschossen ist,
bedenklich geltend. Es unterliegt zwar nach allem, was diese Selbstbio¬
graphie offenbart, nicht dem leisesten Zweifel, daß Gervinus für sich das Rechte
gewählt hatte, als er seinen poetischen Träumen, hinter denen keine echte
Poetennatur stand, den Abschied gab. Und es steht ebensowenig in Frage,
daß er auf seinem besondern Pfade mannhaft nach dem Höchsten gerungen
hat, daß ihm seine Leistungen selbst dann einen Platz in der Geschichte
der Wissenschaft sichern werden, wenn die eigentümlichen politisch-sozialen
Verhältnisse, die seiner Geschichte der deutschen Litteratur ihren ersten stärksten
Erfolg sicherten, bis auf den letzten Nest hinter uns liegen werden. Überdies
ist längst kein Streit mehr darüber, daß die Wendung zur strengen Wissen¬
schaft, wie zur praktischen Arbeit der Nation wohlthätig und gesund waren.
Und der Anteil, der Gervinus an dieser Wendung gebührt, soll gleichfalls nicht
karg bemessen werden. Das schlechthin Unerträgliche aber, das auch in dieser
Autobiographie wieder peinlich zu Tage tritt, ist die subjektive Ausschließlich¬
keit, mit der der Historiker die Wendung, die in ihm selbst vorgegangen
war, ohne Bedenken zu einem Gesetz erhob, künstlerisches Leben und künst¬
lerischen Sinn befehdete und vervehmte. "Der erste Stoß des neuen Prinzips
War gegen mich selber gegangen, der zweite ging gegen meine Freunde ^die
schneidende Verurteilung des liebenswürdigen Architekten F. M. Hessemer in
dieser Autobiographie ist ein Nachstoß zum zweiten Stoßj, diese Vorgänge
fuhren fort, was schon in meiner Knabenzeit beginnen sollte, das Leben meiner
reifern Jahre vorzubilden. Der Kampf gegen die Poctenmcmie, gegen den
romantischen Lebensekel, gegen das eyn'ureische Untersinken in geistigen Luxus,
den ich gegen mich und meinen Freund gefochten, hatte ich später gegen das
junge Deutschland, gegen die Litteratur der Verzweiflung, gegen die belletristischen
Epigonen, die Deutschland in dem ausgelebten Zustand einer erschöpften Lit¬
teratur für die Ewigkeit festbannen wollten, gerade nur fortzukämpfen." Weil
Gervinus überzeugt war, daß die flaue Poesie und Belletristik am wenigsten
geeignet sei, die "Trägheit der Seelen," die "Herzensfeigheit," den "Charakter¬
mangel" zu heilen, auf die er im Leben stieß, schrieb er aller Poesie das Todes¬
urteil und verriet damit, daß er, trotz seines Wissens und trotz seines scharfen
Urteils, über die innerste Beschaffenheit der echten poetischen Natur im Unklaren
war, daß er einem heillosen Alexcmdrinismus und Byzantinismus, der nur vom
vergangnen Schönen leben will, das Wort redete, einem Geist, der, wenn er
wirklich seit der Mitte der dreißiger Jahre geherrscht hätte, unsre Litteratur-
gustäude uoch viel trostloser erscheinen lassen würde, als sie ohnehin sind.
Wenn man sich heute, dein Ende des Jahrhunderts nahe, vergegenwärtigt,
daß Gervinus Theorie seit dem Jahre 1835 Praxis geworden wäre, daß man
"die Krankheit der schlechten Poeterei sunt "schlecht" ist ihm alle nachgoethische
Dichtung durch ein drastisches Abführungsmittel aus der Natur des Volkes


Gervinus Selbstbiographie

steifte Dünkel, der seitdem an unsern Universitäten so ins Kraut geschossen ist,
bedenklich geltend. Es unterliegt zwar nach allem, was diese Selbstbio¬
graphie offenbart, nicht dem leisesten Zweifel, daß Gervinus für sich das Rechte
gewählt hatte, als er seinen poetischen Träumen, hinter denen keine echte
Poetennatur stand, den Abschied gab. Und es steht ebensowenig in Frage,
daß er auf seinem besondern Pfade mannhaft nach dem Höchsten gerungen
hat, daß ihm seine Leistungen selbst dann einen Platz in der Geschichte
der Wissenschaft sichern werden, wenn die eigentümlichen politisch-sozialen
Verhältnisse, die seiner Geschichte der deutschen Litteratur ihren ersten stärksten
Erfolg sicherten, bis auf den letzten Nest hinter uns liegen werden. Überdies
ist längst kein Streit mehr darüber, daß die Wendung zur strengen Wissen¬
schaft, wie zur praktischen Arbeit der Nation wohlthätig und gesund waren.
Und der Anteil, der Gervinus an dieser Wendung gebührt, soll gleichfalls nicht
karg bemessen werden. Das schlechthin Unerträgliche aber, das auch in dieser
Autobiographie wieder peinlich zu Tage tritt, ist die subjektive Ausschließlich¬
keit, mit der der Historiker die Wendung, die in ihm selbst vorgegangen
war, ohne Bedenken zu einem Gesetz erhob, künstlerisches Leben und künst¬
lerischen Sinn befehdete und vervehmte. „Der erste Stoß des neuen Prinzips
War gegen mich selber gegangen, der zweite ging gegen meine Freunde ^die
schneidende Verurteilung des liebenswürdigen Architekten F. M. Hessemer in
dieser Autobiographie ist ein Nachstoß zum zweiten Stoßj, diese Vorgänge
fuhren fort, was schon in meiner Knabenzeit beginnen sollte, das Leben meiner
reifern Jahre vorzubilden. Der Kampf gegen die Poctenmcmie, gegen den
romantischen Lebensekel, gegen das eyn'ureische Untersinken in geistigen Luxus,
den ich gegen mich und meinen Freund gefochten, hatte ich später gegen das
junge Deutschland, gegen die Litteratur der Verzweiflung, gegen die belletristischen
Epigonen, die Deutschland in dem ausgelebten Zustand einer erschöpften Lit¬
teratur für die Ewigkeit festbannen wollten, gerade nur fortzukämpfen." Weil
Gervinus überzeugt war, daß die flaue Poesie und Belletristik am wenigsten
geeignet sei, die „Trägheit der Seelen," die „Herzensfeigheit," den „Charakter¬
mangel" zu heilen, auf die er im Leben stieß, schrieb er aller Poesie das Todes¬
urteil und verriet damit, daß er, trotz seines Wissens und trotz seines scharfen
Urteils, über die innerste Beschaffenheit der echten poetischen Natur im Unklaren
war, daß er einem heillosen Alexcmdrinismus und Byzantinismus, der nur vom
vergangnen Schönen leben will, das Wort redete, einem Geist, der, wenn er
wirklich seit der Mitte der dreißiger Jahre geherrscht hätte, unsre Litteratur-
gustäude uoch viel trostloser erscheinen lassen würde, als sie ohnehin sind.
Wenn man sich heute, dein Ende des Jahrhunderts nahe, vergegenwärtigt,
daß Gervinus Theorie seit dem Jahre 1835 Praxis geworden wäre, daß man
»die Krankheit der schlechten Poeterei sunt „schlecht" ist ihm alle nachgoethische
Dichtung durch ein drastisches Abführungsmittel aus der Natur des Volkes


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[0583] Gervinus Selbstbiographie steifte Dünkel, der seitdem an unsern Universitäten so ins Kraut geschossen ist, bedenklich geltend. Es unterliegt zwar nach allem, was diese Selbstbio¬ graphie offenbart, nicht dem leisesten Zweifel, daß Gervinus für sich das Rechte gewählt hatte, als er seinen poetischen Träumen, hinter denen keine echte Poetennatur stand, den Abschied gab. Und es steht ebensowenig in Frage, daß er auf seinem besondern Pfade mannhaft nach dem Höchsten gerungen hat, daß ihm seine Leistungen selbst dann einen Platz in der Geschichte der Wissenschaft sichern werden, wenn die eigentümlichen politisch-sozialen Verhältnisse, die seiner Geschichte der deutschen Litteratur ihren ersten stärksten Erfolg sicherten, bis auf den letzten Nest hinter uns liegen werden. Überdies ist längst kein Streit mehr darüber, daß die Wendung zur strengen Wissen¬ schaft, wie zur praktischen Arbeit der Nation wohlthätig und gesund waren. Und der Anteil, der Gervinus an dieser Wendung gebührt, soll gleichfalls nicht karg bemessen werden. Das schlechthin Unerträgliche aber, das auch in dieser Autobiographie wieder peinlich zu Tage tritt, ist die subjektive Ausschließlich¬ keit, mit der der Historiker die Wendung, die in ihm selbst vorgegangen war, ohne Bedenken zu einem Gesetz erhob, künstlerisches Leben und künst¬ lerischen Sinn befehdete und vervehmte. „Der erste Stoß des neuen Prinzips War gegen mich selber gegangen, der zweite ging gegen meine Freunde ^die schneidende Verurteilung des liebenswürdigen Architekten F. M. Hessemer in dieser Autobiographie ist ein Nachstoß zum zweiten Stoßj, diese Vorgänge fuhren fort, was schon in meiner Knabenzeit beginnen sollte, das Leben meiner reifern Jahre vorzubilden. Der Kampf gegen die Poctenmcmie, gegen den romantischen Lebensekel, gegen das eyn'ureische Untersinken in geistigen Luxus, den ich gegen mich und meinen Freund gefochten, hatte ich später gegen das junge Deutschland, gegen die Litteratur der Verzweiflung, gegen die belletristischen Epigonen, die Deutschland in dem ausgelebten Zustand einer erschöpften Lit¬ teratur für die Ewigkeit festbannen wollten, gerade nur fortzukämpfen." Weil Gervinus überzeugt war, daß die flaue Poesie und Belletristik am wenigsten geeignet sei, die „Trägheit der Seelen," die „Herzensfeigheit," den „Charakter¬ mangel" zu heilen, auf die er im Leben stieß, schrieb er aller Poesie das Todes¬ urteil und verriet damit, daß er, trotz seines Wissens und trotz seines scharfen Urteils, über die innerste Beschaffenheit der echten poetischen Natur im Unklaren war, daß er einem heillosen Alexcmdrinismus und Byzantinismus, der nur vom vergangnen Schönen leben will, das Wort redete, einem Geist, der, wenn er wirklich seit der Mitte der dreißiger Jahre geherrscht hätte, unsre Litteratur- gustäude uoch viel trostloser erscheinen lassen würde, als sie ohnehin sind. Wenn man sich heute, dein Ende des Jahrhunderts nahe, vergegenwärtigt, daß Gervinus Theorie seit dem Jahre 1835 Praxis geworden wäre, daß man »die Krankheit der schlechten Poeterei sunt „schlecht" ist ihm alle nachgoethische Dichtung durch ein drastisches Abführungsmittel aus der Natur des Volkes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/583>, abgerufen am 04.07.2024.