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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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entfernt hätte/' daß seit 1835 absolut nichts poetisch Neues entstanden wäre,
so erschrickt man vor der hartnäckigen Selbstüberschätzung des Mannes, der im
Jahre 1860 noch diesen Parteisatz, diese Ausgeburt eiues vollkommen der Natur
entfremdeten Kathederhochmuts mit soviel Wohlbehagen als den Angelpunkt
seines Denkens darzustellen wagt. Dieser Geist war einmal so geartet, daß er
seinem eignen Genuß und seiner eignen Anschauung die Bedeutung von Welt¬
gesetzen und Kunstgesetzen geben mußte. Wer zweifelt daran, daß ihm in Shake¬
speare und Händel eine Quelle geistigen Genusses, ein unversiegbarer Vorn des
Trostes und der reinsten Erquickung floß, wer priese den nicht glücklich, dem
Muße ward, sich an die Lieblingsheroeu wieder und wieder, mit immer wach¬
sender Einsicht und immer wachsender Beglückung hinzugeben? Aber wen fröstelt
es nicht bei dem Gedanken, daß Gervinus daraus das Bedürfnis erwuchs, Shake¬
speares Dramen zu lebentötenden Idolen zu erheben, daß sich der Bewunderer
der großen Musik Handels gedrungen fühlte, unsrer Instrumentalmusik das
Lebensrecht abzusprechen und Mozart, Beethoven und Schubert aus dem Ehren¬
buche unsers Volkes zu streichen? Im Ernst kann doch dergleichen gar nicht
widerlegt werden, die bloße Existenz solcher Anschauungen aber ist bezeichnend
für einen Hochmut, der in dieser besondern Form, als Piedestal für das eigne
Selbstgefühl, die eigne Geltung, von dem Berfasser dieser Selbstbiographie auf
so viele vererbt worden ist.

Die Kapitel "Wanderjahre" und "Die Hausgründuug" (mit Gervinus
durch Dahlmann vermittelter Berufung nach Göttingen und seiner Heirat
schließen die Aufzeichnungen aus seinem Leben) sind gewinnender, als die immer
wiederholte Doktrin von der nationalen Dreifelderwirtschaft und die vom
Gange der Dinge seitdem beinahe grausam widerlegte Forderung, daß das
Leben des deutschen Volkes in der liberalen Parteipolitik aufzugehen habe.
Die Geschichte seiner Liebe zeigt den schroffen und herben Mann von seiner
erquickeudsten Seite, berührt uns am besten von allem, was er erzählt. Es
ist ein Stück echter deutscher Liebespoesie, was in diesen Blättern lebt, und
dieses Jugendglück wird gekrönt von einem vollen Lebensglück, von einer
Ehe, wie es wenige giebt. Die Verbindung, in der Gervinus dieses Glück
zu teil wurde, war unter schwierigen Umständen und vielen Hindernissen
zum Trotz geschlossen worden, Gervinus hat für sich selbst das gute
Recht einer edeln und echten Leidenschaft in Anspruch genommen; man darf
freilich nicht daran denken, wie herb er unter gleichen Umstünden eine
gleiche Leidenschaft bei andern beurteilt Hütte. Sei" eignes starkes Em¬
pfinden schildert er mit kurzen Worten, doch so, daß noch ein Hauch von
Jugendkraft und Jugendglück hindurchgeht, und daß man wohl fühlt, wie
unser Mann "am eignen Herde der Stürme des öffentlichen Lebens lachen"
konnte.

Alles in allem ist es eine groß angelegte, im Kern edle Natur, die uns


entfernt hätte/' daß seit 1835 absolut nichts poetisch Neues entstanden wäre,
so erschrickt man vor der hartnäckigen Selbstüberschätzung des Mannes, der im
Jahre 1860 noch diesen Parteisatz, diese Ausgeburt eiues vollkommen der Natur
entfremdeten Kathederhochmuts mit soviel Wohlbehagen als den Angelpunkt
seines Denkens darzustellen wagt. Dieser Geist war einmal so geartet, daß er
seinem eignen Genuß und seiner eignen Anschauung die Bedeutung von Welt¬
gesetzen und Kunstgesetzen geben mußte. Wer zweifelt daran, daß ihm in Shake¬
speare und Händel eine Quelle geistigen Genusses, ein unversiegbarer Vorn des
Trostes und der reinsten Erquickung floß, wer priese den nicht glücklich, dem
Muße ward, sich an die Lieblingsheroeu wieder und wieder, mit immer wach¬
sender Einsicht und immer wachsender Beglückung hinzugeben? Aber wen fröstelt
es nicht bei dem Gedanken, daß Gervinus daraus das Bedürfnis erwuchs, Shake¬
speares Dramen zu lebentötenden Idolen zu erheben, daß sich der Bewunderer
der großen Musik Handels gedrungen fühlte, unsrer Instrumentalmusik das
Lebensrecht abzusprechen und Mozart, Beethoven und Schubert aus dem Ehren¬
buche unsers Volkes zu streichen? Im Ernst kann doch dergleichen gar nicht
widerlegt werden, die bloße Existenz solcher Anschauungen aber ist bezeichnend
für einen Hochmut, der in dieser besondern Form, als Piedestal für das eigne
Selbstgefühl, die eigne Geltung, von dem Berfasser dieser Selbstbiographie auf
so viele vererbt worden ist.

Die Kapitel „Wanderjahre" und „Die Hausgründuug" (mit Gervinus
durch Dahlmann vermittelter Berufung nach Göttingen und seiner Heirat
schließen die Aufzeichnungen aus seinem Leben) sind gewinnender, als die immer
wiederholte Doktrin von der nationalen Dreifelderwirtschaft und die vom
Gange der Dinge seitdem beinahe grausam widerlegte Forderung, daß das
Leben des deutschen Volkes in der liberalen Parteipolitik aufzugehen habe.
Die Geschichte seiner Liebe zeigt den schroffen und herben Mann von seiner
erquickeudsten Seite, berührt uns am besten von allem, was er erzählt. Es
ist ein Stück echter deutscher Liebespoesie, was in diesen Blättern lebt, und
dieses Jugendglück wird gekrönt von einem vollen Lebensglück, von einer
Ehe, wie es wenige giebt. Die Verbindung, in der Gervinus dieses Glück
zu teil wurde, war unter schwierigen Umständen und vielen Hindernissen
zum Trotz geschlossen worden, Gervinus hat für sich selbst das gute
Recht einer edeln und echten Leidenschaft in Anspruch genommen; man darf
freilich nicht daran denken, wie herb er unter gleichen Umstünden eine
gleiche Leidenschaft bei andern beurteilt Hütte. Sei» eignes starkes Em¬
pfinden schildert er mit kurzen Worten, doch so, daß noch ein Hauch von
Jugendkraft und Jugendglück hindurchgeht, und daß man wohl fühlt, wie
unser Mann „am eignen Herde der Stürme des öffentlichen Lebens lachen"
konnte.

Alles in allem ist es eine groß angelegte, im Kern edle Natur, die uns


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/584>, abgerufen am 04.07.2024.