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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Gervinus Selbstbiographie

voraussieht. Um so lebhafter aber mußte man wünschen, daß die Jugend-
erinnerungen, die Gervinus aufgezeichnet hatte, nur an seine großen und lichten
Seiten gemahnen und das traurige Zerwürfnis, in das er fast mit allen
seinen Gesinnungs- und Strebensgenossen geraten war, vergessen macheu
möchten, und um so mehr muß man bedauern, daß anch in diesen Aufzeich¬
nungen der alte Doktrinarismus, der den Dornbusch zwingen Null, Feigen zu
tragen, das große Wort hat.

An eigentümlichem Reiz und interessanten Einzelheiten sehlt es der Jugend-
geschichte des Mannes, der hier seine eigne Entwicklung schildert, natürlich nicht;
die farbenreiche Schilderung seiner Darmstädter Schuljahre, wie seiner Lehrjahre
in der Kaufmannschaft gesellt sich zu deu besten unter den Entwicklungsgeschichten,
die wir in unsrer autobiographischen Litteratur haben. Ein hochbegabter, phan¬
tasievoller Knabe, der durch Familienverhältnisse in eine geschäftliche Laufbahn
geführt wird, sich aber in dieser Laufbahn mehr und mehr in seinen geistigen
Neigungen befestigt, wie es in solcher Lage natürlich ist, nach allen Seiten
hin strebt und ohne Wahl alles genießt, was der ersehnten Welt der Poesie
und des Ideals anzugehören scheint, der schließlich eben noch zu rechter Zeit
in die Wege der Wissenschaft einlenkt, hat sür den deutschen Sinn immer neue
Anziehungskraft. Nun kommen aber bei Gervinus noch ganz besondre Um¬
stände hinzu. Die schwüle und teilweise ungesunde Atmosphäre der Restau¬
rationsjahre und der auskliugendeu Romantik hatte starken Einfluß auf ihn,
aber neben den schöngeistigen poetisirenden Neigungen ging ein dunkler Thaten¬
trieb, er hielt die Fühlhörner nicht so eingezogen, daß ihn die Vorgänge der
großen nußern Welt gar nicht berührt hätten, er nahm an den Freiheits¬
kämpfen in dem spanischen Amerika und in Griechenland leidenschaftlich Anteil,
wovon man die Nachwirkung noch in der Breite zu verspüren meint, mit der
diese beiden Erhebungen in seiner "Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts"
behandelt sind. Auch beim Beginn seiner Universitätszeit noch unklar über
seine Ziele, wurde er in Heidelberg ein begeisterter Schüler Schlossers. "Das
Reich des Wissens -- sagt er --, dessen Durchwanderung Schlossers Bei¬
spiel stillschweigend wie zur Aufgabe setzte, erhielt vor meinen Augen eine un¬
ermeßliche Ausdehnung; des Mannes allgemein beflaumte Gclehrsanckeit und
mehr noch die sichere Beherrschung seines Wissens warf mich in neues Ver¬
zagen. Bang und stutzig, wie mich die Wirkungen von Schlossers Lehre vor
meiner Zukunft machten, mit meiner Vergangenheit drängten sie mich unter
schmerzhaften Kämpfen und Krämpfen zum völligen Bruch." Der schöngeistige
Polyhistor wurde zum ernsten Geschichts- und Litteraturgeschichtsforscher, und
es wird ihm nie vergessen werden, welchen Anstoß er mit seiner "Geschichte
der deutschen Dichtung" gegeben, und wie tief er auf die geistigen Entwick¬
lungen der dreißiger und vierziger Jahre eingewirkt hat. Gleichwohl macht
sich in dieser Schilderung von Gervinus Selbstentwicklung der maßlose, ver-


Gervinus Selbstbiographie

voraussieht. Um so lebhafter aber mußte man wünschen, daß die Jugend-
erinnerungen, die Gervinus aufgezeichnet hatte, nur an seine großen und lichten
Seiten gemahnen und das traurige Zerwürfnis, in das er fast mit allen
seinen Gesinnungs- und Strebensgenossen geraten war, vergessen macheu
möchten, und um so mehr muß man bedauern, daß anch in diesen Aufzeich¬
nungen der alte Doktrinarismus, der den Dornbusch zwingen Null, Feigen zu
tragen, das große Wort hat.

An eigentümlichem Reiz und interessanten Einzelheiten sehlt es der Jugend-
geschichte des Mannes, der hier seine eigne Entwicklung schildert, natürlich nicht;
die farbenreiche Schilderung seiner Darmstädter Schuljahre, wie seiner Lehrjahre
in der Kaufmannschaft gesellt sich zu deu besten unter den Entwicklungsgeschichten,
die wir in unsrer autobiographischen Litteratur haben. Ein hochbegabter, phan¬
tasievoller Knabe, der durch Familienverhältnisse in eine geschäftliche Laufbahn
geführt wird, sich aber in dieser Laufbahn mehr und mehr in seinen geistigen
Neigungen befestigt, wie es in solcher Lage natürlich ist, nach allen Seiten
hin strebt und ohne Wahl alles genießt, was der ersehnten Welt der Poesie
und des Ideals anzugehören scheint, der schließlich eben noch zu rechter Zeit
in die Wege der Wissenschaft einlenkt, hat sür den deutschen Sinn immer neue
Anziehungskraft. Nun kommen aber bei Gervinus noch ganz besondre Um¬
stände hinzu. Die schwüle und teilweise ungesunde Atmosphäre der Restau¬
rationsjahre und der auskliugendeu Romantik hatte starken Einfluß auf ihn,
aber neben den schöngeistigen poetisirenden Neigungen ging ein dunkler Thaten¬
trieb, er hielt die Fühlhörner nicht so eingezogen, daß ihn die Vorgänge der
großen nußern Welt gar nicht berührt hätten, er nahm an den Freiheits¬
kämpfen in dem spanischen Amerika und in Griechenland leidenschaftlich Anteil,
wovon man die Nachwirkung noch in der Breite zu verspüren meint, mit der
diese beiden Erhebungen in seiner „Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts"
behandelt sind. Auch beim Beginn seiner Universitätszeit noch unklar über
seine Ziele, wurde er in Heidelberg ein begeisterter Schüler Schlossers. „Das
Reich des Wissens — sagt er —, dessen Durchwanderung Schlossers Bei¬
spiel stillschweigend wie zur Aufgabe setzte, erhielt vor meinen Augen eine un¬
ermeßliche Ausdehnung; des Mannes allgemein beflaumte Gclehrsanckeit und
mehr noch die sichere Beherrschung seines Wissens warf mich in neues Ver¬
zagen. Bang und stutzig, wie mich die Wirkungen von Schlossers Lehre vor
meiner Zukunft machten, mit meiner Vergangenheit drängten sie mich unter
schmerzhaften Kämpfen und Krämpfen zum völligen Bruch." Der schöngeistige
Polyhistor wurde zum ernsten Geschichts- und Litteraturgeschichtsforscher, und
es wird ihm nie vergessen werden, welchen Anstoß er mit seiner „Geschichte
der deutschen Dichtung" gegeben, und wie tief er auf die geistigen Entwick¬
lungen der dreißiger und vierziger Jahre eingewirkt hat. Gleichwohl macht
sich in dieser Schilderung von Gervinus Selbstentwicklung der maßlose, ver-


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[0582] Gervinus Selbstbiographie voraussieht. Um so lebhafter aber mußte man wünschen, daß die Jugend- erinnerungen, die Gervinus aufgezeichnet hatte, nur an seine großen und lichten Seiten gemahnen und das traurige Zerwürfnis, in das er fast mit allen seinen Gesinnungs- und Strebensgenossen geraten war, vergessen macheu möchten, und um so mehr muß man bedauern, daß anch in diesen Aufzeich¬ nungen der alte Doktrinarismus, der den Dornbusch zwingen Null, Feigen zu tragen, das große Wort hat. An eigentümlichem Reiz und interessanten Einzelheiten sehlt es der Jugend- geschichte des Mannes, der hier seine eigne Entwicklung schildert, natürlich nicht; die farbenreiche Schilderung seiner Darmstädter Schuljahre, wie seiner Lehrjahre in der Kaufmannschaft gesellt sich zu deu besten unter den Entwicklungsgeschichten, die wir in unsrer autobiographischen Litteratur haben. Ein hochbegabter, phan¬ tasievoller Knabe, der durch Familienverhältnisse in eine geschäftliche Laufbahn geführt wird, sich aber in dieser Laufbahn mehr und mehr in seinen geistigen Neigungen befestigt, wie es in solcher Lage natürlich ist, nach allen Seiten hin strebt und ohne Wahl alles genießt, was der ersehnten Welt der Poesie und des Ideals anzugehören scheint, der schließlich eben noch zu rechter Zeit in die Wege der Wissenschaft einlenkt, hat sür den deutschen Sinn immer neue Anziehungskraft. Nun kommen aber bei Gervinus noch ganz besondre Um¬ stände hinzu. Die schwüle und teilweise ungesunde Atmosphäre der Restau¬ rationsjahre und der auskliugendeu Romantik hatte starken Einfluß auf ihn, aber neben den schöngeistigen poetisirenden Neigungen ging ein dunkler Thaten¬ trieb, er hielt die Fühlhörner nicht so eingezogen, daß ihn die Vorgänge der großen nußern Welt gar nicht berührt hätten, er nahm an den Freiheits¬ kämpfen in dem spanischen Amerika und in Griechenland leidenschaftlich Anteil, wovon man die Nachwirkung noch in der Breite zu verspüren meint, mit der diese beiden Erhebungen in seiner „Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts" behandelt sind. Auch beim Beginn seiner Universitätszeit noch unklar über seine Ziele, wurde er in Heidelberg ein begeisterter Schüler Schlossers. „Das Reich des Wissens — sagt er —, dessen Durchwanderung Schlossers Bei¬ spiel stillschweigend wie zur Aufgabe setzte, erhielt vor meinen Augen eine un¬ ermeßliche Ausdehnung; des Mannes allgemein beflaumte Gclehrsanckeit und mehr noch die sichere Beherrschung seines Wissens warf mich in neues Ver¬ zagen. Bang und stutzig, wie mich die Wirkungen von Schlossers Lehre vor meiner Zukunft machten, mit meiner Vergangenheit drängten sie mich unter schmerzhaften Kämpfen und Krämpfen zum völligen Bruch." Der schöngeistige Polyhistor wurde zum ernsten Geschichts- und Litteraturgeschichtsforscher, und es wird ihm nie vergessen werden, welchen Anstoß er mit seiner „Geschichte der deutschen Dichtung" gegeben, und wie tief er auf die geistigen Entwick¬ lungen der dreißiger und vierziger Jahre eingewirkt hat. Gleichwohl macht sich in dieser Schilderung von Gervinus Selbstentwicklung der maßlose, ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/582>, abgerufen am 04.07.2024.