Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.Gervinus Selbstbiographie jüngern Geschlecht, soweit es ernsten Sinn für die Vergangenheit hat, spricht, Gervinus Selbstbiographie jüngern Geschlecht, soweit es ernsten Sinn für die Vergangenheit hat, spricht, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0581" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/216305"/> <fw type="header" place="top"> Gervinus Selbstbiographie</fw><lb/> <p xml:id="ID_2214" prev="#ID_2213" next="#ID_2215"> jüngern Geschlecht, soweit es ernsten Sinn für die Vergangenheit hat, spricht,<lb/> es hat vollen Anspruch auf Beachtung, es vervollständigt das Bild des ener¬<lb/> gischen und streitfertigeu Geschichtschreibers um eine Reihe feiner Züge, es ist<lb/> offenbar von dem Geiste strenger Wahrhaftigkeit erfüllt und söhnt dadurch mit<lb/> seiner herben Selbstgerechtigkeit wenigstens bis uns einen gewissen Punkt aus, es<lb/> ist endlich das letzte Zeugnis eines in Groll wider sein Volk und den Verlauf der<lb/> Politischen Entwicklung aus dem Leben gegangnen, dem keiner große Verdienste<lb/> um die Wissenschaft und ein warmes Herz für sein Vaterland absprechen wird.<lb/> Als eine ernste Mahnung schlagen die letzten Worte der Widmung an unser Ohr:<lb/> „Dem Menschen, der einmal in irgend einer Weise an die Öffentlichkeit ge¬<lb/> zogen ward, geht die engherzige Sprödigkeit mit den Geheimnissen seiner Per¬<lb/> sonalien nur allzu bald verloren. EZ ist verzeihlich, wenn er lieber ganz als<lb/> halb gekannt sein möchte. Ein einziges Heiligtum giebt es, meine Viktoria,<lb/> in dieser Lebensbeschreibung: die Geschichte unsrer Verbindung, die Erzählung<lb/> jener innersten Herzensgeheimnisse, die nur von Seele zu Seele gelebt sein<lb/> sollten, was mir schwer wird mit dein andern auf die Straße zu werfen, wo<lb/> man nicht weiß, wer es aufhebt. Und doch gehört es so wesentlich zu dem<lb/> Gemälde dieser seltsamen Persönlichkeit, die dem einen als ein gelehrter Pe¬<lb/> dant und dem andern als ein leidenschaftlicher, neuerungssüchtiger Mann des<lb/> Umsturzes gilt, zu zeigen, daß er weit edlere Güter kannte als Bücher, daß<lb/> ihm Friede lieber als Krieg war, und daß er einen Herd besaß, an dem er<lb/> der Stürme des öffentlichen Lebens lachen konnte. Wenn ich übrigens<lb/> bis dahin vorgedrungen bin, so wirst dn diese Handschrift, die dein gehört,<lb/> Wohl im stummen Verschlüsse des Pultes halten, bis uns beide der Verschluß<lb/> der Erde birgt. Dann mag es mit dem übrigen eines Weges wandern, und<lb/> es wird da und dort vielleicht eine Stätte finden, wo es uns in guten Herzen<lb/> ein freundliches Andenken gründet." Gewiß, man fühlt sich um so mehr ge¬<lb/> drängt, dieser Persönlichkeit und ihrer Entwicklung mit Anteil, mit beständiger<lb/> Erinnerung an die gewaltige Arbeitskraft, die großen Anschauungen und das<lb/> sittliche Pathos, die Gervinus bewährt hat, gegenüberzutreten, je schmerzlicher<lb/> wan sich der Opposition erinnert, die Gervinus zwischen 18<i6 und 1870 der<lb/> Neugründung unsers deutscheu Reichs entgegengesetzt hat. Will eS doch heute<lb/> jcheinen, als ob damals, in dem ersten Glücksrausch des langersehnten Erfolgs,<lb/> manches berechtigte in den Kassandrarufen des Heidelberger Historikers über¬<lb/> hört worden sei, als ob man die drohenden Wolken, die Gervinus an unserm<lb/> nationalen Himmel aufsteigen sah, gar zu sehr für leichte Flöckchen erachtet<lb/> h"be, als ob mit einem Worte der Verlauf der Zeit Gervinus in einzelnen<lb/> Punkten nachträglich Recht gegeben habe. Freilich würde auch dann das Un¬<lb/> erfreuliche in unsrer politischen Entwicklung den hochmütigen Eigensinn nicht<lb/> rechtfertigen, in dem sich der isolirte Mann gefallen hat, denn die Pflicht, das<lb/> Unterland über alles zu setzen, ist auch für den nicht aufgehoben, der Unheil</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0581]
Gervinus Selbstbiographie
jüngern Geschlecht, soweit es ernsten Sinn für die Vergangenheit hat, spricht,
es hat vollen Anspruch auf Beachtung, es vervollständigt das Bild des ener¬
gischen und streitfertigeu Geschichtschreibers um eine Reihe feiner Züge, es ist
offenbar von dem Geiste strenger Wahrhaftigkeit erfüllt und söhnt dadurch mit
seiner herben Selbstgerechtigkeit wenigstens bis uns einen gewissen Punkt aus, es
ist endlich das letzte Zeugnis eines in Groll wider sein Volk und den Verlauf der
Politischen Entwicklung aus dem Leben gegangnen, dem keiner große Verdienste
um die Wissenschaft und ein warmes Herz für sein Vaterland absprechen wird.
Als eine ernste Mahnung schlagen die letzten Worte der Widmung an unser Ohr:
„Dem Menschen, der einmal in irgend einer Weise an die Öffentlichkeit ge¬
zogen ward, geht die engherzige Sprödigkeit mit den Geheimnissen seiner Per¬
sonalien nur allzu bald verloren. EZ ist verzeihlich, wenn er lieber ganz als
halb gekannt sein möchte. Ein einziges Heiligtum giebt es, meine Viktoria,
in dieser Lebensbeschreibung: die Geschichte unsrer Verbindung, die Erzählung
jener innersten Herzensgeheimnisse, die nur von Seele zu Seele gelebt sein
sollten, was mir schwer wird mit dein andern auf die Straße zu werfen, wo
man nicht weiß, wer es aufhebt. Und doch gehört es so wesentlich zu dem
Gemälde dieser seltsamen Persönlichkeit, die dem einen als ein gelehrter Pe¬
dant und dem andern als ein leidenschaftlicher, neuerungssüchtiger Mann des
Umsturzes gilt, zu zeigen, daß er weit edlere Güter kannte als Bücher, daß
ihm Friede lieber als Krieg war, und daß er einen Herd besaß, an dem er
der Stürme des öffentlichen Lebens lachen konnte. Wenn ich übrigens
bis dahin vorgedrungen bin, so wirst dn diese Handschrift, die dein gehört,
Wohl im stummen Verschlüsse des Pultes halten, bis uns beide der Verschluß
der Erde birgt. Dann mag es mit dem übrigen eines Weges wandern, und
es wird da und dort vielleicht eine Stätte finden, wo es uns in guten Herzen
ein freundliches Andenken gründet." Gewiß, man fühlt sich um so mehr ge¬
drängt, dieser Persönlichkeit und ihrer Entwicklung mit Anteil, mit beständiger
Erinnerung an die gewaltige Arbeitskraft, die großen Anschauungen und das
sittliche Pathos, die Gervinus bewährt hat, gegenüberzutreten, je schmerzlicher
wan sich der Opposition erinnert, die Gervinus zwischen 18<i6 und 1870 der
Neugründung unsers deutscheu Reichs entgegengesetzt hat. Will eS doch heute
jcheinen, als ob damals, in dem ersten Glücksrausch des langersehnten Erfolgs,
manches berechtigte in den Kassandrarufen des Heidelberger Historikers über¬
hört worden sei, als ob man die drohenden Wolken, die Gervinus an unserm
nationalen Himmel aufsteigen sah, gar zu sehr für leichte Flöckchen erachtet
h"be, als ob mit einem Worte der Verlauf der Zeit Gervinus in einzelnen
Punkten nachträglich Recht gegeben habe. Freilich würde auch dann das Un¬
erfreuliche in unsrer politischen Entwicklung den hochmütigen Eigensinn nicht
rechtfertigen, in dem sich der isolirte Mann gefallen hat, denn die Pflicht, das
Unterland über alles zu setzen, ist auch für den nicht aufgehoben, der Unheil
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |