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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Worte oder Thaten?

die notwendige Folge des Jahres 1848 und seiner Zugestündnisse an das ge¬
bildete Bürgertum war, der Drang des ungebildeten A/beiterstandes nach Besse¬
rung seiner Lage und Vertretung seiner Interessen, das bemerkte man nicht
oder wollte es nicht bemerken. Aber ein Begehren, das Millionen Kehlen in
die Luft hinausschreien, laßt sich nicht durch Gesetze knebeln und noch weniger
durch Reden im Reichstage beschwichtigen. Und man hüte sich doch ja vor
dem Irrtum, die Stärke der antisemitischen Bewegung sei mit der Zahl der
antisemitischen Stimmen bei der letzten Reichstagswahl gegeben. Gerade die
wüste Agitation dürfte manchen abgehalten haben, sich offen zu dieser Partei
zu bekennen. Wer möchte anch an einem Seile ziehen, das durch Ahlwardts
Hände gegangen ist! Aber wenn es wahr ist, daß man die Stimmen wägen
soll und nicht zählen, dann sind es gerade die bessern Leute, die sich bei der
Wahl zurückgehalten haben, die Leute, denen es nicht darum zu thun ist, eine
mittelalterliche Judenhetze in Szene zu setzen, sondern die freie Bahn schaffen
wollen für eine gesunde innere Entwicklung unsers Volks. Dazu gehört auch
die Beseitigung der Schäden, die der modernen Geldwirtschaft anhaften, und
an diesem Punkte berühren sich die volkstümlichen Bestrebungen, wie sie sich
anch immer nennen mögen, mit der Sozialdemokratin Aber der Kern ihres
Wesens scheidet sie himmelweit von der vaterlandslosen Sozialdemokratie, denn
dieser Kern, das ist des deutschen Volkes starker Wille zum Leben, der zur
großen Verwunderung unsrer Büreaukraten endlich wieder die Flügel zu
regen beginnt. Man muß im Aktcnstcmb blind und taub geworden sein,
um das nicht zu erkennen. Es ist hohe Zeit, daß sich die Regierung den
Schlaf ans den Augen wischt und Anstalten macht, die Zeichen der Zeit ohne
Brille zu studiren. Das ist jedenfalls eine würdigere Aufgabe, als seinen Be¬
ruf darin zu suchen, wie man neue Stenerquelleu erschließt, besonders wenn
dabei nach den liebenswürdigen Grundsätzen des ehemaligen Oberbürgermeisters
von Frankfurt verfahren wird. Der Wein ist für vier Fünftel der Bevöl¬
kerung doch nur ein Genußmittel, was geht es diese vier Fünftel an, wenn
man ihn besteuert? so lehrt dieser edle Menschenfreund. Nur weiter auf
dem Wege, es ist der richtige. Weil die bessern Genußmittel, Wein, Tabak
und Bier, der größern Masse weniger leicht zugänglich sind, darum muß
man sie gleich so hoch besteuern, daß das Volk die Hoffnung aufgiebt, sie
möchten ihm jemals zugänglich werden. Dann wird sich ja am ehesten im
Volke die wohlthätige Erkenntnis festsetzen, daß das einzige Genußmittel, auf
das es Anspruch hat, der Schnaps sei. Das ist die Quintessenz von Herrn
Miqnels Steuerweisheit.

Nun ist es vielleicht nur eine Ansicht, daß die antisemitische Agitation
ein Teil sei von -jener Bewegung, die von der unverwüstlichen Lebenskraft
unsers Volkes getrieben wird, eine Ansicht, die man teilen oder verwerfen
kann. Die Männer aber, die die Geschicke unsers Volkes lenken wollen, haben


Worte oder Thaten?

die notwendige Folge des Jahres 1848 und seiner Zugestündnisse an das ge¬
bildete Bürgertum war, der Drang des ungebildeten A/beiterstandes nach Besse¬
rung seiner Lage und Vertretung seiner Interessen, das bemerkte man nicht
oder wollte es nicht bemerken. Aber ein Begehren, das Millionen Kehlen in
die Luft hinausschreien, laßt sich nicht durch Gesetze knebeln und noch weniger
durch Reden im Reichstage beschwichtigen. Und man hüte sich doch ja vor
dem Irrtum, die Stärke der antisemitischen Bewegung sei mit der Zahl der
antisemitischen Stimmen bei der letzten Reichstagswahl gegeben. Gerade die
wüste Agitation dürfte manchen abgehalten haben, sich offen zu dieser Partei
zu bekennen. Wer möchte anch an einem Seile ziehen, das durch Ahlwardts
Hände gegangen ist! Aber wenn es wahr ist, daß man die Stimmen wägen
soll und nicht zählen, dann sind es gerade die bessern Leute, die sich bei der
Wahl zurückgehalten haben, die Leute, denen es nicht darum zu thun ist, eine
mittelalterliche Judenhetze in Szene zu setzen, sondern die freie Bahn schaffen
wollen für eine gesunde innere Entwicklung unsers Volks. Dazu gehört auch
die Beseitigung der Schäden, die der modernen Geldwirtschaft anhaften, und
an diesem Punkte berühren sich die volkstümlichen Bestrebungen, wie sie sich
anch immer nennen mögen, mit der Sozialdemokratin Aber der Kern ihres
Wesens scheidet sie himmelweit von der vaterlandslosen Sozialdemokratie, denn
dieser Kern, das ist des deutschen Volkes starker Wille zum Leben, der zur
großen Verwunderung unsrer Büreaukraten endlich wieder die Flügel zu
regen beginnt. Man muß im Aktcnstcmb blind und taub geworden sein,
um das nicht zu erkennen. Es ist hohe Zeit, daß sich die Regierung den
Schlaf ans den Augen wischt und Anstalten macht, die Zeichen der Zeit ohne
Brille zu studiren. Das ist jedenfalls eine würdigere Aufgabe, als seinen Be¬
ruf darin zu suchen, wie man neue Stenerquelleu erschließt, besonders wenn
dabei nach den liebenswürdigen Grundsätzen des ehemaligen Oberbürgermeisters
von Frankfurt verfahren wird. Der Wein ist für vier Fünftel der Bevöl¬
kerung doch nur ein Genußmittel, was geht es diese vier Fünftel an, wenn
man ihn besteuert? so lehrt dieser edle Menschenfreund. Nur weiter auf
dem Wege, es ist der richtige. Weil die bessern Genußmittel, Wein, Tabak
und Bier, der größern Masse weniger leicht zugänglich sind, darum muß
man sie gleich so hoch besteuern, daß das Volk die Hoffnung aufgiebt, sie
möchten ihm jemals zugänglich werden. Dann wird sich ja am ehesten im
Volke die wohlthätige Erkenntnis festsetzen, daß das einzige Genußmittel, auf
das es Anspruch hat, der Schnaps sei. Das ist die Quintessenz von Herrn
Miqnels Steuerweisheit.

Nun ist es vielleicht nur eine Ansicht, daß die antisemitische Agitation
ein Teil sei von -jener Bewegung, die von der unverwüstlichen Lebenskraft
unsers Volkes getrieben wird, eine Ansicht, die man teilen oder verwerfen
kann. Die Männer aber, die die Geschicke unsers Volkes lenken wollen, haben


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[0564] Worte oder Thaten? die notwendige Folge des Jahres 1848 und seiner Zugestündnisse an das ge¬ bildete Bürgertum war, der Drang des ungebildeten A/beiterstandes nach Besse¬ rung seiner Lage und Vertretung seiner Interessen, das bemerkte man nicht oder wollte es nicht bemerken. Aber ein Begehren, das Millionen Kehlen in die Luft hinausschreien, laßt sich nicht durch Gesetze knebeln und noch weniger durch Reden im Reichstage beschwichtigen. Und man hüte sich doch ja vor dem Irrtum, die Stärke der antisemitischen Bewegung sei mit der Zahl der antisemitischen Stimmen bei der letzten Reichstagswahl gegeben. Gerade die wüste Agitation dürfte manchen abgehalten haben, sich offen zu dieser Partei zu bekennen. Wer möchte anch an einem Seile ziehen, das durch Ahlwardts Hände gegangen ist! Aber wenn es wahr ist, daß man die Stimmen wägen soll und nicht zählen, dann sind es gerade die bessern Leute, die sich bei der Wahl zurückgehalten haben, die Leute, denen es nicht darum zu thun ist, eine mittelalterliche Judenhetze in Szene zu setzen, sondern die freie Bahn schaffen wollen für eine gesunde innere Entwicklung unsers Volks. Dazu gehört auch die Beseitigung der Schäden, die der modernen Geldwirtschaft anhaften, und an diesem Punkte berühren sich die volkstümlichen Bestrebungen, wie sie sich anch immer nennen mögen, mit der Sozialdemokratin Aber der Kern ihres Wesens scheidet sie himmelweit von der vaterlandslosen Sozialdemokratie, denn dieser Kern, das ist des deutschen Volkes starker Wille zum Leben, der zur großen Verwunderung unsrer Büreaukraten endlich wieder die Flügel zu regen beginnt. Man muß im Aktcnstcmb blind und taub geworden sein, um das nicht zu erkennen. Es ist hohe Zeit, daß sich die Regierung den Schlaf ans den Augen wischt und Anstalten macht, die Zeichen der Zeit ohne Brille zu studiren. Das ist jedenfalls eine würdigere Aufgabe, als seinen Be¬ ruf darin zu suchen, wie man neue Stenerquelleu erschließt, besonders wenn dabei nach den liebenswürdigen Grundsätzen des ehemaligen Oberbürgermeisters von Frankfurt verfahren wird. Der Wein ist für vier Fünftel der Bevöl¬ kerung doch nur ein Genußmittel, was geht es diese vier Fünftel an, wenn man ihn besteuert? so lehrt dieser edle Menschenfreund. Nur weiter auf dem Wege, es ist der richtige. Weil die bessern Genußmittel, Wein, Tabak und Bier, der größern Masse weniger leicht zugänglich sind, darum muß man sie gleich so hoch besteuern, daß das Volk die Hoffnung aufgiebt, sie möchten ihm jemals zugänglich werden. Dann wird sich ja am ehesten im Volke die wohlthätige Erkenntnis festsetzen, daß das einzige Genußmittel, auf das es Anspruch hat, der Schnaps sei. Das ist die Quintessenz von Herrn Miqnels Steuerweisheit. Nun ist es vielleicht nur eine Ansicht, daß die antisemitische Agitation ein Teil sei von -jener Bewegung, die von der unverwüstlichen Lebenskraft unsers Volkes getrieben wird, eine Ansicht, die man teilen oder verwerfen kann. Die Männer aber, die die Geschicke unsers Volkes lenken wollen, haben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/564>, abgerufen am 04.07.2024.