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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Lin Aufruf zur Grganisatio" der Volksbildung

Orakelstil des Verfassers zu reden -- die Volksbildung "nach der bestimmten
Kausalität des Geschehens, auswendig nach den kulturhistorischen Stufen, in¬
wendig nach dein Durchmachen der Epochen der Weltkultur" leiten möchte! Ich
will endlich auch keinen Nachdruck darauf legen, daß eine Volkserziehung, nach
Hummels Prinzip staatlich organisirt, für Lehrer und Schüler sehr leicht zu
einer staatlich kommaudirteu Art der "Versöhnung von Glauben und Wissen"
führen könnte, daß die staatlichen Zentralstellen, die nach einem höchst allge¬
meinen Ausspruch des Verfassers "das Ganze der Nvlkserziehung und Volks¬
bildung in passender Weise übersehen und planmäßig leiten" sollen, diese "pas¬
sende" Weise nicht so einfach finden dürften, auch wenn ihnen Hummel das
Zugeständnis macht, das dem Prinzip seiner doch eminent christlich bestimmten
Volksbildung direkt widerspricht: ob jene Behörden christliche oder Humaue
Interessen in den Vordergrund zu stellen hätten, diese Frage könne man bei¬
seite lassen (S. 119).

Ich bin am Schluß. Der Eindruck, den Hummels Broschüre macht, ist
sast durchweg ungünstig, verworren. Die Fragen sind nicht klar gestellt, die Ant¬
worten werden gerade in dem systematischen Teil unübersichtlich durcheinander-
geworfen. An die Stelle logischer Begründung tritt oft leere Rhetorik; be¬
zeichnend dafür ist besonders eine Äußerung. "Indem wir tiefer in die Werk¬
statt der Bildungspflege uns hinabbegeben -- heißt es S. 63 --, hören wir
vielleicht den Vorwurf, daß wir wohl auf eine einseitige und allzu frühzeitige
Ausbildung des Verstandesfaktors (!) drängen. Wir weisen ihn zurück. Wir
haben ja laut genug nach Pflege der echten Herzensbildung gerufen.... So
werden wir es auch ferner halten." Und der Verfasser hält es auch ferner
so, er ruft nach allem möglichen Schönen, aber er weiß den sichern Weg nicht,
auf dem es kommen kann. Dabei stößt er den Leser durch unrichtige oder tri¬
viale Nebenbemerkungen ab. So führt er S. 22 lobend um, daß die Löhne
der englischen Arbeiter in den letzten fünfzig Jahren um 50 bis 100 Prozent
gestiegen seien, S. 26 tadelt er, daß sich in Deutschland während desselben
Zeitraums der Lohn "nicht in dem Maß wie in England," sondern nur um
das Zwei- bis Dreifache gesteigert habe -- das heißt aber doch um 200 bis
300 Prozent! Ans einer Seite (83) gestattet er sich die Behauptungen, daß das
Kolportagewesen stets geblüht habe, wenn die Kirche blühte (hat die mächtige
Kirche des Mittelalters ein blühendes Kolpvrtagewesen gehabt, oder kann man
vielleicht sagen, mit der christlichen Kolportagelitteratur von heute blühe auch
die Kirche?); daß nur die Thätigkeit "aus dem sittlich-religiösen Personleben
heraus" den Ehrennamen Arbeit verdiene (die treue Berufserfüllung dessen,
der sich ein religiöses Leben nicht mehr abzugewinnen vermag, etwa nicht?);
daß die Geistlichen, "dieweil alles seine Zeit hat, schweigen, aber auch reden
müssen von den Fragen und Konflikten, welche die gührende" Arbeiterkreise be¬
wegen, jedes an seinem Ort" (wem soll diese Trivialität nutzen?). Zu dem


Lin Aufruf zur Grganisatio» der Volksbildung

Orakelstil des Verfassers zu reden — die Volksbildung „nach der bestimmten
Kausalität des Geschehens, auswendig nach den kulturhistorischen Stufen, in¬
wendig nach dein Durchmachen der Epochen der Weltkultur" leiten möchte! Ich
will endlich auch keinen Nachdruck darauf legen, daß eine Volkserziehung, nach
Hummels Prinzip staatlich organisirt, für Lehrer und Schüler sehr leicht zu
einer staatlich kommaudirteu Art der „Versöhnung von Glauben und Wissen"
führen könnte, daß die staatlichen Zentralstellen, die nach einem höchst allge¬
meinen Ausspruch des Verfassers „das Ganze der Nvlkserziehung und Volks¬
bildung in passender Weise übersehen und planmäßig leiten" sollen, diese „pas¬
sende" Weise nicht so einfach finden dürften, auch wenn ihnen Hummel das
Zugeständnis macht, das dem Prinzip seiner doch eminent christlich bestimmten
Volksbildung direkt widerspricht: ob jene Behörden christliche oder Humaue
Interessen in den Vordergrund zu stellen hätten, diese Frage könne man bei¬
seite lassen (S. 119).

Ich bin am Schluß. Der Eindruck, den Hummels Broschüre macht, ist
sast durchweg ungünstig, verworren. Die Fragen sind nicht klar gestellt, die Ant¬
worten werden gerade in dem systematischen Teil unübersichtlich durcheinander-
geworfen. An die Stelle logischer Begründung tritt oft leere Rhetorik; be¬
zeichnend dafür ist besonders eine Äußerung. „Indem wir tiefer in die Werk¬
statt der Bildungspflege uns hinabbegeben — heißt es S. 63 —, hören wir
vielleicht den Vorwurf, daß wir wohl auf eine einseitige und allzu frühzeitige
Ausbildung des Verstandesfaktors (!) drängen. Wir weisen ihn zurück. Wir
haben ja laut genug nach Pflege der echten Herzensbildung gerufen.... So
werden wir es auch ferner halten." Und der Verfasser hält es auch ferner
so, er ruft nach allem möglichen Schönen, aber er weiß den sichern Weg nicht,
auf dem es kommen kann. Dabei stößt er den Leser durch unrichtige oder tri¬
viale Nebenbemerkungen ab. So führt er S. 22 lobend um, daß die Löhne
der englischen Arbeiter in den letzten fünfzig Jahren um 50 bis 100 Prozent
gestiegen seien, S. 26 tadelt er, daß sich in Deutschland während desselben
Zeitraums der Lohn „nicht in dem Maß wie in England," sondern nur um
das Zwei- bis Dreifache gesteigert habe — das heißt aber doch um 200 bis
300 Prozent! Ans einer Seite (83) gestattet er sich die Behauptungen, daß das
Kolportagewesen stets geblüht habe, wenn die Kirche blühte (hat die mächtige
Kirche des Mittelalters ein blühendes Kolpvrtagewesen gehabt, oder kann man
vielleicht sagen, mit der christlichen Kolportagelitteratur von heute blühe auch
die Kirche?); daß nur die Thätigkeit „aus dem sittlich-religiösen Personleben
heraus" den Ehrennamen Arbeit verdiene (die treue Berufserfüllung dessen,
der sich ein religiöses Leben nicht mehr abzugewinnen vermag, etwa nicht?);
daß die Geistlichen, „dieweil alles seine Zeit hat, schweigen, aber auch reden
müssen von den Fragen und Konflikten, welche die gührende» Arbeiterkreise be¬
wegen, jedes an seinem Ort" (wem soll diese Trivialität nutzen?). Zu dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/525>, abgerufen am 22.07.2024.