Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lin Aufruf zur (Organisation der Volksbildung

religiösen und des intellektuellen Faktvro bezeichnet," und lver in dem Gegen¬
satz beider "Fakturen" hängen bleibe, stehe hinter dem "normalen heutigen
Bildungsstreben" um Jahrhunderte zurück (S. 51 f.). Es hätte sich daher
wohl verlohnt, anzudeuten, wie denn die Reformation die Verbindung von
religiöser und wissenschaftlicher Erkenntnis vorbildlich vollzogen habe, und wie
wir sie demgemäß vollziehen sollen. Aber der Verfasser versucht das gar nicht,
er "glaubt" nur, "daß die alte bleibende Glaubenssubstanz mit der fortschrei¬
tenden Geistesbildung wohl zusammenstimmen kann und muß" (S, 58), und
schiebt die Aufgabe, die er als Organisator zu erfüllen Hütte, andern zu.
indem er schreibt: "Wir sollten hier gerade Lehrer haben, die sagen können,
wie sie den Konflikt zwischen dem sittlich-religiösen und dem intellektuellen
Faktor überwanden" is. 71). Also da, wo nach seinem eignen Wort "der
Knotenpunkt unsrer Bildungsshnthese" liegt, zeigt er weder geschickte Hände,
noch ein Schwert, um den Knoten zu lösen oder zu zerhauen. Denn daß er
einmal an entfernter Stelle und fast gelegentlich zwei Äußerungen der Theo¬
logen Hermann und Lipsins in dieser Sache wiedergiebt, das darf man billig
nicht in Anschlag bringen.

Ich will die Reihe der unbewiesenen Voraussetzungen, von denen die Schrift
zehrt, nicht zu Ende führen; nur einige wenige mögen noch gestreift sein. Daß
"die Frage nach den richtigen Verhältnissen im Zusammenleben der Menschen ge¬
wiß in dem Felde des weltdurchdringenden Christentums ihre innerlichste Lösung
findet" (S. 46), ist nicht so von vornherein gewiß, sondern bedarf ebenfalls
eines Beweises, vor allem gegenüber dem großen Gegner, mit dem Hummel
abrechnet, der sozialdemokratischen Weltanschauung; und sofern der Verfasser
bei jenen "richtigen Verhältnissen" wesentlich mich an eine staatliche Ordnung,
um eine soziale Gesetzgebung denkt, fehlt der Beweis sogar für einen Christen,
der sagt: das Christentum hat es mit der staatlichen Regelung der sozialen
Frage, mit den richtigen sozialen Verhältnissen gar nicht zu thu", sondern mir
mit dem richtigen sozialen Versälle". Ferner: ist es wirklich eine "Thatsache,"
die ma" mit mathematischer Sicherheit als Grundlage der Erziehung nur so
hinstellen darf, daß "der Mensch als Individuum die Epoche" der Weltkultur
durchmacht" ? Ich meine, das sei gar nicht selbstverständlich, und eine Begrün¬
dung dafür sei keine verschwendete Mühe. Aber wie gesagt, ich will diesen
Faden nicht fortspinnen -- ich will nicht weiter davon reden, daß der Unter¬
richt in der Geschichte denn doch nicht so einfach nach der Schablone: Ver-
irrung und Strafe abgehandelt werden darf, wie es Hummel S. 70 vorschreibt,
daß man z. B. bei der Schilderung der "Revolution der Freidenker in Frank¬
reich" noch etwas andres zu zeigen hat als das, "wohin man gerät, wenn
man die Göttin der Vernunft auf den Thron setzt"; kurz, daß die Geschichte
nicht klein genng ist, sich zu einem moralischen Bilderbuch für die reifere Jugend
zurechtschnciden zu lassen. Aber das kommt davon, wenn man -- in dem


Lin Aufruf zur (Organisation der Volksbildung

religiösen und des intellektuellen Faktvro bezeichnet," und lver in dem Gegen¬
satz beider „Fakturen" hängen bleibe, stehe hinter dem „normalen heutigen
Bildungsstreben" um Jahrhunderte zurück (S. 51 f.). Es hätte sich daher
wohl verlohnt, anzudeuten, wie denn die Reformation die Verbindung von
religiöser und wissenschaftlicher Erkenntnis vorbildlich vollzogen habe, und wie
wir sie demgemäß vollziehen sollen. Aber der Verfasser versucht das gar nicht,
er „glaubt" nur, „daß die alte bleibende Glaubenssubstanz mit der fortschrei¬
tenden Geistesbildung wohl zusammenstimmen kann und muß" (S, 58), und
schiebt die Aufgabe, die er als Organisator zu erfüllen Hütte, andern zu.
indem er schreibt: „Wir sollten hier gerade Lehrer haben, die sagen können,
wie sie den Konflikt zwischen dem sittlich-religiösen und dem intellektuellen
Faktor überwanden" is. 71). Also da, wo nach seinem eignen Wort „der
Knotenpunkt unsrer Bildungsshnthese" liegt, zeigt er weder geschickte Hände,
noch ein Schwert, um den Knoten zu lösen oder zu zerhauen. Denn daß er
einmal an entfernter Stelle und fast gelegentlich zwei Äußerungen der Theo¬
logen Hermann und Lipsins in dieser Sache wiedergiebt, das darf man billig
nicht in Anschlag bringen.

Ich will die Reihe der unbewiesenen Voraussetzungen, von denen die Schrift
zehrt, nicht zu Ende führen; nur einige wenige mögen noch gestreift sein. Daß
„die Frage nach den richtigen Verhältnissen im Zusammenleben der Menschen ge¬
wiß in dem Felde des weltdurchdringenden Christentums ihre innerlichste Lösung
findet" (S. 46), ist nicht so von vornherein gewiß, sondern bedarf ebenfalls
eines Beweises, vor allem gegenüber dem großen Gegner, mit dem Hummel
abrechnet, der sozialdemokratischen Weltanschauung; und sofern der Verfasser
bei jenen „richtigen Verhältnissen" wesentlich mich an eine staatliche Ordnung,
um eine soziale Gesetzgebung denkt, fehlt der Beweis sogar für einen Christen,
der sagt: das Christentum hat es mit der staatlichen Regelung der sozialen
Frage, mit den richtigen sozialen Verhältnissen gar nicht zu thu», sondern mir
mit dem richtigen sozialen Versälle». Ferner: ist es wirklich eine „Thatsache,"
die ma» mit mathematischer Sicherheit als Grundlage der Erziehung nur so
hinstellen darf, daß „der Mensch als Individuum die Epoche» der Weltkultur
durchmacht" ? Ich meine, das sei gar nicht selbstverständlich, und eine Begrün¬
dung dafür sei keine verschwendete Mühe. Aber wie gesagt, ich will diesen
Faden nicht fortspinnen — ich will nicht weiter davon reden, daß der Unter¬
richt in der Geschichte denn doch nicht so einfach nach der Schablone: Ver-
irrung und Strafe abgehandelt werden darf, wie es Hummel S. 70 vorschreibt,
daß man z. B. bei der Schilderung der „Revolution der Freidenker in Frank¬
reich" noch etwas andres zu zeigen hat als das, „wohin man gerät, wenn
man die Göttin der Vernunft auf den Thron setzt"; kurz, daß die Geschichte
nicht klein genng ist, sich zu einem moralischen Bilderbuch für die reifere Jugend
zurechtschnciden zu lassen. Aber das kommt davon, wenn man — in dem


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0524" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/216248"/>
          <fw type="header" place="top"> Lin Aufruf zur (Organisation der Volksbildung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1951" prev="#ID_1950"> religiösen und des intellektuellen Faktvro bezeichnet," und lver in dem Gegen¬<lb/>
satz beider &#x201E;Fakturen" hängen bleibe, stehe hinter dem &#x201E;normalen heutigen<lb/>
Bildungsstreben" um Jahrhunderte zurück (S. 51 f.). Es hätte sich daher<lb/>
wohl verlohnt, anzudeuten, wie denn die Reformation die Verbindung von<lb/>
religiöser und wissenschaftlicher Erkenntnis vorbildlich vollzogen habe, und wie<lb/>
wir sie demgemäß vollziehen sollen. Aber der Verfasser versucht das gar nicht,<lb/>
er &#x201E;glaubt" nur, &#x201E;daß die alte bleibende Glaubenssubstanz mit der fortschrei¬<lb/>
tenden Geistesbildung wohl zusammenstimmen kann und muß" (S, 58), und<lb/>
schiebt die Aufgabe, die er als Organisator zu erfüllen Hütte, andern zu.<lb/>
indem er schreibt: &#x201E;Wir sollten hier gerade Lehrer haben, die sagen können,<lb/>
wie sie den Konflikt zwischen dem sittlich-religiösen und dem intellektuellen<lb/>
Faktor überwanden" is. 71). Also da, wo nach seinem eignen Wort &#x201E;der<lb/>
Knotenpunkt unsrer Bildungsshnthese" liegt, zeigt er weder geschickte Hände,<lb/>
noch ein Schwert, um den Knoten zu lösen oder zu zerhauen. Denn daß er<lb/>
einmal an entfernter Stelle und fast gelegentlich zwei Äußerungen der Theo¬<lb/>
logen Hermann und Lipsins in dieser Sache wiedergiebt, das darf man billig<lb/>
nicht in Anschlag bringen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1952" next="#ID_1953"> Ich will die Reihe der unbewiesenen Voraussetzungen, von denen die Schrift<lb/>
zehrt, nicht zu Ende führen; nur einige wenige mögen noch gestreift sein. Daß<lb/>
&#x201E;die Frage nach den richtigen Verhältnissen im Zusammenleben der Menschen ge¬<lb/>
wiß in dem Felde des weltdurchdringenden Christentums ihre innerlichste Lösung<lb/>
findet" (S. 46), ist nicht so von vornherein gewiß, sondern bedarf ebenfalls<lb/>
eines Beweises, vor allem gegenüber dem großen Gegner, mit dem Hummel<lb/>
abrechnet, der sozialdemokratischen Weltanschauung; und sofern der Verfasser<lb/>
bei jenen &#x201E;richtigen Verhältnissen" wesentlich mich an eine staatliche Ordnung,<lb/>
um eine soziale Gesetzgebung denkt, fehlt der Beweis sogar für einen Christen,<lb/>
der sagt: das Christentum hat es mit der staatlichen Regelung der sozialen<lb/>
Frage, mit den richtigen sozialen Verhältnissen gar nicht zu thu», sondern mir<lb/>
mit dem richtigen sozialen Versälle». Ferner: ist es wirklich eine &#x201E;Thatsache,"<lb/>
die ma» mit mathematischer Sicherheit als Grundlage der Erziehung nur so<lb/>
hinstellen darf, daß &#x201E;der Mensch als Individuum die Epoche» der Weltkultur<lb/>
durchmacht" ? Ich meine, das sei gar nicht selbstverständlich, und eine Begrün¬<lb/>
dung dafür sei keine verschwendete Mühe. Aber wie gesagt, ich will diesen<lb/>
Faden nicht fortspinnen &#x2014; ich will nicht weiter davon reden, daß der Unter¬<lb/>
richt in der Geschichte denn doch nicht so einfach nach der Schablone: Ver-<lb/>
irrung und Strafe abgehandelt werden darf, wie es Hummel S. 70 vorschreibt,<lb/>
daß man z. B. bei der Schilderung der &#x201E;Revolution der Freidenker in Frank¬<lb/>
reich" noch etwas andres zu zeigen hat als das, &#x201E;wohin man gerät, wenn<lb/>
man die Göttin der Vernunft auf den Thron setzt"; kurz, daß die Geschichte<lb/>
nicht klein genng ist, sich zu einem moralischen Bilderbuch für die reifere Jugend<lb/>
zurechtschnciden zu lassen.  Aber das kommt davon, wenn man &#x2014; in dem</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0524] Lin Aufruf zur (Organisation der Volksbildung religiösen und des intellektuellen Faktvro bezeichnet," und lver in dem Gegen¬ satz beider „Fakturen" hängen bleibe, stehe hinter dem „normalen heutigen Bildungsstreben" um Jahrhunderte zurück (S. 51 f.). Es hätte sich daher wohl verlohnt, anzudeuten, wie denn die Reformation die Verbindung von religiöser und wissenschaftlicher Erkenntnis vorbildlich vollzogen habe, und wie wir sie demgemäß vollziehen sollen. Aber der Verfasser versucht das gar nicht, er „glaubt" nur, „daß die alte bleibende Glaubenssubstanz mit der fortschrei¬ tenden Geistesbildung wohl zusammenstimmen kann und muß" (S, 58), und schiebt die Aufgabe, die er als Organisator zu erfüllen Hütte, andern zu. indem er schreibt: „Wir sollten hier gerade Lehrer haben, die sagen können, wie sie den Konflikt zwischen dem sittlich-religiösen und dem intellektuellen Faktor überwanden" is. 71). Also da, wo nach seinem eignen Wort „der Knotenpunkt unsrer Bildungsshnthese" liegt, zeigt er weder geschickte Hände, noch ein Schwert, um den Knoten zu lösen oder zu zerhauen. Denn daß er einmal an entfernter Stelle und fast gelegentlich zwei Äußerungen der Theo¬ logen Hermann und Lipsins in dieser Sache wiedergiebt, das darf man billig nicht in Anschlag bringen. Ich will die Reihe der unbewiesenen Voraussetzungen, von denen die Schrift zehrt, nicht zu Ende führen; nur einige wenige mögen noch gestreift sein. Daß „die Frage nach den richtigen Verhältnissen im Zusammenleben der Menschen ge¬ wiß in dem Felde des weltdurchdringenden Christentums ihre innerlichste Lösung findet" (S. 46), ist nicht so von vornherein gewiß, sondern bedarf ebenfalls eines Beweises, vor allem gegenüber dem großen Gegner, mit dem Hummel abrechnet, der sozialdemokratischen Weltanschauung; und sofern der Verfasser bei jenen „richtigen Verhältnissen" wesentlich mich an eine staatliche Ordnung, um eine soziale Gesetzgebung denkt, fehlt der Beweis sogar für einen Christen, der sagt: das Christentum hat es mit der staatlichen Regelung der sozialen Frage, mit den richtigen sozialen Verhältnissen gar nicht zu thu», sondern mir mit dem richtigen sozialen Versälle». Ferner: ist es wirklich eine „Thatsache," die ma» mit mathematischer Sicherheit als Grundlage der Erziehung nur so hinstellen darf, daß „der Mensch als Individuum die Epoche» der Weltkultur durchmacht" ? Ich meine, das sei gar nicht selbstverständlich, und eine Begrün¬ dung dafür sei keine verschwendete Mühe. Aber wie gesagt, ich will diesen Faden nicht fortspinnen — ich will nicht weiter davon reden, daß der Unter¬ richt in der Geschichte denn doch nicht so einfach nach der Schablone: Ver- irrung und Strafe abgehandelt werden darf, wie es Hummel S. 70 vorschreibt, daß man z. B. bei der Schilderung der „Revolution der Freidenker in Frank¬ reich" noch etwas andres zu zeigen hat als das, „wohin man gerät, wenn man die Göttin der Vernunft auf den Thron setzt"; kurz, daß die Geschichte nicht klein genng ist, sich zu einem moralischen Bilderbuch für die reifere Jugend zurechtschnciden zu lassen. Aber das kommt davon, wenn man — in dem

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/524
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/524>, abgerufen am 22.07.2024.