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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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nicht zu reden, dachte ich; du mußt dir schon die Mühe nehmen, das zu über¬
setze". Es soll wohl heißen: Bildung kommt so zustande, daß man zunächst
sein sittlich-religiöses Leben entwickelt, dann sein Wissen damit in Übereinstim¬
mung setzt und sich bei alledem bewußt bleibt, daß man einer Gemeinschaft
zu leben habe. Das hat man so zu thun, "daß das Geschehen in Natur
und Geschichte ein Gegenstück des eignen innern Werdens ist." Was kann
darunter verstanden werden? Soll mein inneres Werden in irgend einer Weise
dein Geschehen in Geschichte und Natur parallel gehen, so muß es sich nach
dem richten, was dem Geschehen auf beiden Gebieten gemeinsam ist. Das ist
nicht das Gesetz der Kausalität, den" es läßt sich auf die Geschichte als auf
den Niederschlag freier Haiidlttngen nicht oder jedenfalls nicht ohne weiteres
anwenden; es ist wohl auch uicht ganz allgemein das Gesetz der Entwicklung
<im Sinne eines organischen Fortschritts), denn daß sich die richtige geistige
Ausbildung nach einem organischen Fortschritt vollziehen müsse, das ist ohne
jenen Umweg über Natur und Geschichte eher sicherer, ist eine Selbstverständ¬
lichkeit, die dem Verfasser nicht zugetraut werden darf. Also ist Wohl gemeint:
in Natur und Geschichte zeigt sich eine besondre Art stetiger Entwicklung, und
der Gang der Erziehung muß ebeu diesem besondern Gesetze folgen, das -- wie
der Berfasser beweisen wird -- für Geschichte und Nntnr gilt, und in über¬
einstimmender Weise gilt.

So glaubte ich endlich den wirklichen Sinn jenes Satzes der Vorrede ge-
sunde" zu haben. Aber man soll nicht voreilig sein. Am Schluß der Schrift
wußte ich ganz gewiß, wie sehr ich den Anfang mißverstanden hatte. Jener
Ausdruck will nichts andres sagen, als die nachher immer und immer wieder
auftretende Forderung, "daß der zu Bildende jene Synthese so vollziehe, daß er
möglichst sehr (!) die einzelnen Kulturepochen durchmacht, weil seine Entwicklung
den Kulturstufen der allgemeinen Entwicklung entspricht" (S. 54). Das ist
es also! "Geschehen in Natur und Geschichte" -- damit hat man bloß das
Geschehen i" der Geschichte zu verstehen, die "Natur" gehört gar uicht her
und ist nur eine Art blinder Passagier, eingeschmuggelt von dem Bedürfnis
nach volltönender Diktion, das dem Verfasser auch so"se hie und da einen
Streich spielt.

Da ist mir nnn unter der Hand aus dem Vorwort der Broschüre eine
dialektische "Übung" erwachse", und ich muß fast um Entschuldigung dafür
bitte". Solche Übungen wirken nie angenehm, selbst wenn sie berechtigt sind.
Es wäre daher besser gewesen, der Verfasser hätte sie angestellt, ehe er gleich
Mr Einleitung eine Definition seines Grn"dbegriffs gab, die weder i" der
Form "och i" der Sache klar ist. Klarheit darf man von einem Aufruf zur
Organisation der Volksbildung doch wohl auch in der Vorrede erwarten, man
will auch da die "Wahrheiten" eindeutig und zugleich das Selbstverständliche
nicht mit Pathos verkündigt sehen.


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Lin Aufruf zur Grgmiifatiou der Volksbildung

nicht zu reden, dachte ich; du mußt dir schon die Mühe nehmen, das zu über¬
setze». Es soll wohl heißen: Bildung kommt so zustande, daß man zunächst
sein sittlich-religiöses Leben entwickelt, dann sein Wissen damit in Übereinstim¬
mung setzt und sich bei alledem bewußt bleibt, daß man einer Gemeinschaft
zu leben habe. Das hat man so zu thun, „daß das Geschehen in Natur
und Geschichte ein Gegenstück des eignen innern Werdens ist." Was kann
darunter verstanden werden? Soll mein inneres Werden in irgend einer Weise
dein Geschehen in Geschichte und Natur parallel gehen, so muß es sich nach
dem richten, was dem Geschehen auf beiden Gebieten gemeinsam ist. Das ist
nicht das Gesetz der Kausalität, den» es läßt sich auf die Geschichte als auf
den Niederschlag freier Haiidlttngen nicht oder jedenfalls nicht ohne weiteres
anwenden; es ist wohl auch uicht ganz allgemein das Gesetz der Entwicklung
<im Sinne eines organischen Fortschritts), denn daß sich die richtige geistige
Ausbildung nach einem organischen Fortschritt vollziehen müsse, das ist ohne
jenen Umweg über Natur und Geschichte eher sicherer, ist eine Selbstverständ¬
lichkeit, die dem Verfasser nicht zugetraut werden darf. Also ist Wohl gemeint:
in Natur und Geschichte zeigt sich eine besondre Art stetiger Entwicklung, und
der Gang der Erziehung muß ebeu diesem besondern Gesetze folgen, das — wie
der Berfasser beweisen wird — für Geschichte und Nntnr gilt, und in über¬
einstimmender Weise gilt.

So glaubte ich endlich den wirklichen Sinn jenes Satzes der Vorrede ge-
sunde» zu haben. Aber man soll nicht voreilig sein. Am Schluß der Schrift
wußte ich ganz gewiß, wie sehr ich den Anfang mißverstanden hatte. Jener
Ausdruck will nichts andres sagen, als die nachher immer und immer wieder
auftretende Forderung, „daß der zu Bildende jene Synthese so vollziehe, daß er
möglichst sehr (!) die einzelnen Kulturepochen durchmacht, weil seine Entwicklung
den Kulturstufen der allgemeinen Entwicklung entspricht" (S. 54). Das ist
es also! „Geschehen in Natur und Geschichte" — damit hat man bloß das
Geschehen i» der Geschichte zu verstehen, die „Natur" gehört gar uicht her
und ist nur eine Art blinder Passagier, eingeschmuggelt von dem Bedürfnis
nach volltönender Diktion, das dem Verfasser auch so»se hie und da einen
Streich spielt.

Da ist mir nnn unter der Hand aus dem Vorwort der Broschüre eine
dialektische „Übung" erwachse», und ich muß fast um Entschuldigung dafür
bitte». Solche Übungen wirken nie angenehm, selbst wenn sie berechtigt sind.
Es wäre daher besser gewesen, der Verfasser hätte sie angestellt, ehe er gleich
Mr Einleitung eine Definition seines Grn»dbegriffs gab, die weder i» der
Form »och i» der Sache klar ist. Klarheit darf man von einem Aufruf zur
Organisation der Volksbildung doch wohl auch in der Vorrede erwarten, man
will auch da die „Wahrheiten" eindeutig und zugleich das Selbstverständliche
nicht mit Pathos verkündigt sehen.


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[0521] Lin Aufruf zur Grgmiifatiou der Volksbildung nicht zu reden, dachte ich; du mußt dir schon die Mühe nehmen, das zu über¬ setze». Es soll wohl heißen: Bildung kommt so zustande, daß man zunächst sein sittlich-religiöses Leben entwickelt, dann sein Wissen damit in Übereinstim¬ mung setzt und sich bei alledem bewußt bleibt, daß man einer Gemeinschaft zu leben habe. Das hat man so zu thun, „daß das Geschehen in Natur und Geschichte ein Gegenstück des eignen innern Werdens ist." Was kann darunter verstanden werden? Soll mein inneres Werden in irgend einer Weise dein Geschehen in Geschichte und Natur parallel gehen, so muß es sich nach dem richten, was dem Geschehen auf beiden Gebieten gemeinsam ist. Das ist nicht das Gesetz der Kausalität, den» es läßt sich auf die Geschichte als auf den Niederschlag freier Haiidlttngen nicht oder jedenfalls nicht ohne weiteres anwenden; es ist wohl auch uicht ganz allgemein das Gesetz der Entwicklung <im Sinne eines organischen Fortschritts), denn daß sich die richtige geistige Ausbildung nach einem organischen Fortschritt vollziehen müsse, das ist ohne jenen Umweg über Natur und Geschichte eher sicherer, ist eine Selbstverständ¬ lichkeit, die dem Verfasser nicht zugetraut werden darf. Also ist Wohl gemeint: in Natur und Geschichte zeigt sich eine besondre Art stetiger Entwicklung, und der Gang der Erziehung muß ebeu diesem besondern Gesetze folgen, das — wie der Berfasser beweisen wird — für Geschichte und Nntnr gilt, und in über¬ einstimmender Weise gilt. So glaubte ich endlich den wirklichen Sinn jenes Satzes der Vorrede ge- sunde» zu haben. Aber man soll nicht voreilig sein. Am Schluß der Schrift wußte ich ganz gewiß, wie sehr ich den Anfang mißverstanden hatte. Jener Ausdruck will nichts andres sagen, als die nachher immer und immer wieder auftretende Forderung, „daß der zu Bildende jene Synthese so vollziehe, daß er möglichst sehr (!) die einzelnen Kulturepochen durchmacht, weil seine Entwicklung den Kulturstufen der allgemeinen Entwicklung entspricht" (S. 54). Das ist es also! „Geschehen in Natur und Geschichte" — damit hat man bloß das Geschehen i» der Geschichte zu verstehen, die „Natur" gehört gar uicht her und ist nur eine Art blinder Passagier, eingeschmuggelt von dem Bedürfnis nach volltönender Diktion, das dem Verfasser auch so»se hie und da einen Streich spielt. Da ist mir nnn unter der Hand aus dem Vorwort der Broschüre eine dialektische „Übung" erwachse», und ich muß fast um Entschuldigung dafür bitte». Solche Übungen wirken nie angenehm, selbst wenn sie berechtigt sind. Es wäre daher besser gewesen, der Verfasser hätte sie angestellt, ehe er gleich Mr Einleitung eine Definition seines Grn»dbegriffs gab, die weder i» der Form »och i» der Sache klar ist. Klarheit darf man von einem Aufruf zur Organisation der Volksbildung doch wohl auch in der Vorrede erwarten, man will auch da die „Wahrheiten" eindeutig und zugleich das Selbstverständliche nicht mit Pathos verkündigt sehen. Greu^oder IV 180!! 65

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/521>, abgerufen am 22.07.2024.