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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Gerade auf diesem Gebiete kann man keine halben Propheten gelten lassen und
nicht einen als Bauherrn ansehen, der -- vielleicht -- Steine zuzurichten ver¬
steht für einen Kommenden.

Also deshalb würde ich einen Aufruf zur "Organisation der Volksbildung"
nicht wagen. Aber ich würde mit Freuden den begrüßen, der ihn mit dem
Recht einer neuen, wirklichen Erkenntnis erließe. So habe ich denn mit ge¬
spannter Erwartung zu einem Büchlein gegriffen, das der Licentiat der Theo¬
logie Friedrich Hummel, Stadtpfarrer in Schwaigern, unter dem Titel ver¬
öffentlicht hat: Was läßt sich zur Pflege einer gediegnen, echt volks¬
tümlichen Bildung in deu Arbeiterkreisen thun? Ein Aufruf zu einer
Organisation der Volksbildung. (Heilbronn, Salzer, 1893.) Daß sich die
Schrift weiter bezeichnet als "von der Königlichen Akademie gemeinnütziger
Wissenschaften zu Erfurt gekrönte Preisschrift," hat meine natürliche Spannung
erhöht. Also eine Arbeit, von deren Gehalt nicht bloß der Verfasser überzeugt
ist, sondern die zugleich nach fremdem Urteil die beste ist unter einer Reihe
andrer -- unter dreiundachtzig, wie die Borrede feststellt!

Voll Interesse las ich das Vorwort. "Meine nachfolgenden Ausführungen
-- heißt es da - - suchen für eine wahrhaftige Volkserziehung und im besondern
sür die Pflege gediegner Bildung in den Arbeiterkreisen ein sestes Prinzip mit
lebendiger innerlicher Einheit und mit allumfassender Praxis zu geben. In
diesem Streben greifen sie in die verschiednen Gebiete der Philosophie, der
Theologie, der Nationalökonomie u. s. w. hinein, ja mit Absicht recht weit
hinaus in den Umkreis des gesamten Lebens. Und da stellt sich als durch¬
wirkender Mittelpunkt, auf den sich alles bezieht, immer wieder derjenige dar,
der es sein soll: der Mensch. Nämlich der Mensch, wie er die Synthese der
Bildung als die Shnthese des sittlich-religiösen, des intellektuellen und des
-- in Wirklichkeit ergänzend einzufügenden -- echt sozialen Faktors vollzieht,
und zwar so vollzieht, daß das Geschehen in Natur und Geschichte ein Gegen¬
stück seines eignen innern Werdens ist."

So weit kam ich. Dann hielt ich -- etwas atemlos -- inne. Was will
der Verfasser sagen? Er verspricht also wirklich, der Bolkserziehung das ein¬
heitliche Ziel zu geben, samt der umfassenden Form für die Verwirklichung
dieses Zieles, nud er stellt fest, daß der "durchwirkende" Mittelpunkt dabei
der sei, "der es sein soll -- der Mensch." Unbedingt richtig, sagte ich mir.
Besteht das Volk aus Menschen, so ist seine Erziehung nichts anders als eine
Erziehung von Menschen, so sehr, daß der Mensch dabei nicht nnr der Mittel¬
punkt ist, sondern sogar der einzige Punkt (mit gar keinem Kreis darum), wo
augesetzt werden kaun. Und weiter: der Verfasser verlangt von dem, der er¬
zogen ist, daß er "die Shnthese der Bildung als die Shnthese des sittlich-
religiösen, des intellektuellen und des echt sozialen Faktors" vollzogen habe.
Hin, ein Genie der Sprache oder wenigstens der deutschen Sprache scheint hier


Gerade auf diesem Gebiete kann man keine halben Propheten gelten lassen und
nicht einen als Bauherrn ansehen, der — vielleicht — Steine zuzurichten ver¬
steht für einen Kommenden.

Also deshalb würde ich einen Aufruf zur „Organisation der Volksbildung"
nicht wagen. Aber ich würde mit Freuden den begrüßen, der ihn mit dem
Recht einer neuen, wirklichen Erkenntnis erließe. So habe ich denn mit ge¬
spannter Erwartung zu einem Büchlein gegriffen, das der Licentiat der Theo¬
logie Friedrich Hummel, Stadtpfarrer in Schwaigern, unter dem Titel ver¬
öffentlicht hat: Was läßt sich zur Pflege einer gediegnen, echt volks¬
tümlichen Bildung in deu Arbeiterkreisen thun? Ein Aufruf zu einer
Organisation der Volksbildung. (Heilbronn, Salzer, 1893.) Daß sich die
Schrift weiter bezeichnet als „von der Königlichen Akademie gemeinnütziger
Wissenschaften zu Erfurt gekrönte Preisschrift," hat meine natürliche Spannung
erhöht. Also eine Arbeit, von deren Gehalt nicht bloß der Verfasser überzeugt
ist, sondern die zugleich nach fremdem Urteil die beste ist unter einer Reihe
andrer — unter dreiundachtzig, wie die Borrede feststellt!

Voll Interesse las ich das Vorwort. „Meine nachfolgenden Ausführungen
— heißt es da - - suchen für eine wahrhaftige Volkserziehung und im besondern
sür die Pflege gediegner Bildung in den Arbeiterkreisen ein sestes Prinzip mit
lebendiger innerlicher Einheit und mit allumfassender Praxis zu geben. In
diesem Streben greifen sie in die verschiednen Gebiete der Philosophie, der
Theologie, der Nationalökonomie u. s. w. hinein, ja mit Absicht recht weit
hinaus in den Umkreis des gesamten Lebens. Und da stellt sich als durch¬
wirkender Mittelpunkt, auf den sich alles bezieht, immer wieder derjenige dar,
der es sein soll: der Mensch. Nämlich der Mensch, wie er die Synthese der
Bildung als die Shnthese des sittlich-religiösen, des intellektuellen und des
— in Wirklichkeit ergänzend einzufügenden — echt sozialen Faktors vollzieht,
und zwar so vollzieht, daß das Geschehen in Natur und Geschichte ein Gegen¬
stück seines eignen innern Werdens ist."

So weit kam ich. Dann hielt ich — etwas atemlos — inne. Was will
der Verfasser sagen? Er verspricht also wirklich, der Bolkserziehung das ein¬
heitliche Ziel zu geben, samt der umfassenden Form für die Verwirklichung
dieses Zieles, nud er stellt fest, daß der „durchwirkende" Mittelpunkt dabei
der sei, „der es sein soll — der Mensch." Unbedingt richtig, sagte ich mir.
Besteht das Volk aus Menschen, so ist seine Erziehung nichts anders als eine
Erziehung von Menschen, so sehr, daß der Mensch dabei nicht nnr der Mittel¬
punkt ist, sondern sogar der einzige Punkt (mit gar keinem Kreis darum), wo
augesetzt werden kaun. Und weiter: der Verfasser verlangt von dem, der er¬
zogen ist, daß er „die Shnthese der Bildung als die Shnthese des sittlich-
religiösen, des intellektuellen und des echt sozialen Faktors" vollzogen habe.
Hin, ein Genie der Sprache oder wenigstens der deutschen Sprache scheint hier


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/520>, abgerufen am 24.08.2024.