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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Bildung

kommen die Elemente der Wissenschaften in wissenschaftlicher Form, vor allem
die Mathematik als das Organon der Naturwissenschaften, die ebenso wie die
Sprachen jahrelange schulmäßige Einübung erfordert. Das wären die beiden
aus der Konstitution des sozialen Lebens sich ergebenden Grundformen der
Schule; wobei denn nichts hindert, daß sie sich mit mannichfachen Unterarten
den jeweiligen Möglichkeiten und Bedürfnissen anpassen, als einklassige Dorf¬
schule und als vielklassige Stadtschule, als klassisches und als realistisches
Gymnasium; und eben so wenig, daß sich zwischen ihnen Mittelformen bilden,
so eine Bürgerschule mit verlängertem und erweitertem Kursus der Volks¬
schule, an die sich wieder Fachkurse anschließen mögen. Nicht Einförmigkeit,
sondern Mannichfaltigkeit wird uus als das wünschenswerte erscheinen, damit
nach Möglichkeit jede Anlage, jedes Bedürfnis, jede Leistungsfähigkeit das,
was ihr gemäß ist, antreffe. Und höchst wünschenswert wird es sein, daß
der Übergang aus der einen Schulform in die andre so sehr als möglich er¬
leichtert werde. Aber nicht die Aufhebung der verschiednen Schulformen über¬
haupt kann das zu erstrebende Ziel sein. Hieran würde auch das Ver¬
schwinden der Klassenunterschiede, wie es die Sozialdemokratie voraussieht,
nichts ändern; die soziale Notwendigkeit verschiedner Berufe würde Verschieden¬
heit der Bildung auch dann notwendig machen. In einem vielberufnen Buch
eiues Amerikaners (Vellamy, Rückblick vom Jahre 2000) wird uns ein Zu¬
kunftsbild gemalt: die ersten zwanzig Lebensjahre sind bei allen gleichmäßig
allein der Erziehung und allgemeinen Bildung vulwre uurruni-
ities) gewidmet; erst mit dem einundzwanzigsten Jahre findet die Einstellung
in die Arbeitsarmee statt. Ich fürchte, wer bis zum einundzwanzigsten Lebens¬
jahre nur der "allgemeinen Bildung" gelebt hat (nicht einmal Ausbildung der
Handgeschicklichkeit soll stattfinden; dafür wird eine theoretische Unterweisung
über die verschiednen Arbeitsprozesse gegeben und die Jugend aufgemuntert,
in Werkstätten und Fabriken als Zuschauer zu hospitiren!), der wird, wenn er
nun die Arbeit eines Ackerknechts oder Schmieds thun oder in eine Ziegelei
oder Kohlengrube gehen soll, mit seinen zarten Händen und seinem Überfluß
an "allgemeiner Bildung" sich sehr am unrechten Platze vorkommen. Ver¬
mutlich hat der Verfasser niemals eine dieser Arbeiten auch nur aus der
Nähe gesehen, geschweige denn Hand angelegt; um so besser läßt sich auf dem
Diwan über die zukünftige Welt träumen. Aber, mit Goethe zu reden: "Die
Welt ist nicht ans Brei und Mus geschaffen." Und darum ist freilich keine
Gefahr, daß dieses Mißverhältnis von allgemeiner Bildung und notwendiger
Arbeitsleistung jemals eintrete. Die Erde ist zwar zur Bildungsanstalt der
Menschheit geschaffen, aber auf die "allgemeine Bildung" höherer Töchter und
Söhne scheint dabei nicht eben in erster Linie das Absehen gerichtet gewesen
zu sein. Und so wird auch der Rat des Dichters, den er dem oben erwähnten
Vers anschließt, gelten:


Bildung

kommen die Elemente der Wissenschaften in wissenschaftlicher Form, vor allem
die Mathematik als das Organon der Naturwissenschaften, die ebenso wie die
Sprachen jahrelange schulmäßige Einübung erfordert. Das wären die beiden
aus der Konstitution des sozialen Lebens sich ergebenden Grundformen der
Schule; wobei denn nichts hindert, daß sie sich mit mannichfachen Unterarten
den jeweiligen Möglichkeiten und Bedürfnissen anpassen, als einklassige Dorf¬
schule und als vielklassige Stadtschule, als klassisches und als realistisches
Gymnasium; und eben so wenig, daß sich zwischen ihnen Mittelformen bilden,
so eine Bürgerschule mit verlängertem und erweitertem Kursus der Volks¬
schule, an die sich wieder Fachkurse anschließen mögen. Nicht Einförmigkeit,
sondern Mannichfaltigkeit wird uus als das wünschenswerte erscheinen, damit
nach Möglichkeit jede Anlage, jedes Bedürfnis, jede Leistungsfähigkeit das,
was ihr gemäß ist, antreffe. Und höchst wünschenswert wird es sein, daß
der Übergang aus der einen Schulform in die andre so sehr als möglich er¬
leichtert werde. Aber nicht die Aufhebung der verschiednen Schulformen über¬
haupt kann das zu erstrebende Ziel sein. Hieran würde auch das Ver¬
schwinden der Klassenunterschiede, wie es die Sozialdemokratie voraussieht,
nichts ändern; die soziale Notwendigkeit verschiedner Berufe würde Verschieden¬
heit der Bildung auch dann notwendig machen. In einem vielberufnen Buch
eiues Amerikaners (Vellamy, Rückblick vom Jahre 2000) wird uns ein Zu¬
kunftsbild gemalt: die ersten zwanzig Lebensjahre sind bei allen gleichmäßig
allein der Erziehung und allgemeinen Bildung vulwre uurruni-
ities) gewidmet; erst mit dem einundzwanzigsten Jahre findet die Einstellung
in die Arbeitsarmee statt. Ich fürchte, wer bis zum einundzwanzigsten Lebens¬
jahre nur der „allgemeinen Bildung" gelebt hat (nicht einmal Ausbildung der
Handgeschicklichkeit soll stattfinden; dafür wird eine theoretische Unterweisung
über die verschiednen Arbeitsprozesse gegeben und die Jugend aufgemuntert,
in Werkstätten und Fabriken als Zuschauer zu hospitiren!), der wird, wenn er
nun die Arbeit eines Ackerknechts oder Schmieds thun oder in eine Ziegelei
oder Kohlengrube gehen soll, mit seinen zarten Händen und seinem Überfluß
an „allgemeiner Bildung" sich sehr am unrechten Platze vorkommen. Ver¬
mutlich hat der Verfasser niemals eine dieser Arbeiten auch nur aus der
Nähe gesehen, geschweige denn Hand angelegt; um so besser läßt sich auf dem
Diwan über die zukünftige Welt träumen. Aber, mit Goethe zu reden: „Die
Welt ist nicht ans Brei und Mus geschaffen." Und darum ist freilich keine
Gefahr, daß dieses Mißverhältnis von allgemeiner Bildung und notwendiger
Arbeitsleistung jemals eintrete. Die Erde ist zwar zur Bildungsanstalt der
Menschheit geschaffen, aber auf die „allgemeine Bildung" höherer Töchter und
Söhne scheint dabei nicht eben in erster Linie das Absehen gerichtet gewesen
zu sein. Und so wird auch der Rat des Dichters, den er dem oben erwähnten
Vers anschließt, gelten:


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[0474] Bildung kommen die Elemente der Wissenschaften in wissenschaftlicher Form, vor allem die Mathematik als das Organon der Naturwissenschaften, die ebenso wie die Sprachen jahrelange schulmäßige Einübung erfordert. Das wären die beiden aus der Konstitution des sozialen Lebens sich ergebenden Grundformen der Schule; wobei denn nichts hindert, daß sie sich mit mannichfachen Unterarten den jeweiligen Möglichkeiten und Bedürfnissen anpassen, als einklassige Dorf¬ schule und als vielklassige Stadtschule, als klassisches und als realistisches Gymnasium; und eben so wenig, daß sich zwischen ihnen Mittelformen bilden, so eine Bürgerschule mit verlängertem und erweitertem Kursus der Volks¬ schule, an die sich wieder Fachkurse anschließen mögen. Nicht Einförmigkeit, sondern Mannichfaltigkeit wird uus als das wünschenswerte erscheinen, damit nach Möglichkeit jede Anlage, jedes Bedürfnis, jede Leistungsfähigkeit das, was ihr gemäß ist, antreffe. Und höchst wünschenswert wird es sein, daß der Übergang aus der einen Schulform in die andre so sehr als möglich er¬ leichtert werde. Aber nicht die Aufhebung der verschiednen Schulformen über¬ haupt kann das zu erstrebende Ziel sein. Hieran würde auch das Ver¬ schwinden der Klassenunterschiede, wie es die Sozialdemokratie voraussieht, nichts ändern; die soziale Notwendigkeit verschiedner Berufe würde Verschieden¬ heit der Bildung auch dann notwendig machen. In einem vielberufnen Buch eiues Amerikaners (Vellamy, Rückblick vom Jahre 2000) wird uns ein Zu¬ kunftsbild gemalt: die ersten zwanzig Lebensjahre sind bei allen gleichmäßig allein der Erziehung und allgemeinen Bildung vulwre uurruni- ities) gewidmet; erst mit dem einundzwanzigsten Jahre findet die Einstellung in die Arbeitsarmee statt. Ich fürchte, wer bis zum einundzwanzigsten Lebens¬ jahre nur der „allgemeinen Bildung" gelebt hat (nicht einmal Ausbildung der Handgeschicklichkeit soll stattfinden; dafür wird eine theoretische Unterweisung über die verschiednen Arbeitsprozesse gegeben und die Jugend aufgemuntert, in Werkstätten und Fabriken als Zuschauer zu hospitiren!), der wird, wenn er nun die Arbeit eines Ackerknechts oder Schmieds thun oder in eine Ziegelei oder Kohlengrube gehen soll, mit seinen zarten Händen und seinem Überfluß an „allgemeiner Bildung" sich sehr am unrechten Platze vorkommen. Ver¬ mutlich hat der Verfasser niemals eine dieser Arbeiten auch nur aus der Nähe gesehen, geschweige denn Hand angelegt; um so besser läßt sich auf dem Diwan über die zukünftige Welt träumen. Aber, mit Goethe zu reden: „Die Welt ist nicht ans Brei und Mus geschaffen." Und darum ist freilich keine Gefahr, daß dieses Mißverhältnis von allgemeiner Bildung und notwendiger Arbeitsleistung jemals eintrete. Die Erde ist zwar zur Bildungsanstalt der Menschheit geschaffen, aber auf die „allgemeine Bildung" höherer Töchter und Söhne scheint dabei nicht eben in erster Linie das Absehen gerichtet gewesen zu sein. Und so wird auch der Rat des Dichters, den er dem oben erwähnten Vers anschließt, gelten:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/474>, abgerufen am 04.07.2024.