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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Bildung

gabung mitbringen, die Gelegenheit zur Ausbildung vorenthalten; indem sie
bei niederer Dienstleistung festgehalten werden, geht ihr Talent der Gesamtheit
verloren, und sie selber haben lebenslang an dem Druck der Verhältnisse zu
tragen. Das also wäre ein mögliches Ziel sozialreformatvrischer Bestrebungen
und ein wirkliches Ideal: den gesellschaftlichen Beruf in Einklang mit dem
Naturberuf bringen - freilich ein Ideal, dessen Verwirklichung nie ohne Nest
gelingen wird, schon darum uicht, weil es ein zuverlässiges Mittel der Er¬
kenntnis der natürlichen Berufung nicht giebt.

Ist hiernach die Differenzirung der Berufe eine soziale Notwendigkeit, so
ist es auch die Differenzirung der Schulformen. Vor allem wird die große
Differenzirung der Berufe in solche, die vorzugsweise die körperlichen Kräfte
in Anspruch nehmen, und in solche, die vorzugsweise Kopfarbeit erfordern,
oder, so können wir auch sagen, die Differenzirung der Glieder der Ge¬
sellschaft in motorische und dirigirende Organe, zwei verschiedne Grundformen
des Schulunterrichts notwendig machen, die beiden Formen, die wir gewöhnt
sind, als Volksschule und Gelehrtenschule zu unterscheiden. Der Kursus der
Volksschule wird auf einen Abschluß etwa mit dem vierzehnten Lebensjahre
angelegt sein müssen, dann übergiebt sie ihre Schüler dem Leben; der Kursus
der Gelehrtenschule wird länger bemessen sein müssen; er empfängt seine nähere
Bestimmung durch die Anforderungen, die die wissenschaftliche oder technische
Fachschule an die Vorbildung ihrer Schüler stellt. Die Unterrichtsgegenstände
der Volksschule kann man mit Paul de Lagarde unter dem Namen Heimat¬
kunde zusammenfassen; ihre Aufgabe ist, die Jugend in der natürlichen und
vor allem in der geistig-geschichtlichen Umgebung ihres Volkes heimisch zu
machen; Religion, vaterländische Sprache und Dichtung, Geschichte und Landes¬
kunde, dazu einige Naturkunde, das wird nebst den elementaren Fertigkeiten
und Künsten, Lesen, Schreiben, Rechnen, Zeichnen, den Umkreis ihres Unter¬
richts ausfüllen. Die Gelehrtenschule wird vor allem zwei weitere Unterrichts¬
fächer aufnehmen: fremde Sprachen und Mathematik. Da die Völker nicht
ein isolirtes Dasein führen, sondern in politischer, wirtschaftlicher und geistiger
Hinsicht Glieder größerer Kreise sind, so erwächst hieraus die Aufgabe, die
Beziehungen des nationalen zum internationalen, zum geschichtlichen Leben
der Menschheit zu erkennen und zu leiten. Hierfür ist die Kenntnis der
Sprachen unentbehrlich. Für die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen,
wie auch für die wissenschaftliche Arbeit, die den europäischen Völkern eine
gemeinsame ist, sind vor allem die Sprachen der mitlebenden Kulturvölker
wichtig; für die Auffassung der Stellung des eignen Volkes innerhalb des
geistig-geschichtlichen Lebens der Menschheit kommen dazu die Sprachen
der eilten Völker in Betracht; die Schöpfungen der Griechen und Römer auf
dem Gebiete der Philosophie und Wissenschaft, der Kunst und Dichtung, des
Rechts und Staats sind Ausgangspunkte des modernen Kulturlebens. Hierzu


Grenzboten IV 189Z 59
Bildung

gabung mitbringen, die Gelegenheit zur Ausbildung vorenthalten; indem sie
bei niederer Dienstleistung festgehalten werden, geht ihr Talent der Gesamtheit
verloren, und sie selber haben lebenslang an dem Druck der Verhältnisse zu
tragen. Das also wäre ein mögliches Ziel sozialreformatvrischer Bestrebungen
und ein wirkliches Ideal: den gesellschaftlichen Beruf in Einklang mit dem
Naturberuf bringen - freilich ein Ideal, dessen Verwirklichung nie ohne Nest
gelingen wird, schon darum uicht, weil es ein zuverlässiges Mittel der Er¬
kenntnis der natürlichen Berufung nicht giebt.

Ist hiernach die Differenzirung der Berufe eine soziale Notwendigkeit, so
ist es auch die Differenzirung der Schulformen. Vor allem wird die große
Differenzirung der Berufe in solche, die vorzugsweise die körperlichen Kräfte
in Anspruch nehmen, und in solche, die vorzugsweise Kopfarbeit erfordern,
oder, so können wir auch sagen, die Differenzirung der Glieder der Ge¬
sellschaft in motorische und dirigirende Organe, zwei verschiedne Grundformen
des Schulunterrichts notwendig machen, die beiden Formen, die wir gewöhnt
sind, als Volksschule und Gelehrtenschule zu unterscheiden. Der Kursus der
Volksschule wird auf einen Abschluß etwa mit dem vierzehnten Lebensjahre
angelegt sein müssen, dann übergiebt sie ihre Schüler dem Leben; der Kursus
der Gelehrtenschule wird länger bemessen sein müssen; er empfängt seine nähere
Bestimmung durch die Anforderungen, die die wissenschaftliche oder technische
Fachschule an die Vorbildung ihrer Schüler stellt. Die Unterrichtsgegenstände
der Volksschule kann man mit Paul de Lagarde unter dem Namen Heimat¬
kunde zusammenfassen; ihre Aufgabe ist, die Jugend in der natürlichen und
vor allem in der geistig-geschichtlichen Umgebung ihres Volkes heimisch zu
machen; Religion, vaterländische Sprache und Dichtung, Geschichte und Landes¬
kunde, dazu einige Naturkunde, das wird nebst den elementaren Fertigkeiten
und Künsten, Lesen, Schreiben, Rechnen, Zeichnen, den Umkreis ihres Unter¬
richts ausfüllen. Die Gelehrtenschule wird vor allem zwei weitere Unterrichts¬
fächer aufnehmen: fremde Sprachen und Mathematik. Da die Völker nicht
ein isolirtes Dasein führen, sondern in politischer, wirtschaftlicher und geistiger
Hinsicht Glieder größerer Kreise sind, so erwächst hieraus die Aufgabe, die
Beziehungen des nationalen zum internationalen, zum geschichtlichen Leben
der Menschheit zu erkennen und zu leiten. Hierfür ist die Kenntnis der
Sprachen unentbehrlich. Für die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen,
wie auch für die wissenschaftliche Arbeit, die den europäischen Völkern eine
gemeinsame ist, sind vor allem die Sprachen der mitlebenden Kulturvölker
wichtig; für die Auffassung der Stellung des eignen Volkes innerhalb des
geistig-geschichtlichen Lebens der Menschheit kommen dazu die Sprachen
der eilten Völker in Betracht; die Schöpfungen der Griechen und Römer auf
dem Gebiete der Philosophie und Wissenschaft, der Kunst und Dichtung, des
Rechts und Staats sind Ausgangspunkte des modernen Kulturlebens. Hierzu


Grenzboten IV 189Z 59
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/473>, abgerufen am 02.07.2024.