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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Bildung

Wird hier durch die Natur der Dinge ein falsches Ideal abgehalten, zu¬
viel Schaden anzurichten, so steht es dagegen anders mit den falschen Bildungs¬
bestrebungen der guten Gesellschaft. Ju den höher" Schulen kann man überall
sehen, wie junge Leute beider Geschlechter jahrelang zum Lernen von Dingen
angehalten werden, für die sie weder Neigung noch Begabung haben. Die
Folge ist jene Erscheinung, die neuerdings den Beobachtern unsers Lebens so
viel zu schaffen macht: die Halbbildung. Halbbildung, so werden wir sagen, ist
eben das, was der gemeine Sprachgebrauch Bildung nennt: das "alles gehabt
haben" und "von allem mitreden können." Sie entsteht überall da, wo ohne
Rücksicht auf die Naturanlage "Rilduugsstoffe" aufgenötigt werden, die zu
assimiliren die Natur sich weigert. Halbbildung ist nicht die Wirkung einer
bestimmte" Schulart, etwa der Realschule, wie man gemeint hat, auch nicht
el"es nur zur Hälfte absvlvirten Schulkursus, wie andre meinen, sodaß jemand,
der aus der Tertia abginge, sein Leben lang als Halbgebildeter herumlaufen
müßte, während der mit dem Reifezeugnis entlassene sich einer "vollen und
ganzen" Bildung zu erfreuen hätte; Halbbildung ist innerlich unvollendete
Bildung. So giebt es die Etymologie an die Hand: entsteht Bildung durch
innere Verarbeitung und Assimilation, so entsteht Halbbildung da, wo Stoffe
bloß äußerlich aufgenommen werden. Ins Gedächtnis gepackt, liegen sie wie
fremde Körper in der Seele, hemmen die natürliche Entwicklung und verzerren
und verunstalten die geistige Bildung.

Eine solche Bildung ist nun allerdings ein Unglück. Ist ihre Erwerbung
eine Plage, so ist ihr Besitz ein Unsegen. Halbbildung macht eitel und ge¬
fallsüchtig. Wie aller Putz zur Schaustellung drängt, so auch jener Bildungs¬
flitter; er hat ja keinen Wert, wenn ihn niemand sieht. Halbbildung macht
hochmütig und herrisch. Da sie keinen innern Wert hat, so sieht man um
so mehr auf änßere Anerkennung des Vorzugs und verachtet die andern, die
keine "Vilduug" haben. Halbbildung macht unduldsam und brutal. Seiner
selbst nicht sicher, kann man andre Art nicht gelten lassen, sondern empfindet
sie als ein Attentat auf die eigue "Bildung." Der Halbgebildete ist überall
daran zu erkennen, daß er alles, was nicht den gleichen Fabrikstempel trügt,
schmäht und verfolgt. Daher seine angeborne Feindschaft gegen alles Aus-
gezeichnete und Eigentümliche; Originalität ist ihm Insolenz. Endlich macht
Halbbildung unzufrieden und unglücklich. Wie könnte auch einem Wesen, das
so zu sich selbst und seiner Umgebung steht, wohl in seiner Haut sein?

Wahre Bildung ist von dem allen das Gegenteil. Sie meidet Schein
und Ostentativ", denn sie hat kein Bedürfnis, von den Leuten gesehen zu
werden. Ein gutes Merkmal des wirklich Gebildeten ist, daß er schweigen


Bildung

Wird hier durch die Natur der Dinge ein falsches Ideal abgehalten, zu¬
viel Schaden anzurichten, so steht es dagegen anders mit den falschen Bildungs¬
bestrebungen der guten Gesellschaft. Ju den höher» Schulen kann man überall
sehen, wie junge Leute beider Geschlechter jahrelang zum Lernen von Dingen
angehalten werden, für die sie weder Neigung noch Begabung haben. Die
Folge ist jene Erscheinung, die neuerdings den Beobachtern unsers Lebens so
viel zu schaffen macht: die Halbbildung. Halbbildung, so werden wir sagen, ist
eben das, was der gemeine Sprachgebrauch Bildung nennt: das „alles gehabt
haben" und „von allem mitreden können." Sie entsteht überall da, wo ohne
Rücksicht auf die Naturanlage „Rilduugsstoffe" aufgenötigt werden, die zu
assimiliren die Natur sich weigert. Halbbildung ist nicht die Wirkung einer
bestimmte» Schulart, etwa der Realschule, wie man gemeint hat, auch nicht
el»es nur zur Hälfte absvlvirten Schulkursus, wie andre meinen, sodaß jemand,
der aus der Tertia abginge, sein Leben lang als Halbgebildeter herumlaufen
müßte, während der mit dem Reifezeugnis entlassene sich einer „vollen und
ganzen" Bildung zu erfreuen hätte; Halbbildung ist innerlich unvollendete
Bildung. So giebt es die Etymologie an die Hand: entsteht Bildung durch
innere Verarbeitung und Assimilation, so entsteht Halbbildung da, wo Stoffe
bloß äußerlich aufgenommen werden. Ins Gedächtnis gepackt, liegen sie wie
fremde Körper in der Seele, hemmen die natürliche Entwicklung und verzerren
und verunstalten die geistige Bildung.

Eine solche Bildung ist nun allerdings ein Unglück. Ist ihre Erwerbung
eine Plage, so ist ihr Besitz ein Unsegen. Halbbildung macht eitel und ge¬
fallsüchtig. Wie aller Putz zur Schaustellung drängt, so auch jener Bildungs¬
flitter; er hat ja keinen Wert, wenn ihn niemand sieht. Halbbildung macht
hochmütig und herrisch. Da sie keinen innern Wert hat, so sieht man um
so mehr auf änßere Anerkennung des Vorzugs und verachtet die andern, die
keine „Vilduug" haben. Halbbildung macht unduldsam und brutal. Seiner
selbst nicht sicher, kann man andre Art nicht gelten lassen, sondern empfindet
sie als ein Attentat auf die eigue „Bildung." Der Halbgebildete ist überall
daran zu erkennen, daß er alles, was nicht den gleichen Fabrikstempel trügt,
schmäht und verfolgt. Daher seine angeborne Feindschaft gegen alles Aus-
gezeichnete und Eigentümliche; Originalität ist ihm Insolenz. Endlich macht
Halbbildung unzufrieden und unglücklich. Wie könnte auch einem Wesen, das
so zu sich selbst und seiner Umgebung steht, wohl in seiner Haut sein?

Wahre Bildung ist von dem allen das Gegenteil. Sie meidet Schein
und Ostentativ», denn sie hat kein Bedürfnis, von den Leuten gesehen zu
werden. Ein gutes Merkmal des wirklich Gebildeten ist, daß er schweigen


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[0475] Bildung Wird hier durch die Natur der Dinge ein falsches Ideal abgehalten, zu¬ viel Schaden anzurichten, so steht es dagegen anders mit den falschen Bildungs¬ bestrebungen der guten Gesellschaft. Ju den höher» Schulen kann man überall sehen, wie junge Leute beider Geschlechter jahrelang zum Lernen von Dingen angehalten werden, für die sie weder Neigung noch Begabung haben. Die Folge ist jene Erscheinung, die neuerdings den Beobachtern unsers Lebens so viel zu schaffen macht: die Halbbildung. Halbbildung, so werden wir sagen, ist eben das, was der gemeine Sprachgebrauch Bildung nennt: das „alles gehabt haben" und „von allem mitreden können." Sie entsteht überall da, wo ohne Rücksicht auf die Naturanlage „Rilduugsstoffe" aufgenötigt werden, die zu assimiliren die Natur sich weigert. Halbbildung ist nicht die Wirkung einer bestimmte» Schulart, etwa der Realschule, wie man gemeint hat, auch nicht el»es nur zur Hälfte absvlvirten Schulkursus, wie andre meinen, sodaß jemand, der aus der Tertia abginge, sein Leben lang als Halbgebildeter herumlaufen müßte, während der mit dem Reifezeugnis entlassene sich einer „vollen und ganzen" Bildung zu erfreuen hätte; Halbbildung ist innerlich unvollendete Bildung. So giebt es die Etymologie an die Hand: entsteht Bildung durch innere Verarbeitung und Assimilation, so entsteht Halbbildung da, wo Stoffe bloß äußerlich aufgenommen werden. Ins Gedächtnis gepackt, liegen sie wie fremde Körper in der Seele, hemmen die natürliche Entwicklung und verzerren und verunstalten die geistige Bildung. Eine solche Bildung ist nun allerdings ein Unglück. Ist ihre Erwerbung eine Plage, so ist ihr Besitz ein Unsegen. Halbbildung macht eitel und ge¬ fallsüchtig. Wie aller Putz zur Schaustellung drängt, so auch jener Bildungs¬ flitter; er hat ja keinen Wert, wenn ihn niemand sieht. Halbbildung macht hochmütig und herrisch. Da sie keinen innern Wert hat, so sieht man um so mehr auf änßere Anerkennung des Vorzugs und verachtet die andern, die keine „Vilduug" haben. Halbbildung macht unduldsam und brutal. Seiner selbst nicht sicher, kann man andre Art nicht gelten lassen, sondern empfindet sie als ein Attentat auf die eigue „Bildung." Der Halbgebildete ist überall daran zu erkennen, daß er alles, was nicht den gleichen Fabrikstempel trügt, schmäht und verfolgt. Daher seine angeborne Feindschaft gegen alles Aus- gezeichnete und Eigentümliche; Originalität ist ihm Insolenz. Endlich macht Halbbildung unzufrieden und unglücklich. Wie könnte auch einem Wesen, das so zu sich selbst und seiner Umgebung steht, wohl in seiner Haut sein? Wahre Bildung ist von dem allen das Gegenteil. Sie meidet Schein und Ostentativ», denn sie hat kein Bedürfnis, von den Leuten gesehen zu werden. Ein gutes Merkmal des wirklich Gebildeten ist, daß er schweigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/475>, abgerufen am 04.07.2024.