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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Schein und Wirklichkeit in der Politik

die vorher ausgeschlossen waren, und es ist keineswegs vorauszusehen, wohin
sie ihre Spitze richten werden. Schon die Aufzählung der Häfen, die die
Fama für die russische Flotte als Station bestimmt, zeigt das deutlich:
Nillefranche, Ajaccio, Navarin, Milos, Paros. Die erstgenannten würden
eine Bedrohung Italiens bedeuten, Navarin müßte Österreich beunruhigen,
Paros wie Milos blickt nach den Dardanellen und nach Ägypten hin. Jede
dieser Vermutungen aber läßt sich mit einem ganzen Arsenal von Gründen
verteidigen.

Das zweite ist die hohe politische Erregung, die der russische Taumel in ganz
Frankreich hervorgerufen hat, deren Wogen sich noch keineswegs gelegt haben,
und die bei der Natur der Franzosen gleichfalls als im höchste" Grade ge¬
fährlich bezeichnet werden muß. Die unsichere Mehrheit, über die das Mi¬
nisterium Dupuh in der Kammer gebietet, wird eine besonnene und folgerich¬
tige Politik immer schwieriger machen, und es ist zu befürchten, daß die radikal¬
sozialistische Opposition das Heft in die Hände bekommt/')

Als dritte Beunruhigung ist wider alles Erwarten die marokkanische Frage
wieder in den Vordergrund getreten, und gerade weil Spanien weder finanziell
noch militärisch stark genug ist, seine Forderungen mit raschen und energischen
Schlägen durchzusetzen, wird die ganze Reihe der an diesem sehr wichtigen
Problem interessirten Mächte mit ins Feld gerufen. Die Angriffsstellung, die
Frankreich gegen Tuat eingenommen hatte und die jetzt gegen das nord¬
östliche Marokko gerichtet worden ist, und die Zusammenziehung der eng¬
lischen, französischen und spanischen Flotten in der Nähe Marokkos machen
durchaus den Eindruck, als sei jede dieser Mächte nötigen Falls zum Sprunge
bereit. Es geschieht zwar alles mögliche, um die Gegensätze in Marokko aus¬
zugleichen, England wünscht ohne Zweifel die Erhaltung des Friedens, und
auch der Sultan von Marokko wird, was an ihm liegt, thun, um eine Form
zu finden, durch die er den Spaniern die verlangte Genugthuung gewährt,
ohne sich selbst allzusehr dabei zu schädigen. Aber der erste Versuch, den
er durch Entsendung seines Bruders nach Mellita gemacht hat, ist bereits ge¬
scheitert, und General Maeias hat zur Zeit alle Verhandlungen abgebrochen,
sodaß der Krieg mit größerer Heftigkeit als vorher wieder entbrannt ist.

Die Gefahr der Lage rührt daher, daß weder Spanien noch Frankreich
daran glaubt, daß England einmal wirklich Ernst machen könnte. Mau ist
so sehr daran gewöhnt, daß England vor jedem entschlossenen Willen zurück¬
weicht, daß in der sichern Erwartung, es werde das auch diesmal der Fall sein,
leicht Schritte von Frankreich und Spanien geschehen könnten, die doch über
das Maß dessen Hinausgehen, was sich die englische Nation selbst unter einem



^) Eine Mutimmung, die inzwischen insoweit Wirklichkeit geworden ist, mis Radikale
und Sozicilislen dus Minislcruim soeben gestürzt puter.
Schein und Wirklichkeit in der Politik

die vorher ausgeschlossen waren, und es ist keineswegs vorauszusehen, wohin
sie ihre Spitze richten werden. Schon die Aufzählung der Häfen, die die
Fama für die russische Flotte als Station bestimmt, zeigt das deutlich:
Nillefranche, Ajaccio, Navarin, Milos, Paros. Die erstgenannten würden
eine Bedrohung Italiens bedeuten, Navarin müßte Österreich beunruhigen,
Paros wie Milos blickt nach den Dardanellen und nach Ägypten hin. Jede
dieser Vermutungen aber läßt sich mit einem ganzen Arsenal von Gründen
verteidigen.

Das zweite ist die hohe politische Erregung, die der russische Taumel in ganz
Frankreich hervorgerufen hat, deren Wogen sich noch keineswegs gelegt haben,
und die bei der Natur der Franzosen gleichfalls als im höchste» Grade ge¬
fährlich bezeichnet werden muß. Die unsichere Mehrheit, über die das Mi¬
nisterium Dupuh in der Kammer gebietet, wird eine besonnene und folgerich¬
tige Politik immer schwieriger machen, und es ist zu befürchten, daß die radikal¬
sozialistische Opposition das Heft in die Hände bekommt/')

Als dritte Beunruhigung ist wider alles Erwarten die marokkanische Frage
wieder in den Vordergrund getreten, und gerade weil Spanien weder finanziell
noch militärisch stark genug ist, seine Forderungen mit raschen und energischen
Schlägen durchzusetzen, wird die ganze Reihe der an diesem sehr wichtigen
Problem interessirten Mächte mit ins Feld gerufen. Die Angriffsstellung, die
Frankreich gegen Tuat eingenommen hatte und die jetzt gegen das nord¬
östliche Marokko gerichtet worden ist, und die Zusammenziehung der eng¬
lischen, französischen und spanischen Flotten in der Nähe Marokkos machen
durchaus den Eindruck, als sei jede dieser Mächte nötigen Falls zum Sprunge
bereit. Es geschieht zwar alles mögliche, um die Gegensätze in Marokko aus¬
zugleichen, England wünscht ohne Zweifel die Erhaltung des Friedens, und
auch der Sultan von Marokko wird, was an ihm liegt, thun, um eine Form
zu finden, durch die er den Spaniern die verlangte Genugthuung gewährt,
ohne sich selbst allzusehr dabei zu schädigen. Aber der erste Versuch, den
er durch Entsendung seines Bruders nach Mellita gemacht hat, ist bereits ge¬
scheitert, und General Maeias hat zur Zeit alle Verhandlungen abgebrochen,
sodaß der Krieg mit größerer Heftigkeit als vorher wieder entbrannt ist.

Die Gefahr der Lage rührt daher, daß weder Spanien noch Frankreich
daran glaubt, daß England einmal wirklich Ernst machen könnte. Mau ist
so sehr daran gewöhnt, daß England vor jedem entschlossenen Willen zurück¬
weicht, daß in der sichern Erwartung, es werde das auch diesmal der Fall sein,
leicht Schritte von Frankreich und Spanien geschehen könnten, die doch über
das Maß dessen Hinausgehen, was sich die englische Nation selbst unter einem



^) Eine Mutimmung, die inzwischen insoweit Wirklichkeit geworden ist, mis Radikale
und Sozicilislen dus Minislcruim soeben gestürzt puter.
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[0458] Schein und Wirklichkeit in der Politik die vorher ausgeschlossen waren, und es ist keineswegs vorauszusehen, wohin sie ihre Spitze richten werden. Schon die Aufzählung der Häfen, die die Fama für die russische Flotte als Station bestimmt, zeigt das deutlich: Nillefranche, Ajaccio, Navarin, Milos, Paros. Die erstgenannten würden eine Bedrohung Italiens bedeuten, Navarin müßte Österreich beunruhigen, Paros wie Milos blickt nach den Dardanellen und nach Ägypten hin. Jede dieser Vermutungen aber läßt sich mit einem ganzen Arsenal von Gründen verteidigen. Das zweite ist die hohe politische Erregung, die der russische Taumel in ganz Frankreich hervorgerufen hat, deren Wogen sich noch keineswegs gelegt haben, und die bei der Natur der Franzosen gleichfalls als im höchste» Grade ge¬ fährlich bezeichnet werden muß. Die unsichere Mehrheit, über die das Mi¬ nisterium Dupuh in der Kammer gebietet, wird eine besonnene und folgerich¬ tige Politik immer schwieriger machen, und es ist zu befürchten, daß die radikal¬ sozialistische Opposition das Heft in die Hände bekommt/') Als dritte Beunruhigung ist wider alles Erwarten die marokkanische Frage wieder in den Vordergrund getreten, und gerade weil Spanien weder finanziell noch militärisch stark genug ist, seine Forderungen mit raschen und energischen Schlägen durchzusetzen, wird die ganze Reihe der an diesem sehr wichtigen Problem interessirten Mächte mit ins Feld gerufen. Die Angriffsstellung, die Frankreich gegen Tuat eingenommen hatte und die jetzt gegen das nord¬ östliche Marokko gerichtet worden ist, und die Zusammenziehung der eng¬ lischen, französischen und spanischen Flotten in der Nähe Marokkos machen durchaus den Eindruck, als sei jede dieser Mächte nötigen Falls zum Sprunge bereit. Es geschieht zwar alles mögliche, um die Gegensätze in Marokko aus¬ zugleichen, England wünscht ohne Zweifel die Erhaltung des Friedens, und auch der Sultan von Marokko wird, was an ihm liegt, thun, um eine Form zu finden, durch die er den Spaniern die verlangte Genugthuung gewährt, ohne sich selbst allzusehr dabei zu schädigen. Aber der erste Versuch, den er durch Entsendung seines Bruders nach Mellita gemacht hat, ist bereits ge¬ scheitert, und General Maeias hat zur Zeit alle Verhandlungen abgebrochen, sodaß der Krieg mit größerer Heftigkeit als vorher wieder entbrannt ist. Die Gefahr der Lage rührt daher, daß weder Spanien noch Frankreich daran glaubt, daß England einmal wirklich Ernst machen könnte. Mau ist so sehr daran gewöhnt, daß England vor jedem entschlossenen Willen zurück¬ weicht, daß in der sichern Erwartung, es werde das auch diesmal der Fall sein, leicht Schritte von Frankreich und Spanien geschehen könnten, die doch über das Maß dessen Hinausgehen, was sich die englische Nation selbst unter einem ^) Eine Mutimmung, die inzwischen insoweit Wirklichkeit geworden ist, mis Radikale und Sozicilislen dus Minislcruim soeben gestürzt puter.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/458>, abgerufen am 24.08.2024.