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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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schein und Wirklichkeit in der Politik

Wßir sind es nun schon lange gewöhnt, daß, wenn einer von den
Monarchen Europas Anlaß hat, sich öffentlich über die Gesamt¬
lage auszusprechen, uns die erfreuliche Versicherung wird, daß
alles zum Besten stehe, die Beziehungen von Staat zu Staat
die herzlichste,? seien und keinerlei Grund vorliege, an der Fort¬
dauer des von allen Teilen erstrebten Friedens zu zweifeln. Auch die jüngste
Thronrede bei der Eröffnung des Reichstags hat uus diese Versicherungen
gebracht, und obgleich wohl niemand in Europa in Wirklichkeit daran glaubt,
daß uns damit eine Charakteristik der thatsächlich bestehenden internationalen
Beziehungen geboten werde, ist doch nicht zu bezweifeln, daß jede Abweichung
von der hergebrachten Formel überall die größte Beunruhigung hervorrufen
würde. Es kann aber, wenn wir nicht unmittelbar vor dem Ausbruch eines
Kriegs stehen, überhaupt nicht anders geredet werden. Das ergiebt freilich,
daß solchen Kundgebungen keinerlei Bedeutung beizulegen ist. Sie beweisen
lediglich, daß die latente Krisis im Augenblick nicht akut ist und sich voraus¬
sichtlich noch einige Zeit in jener Gleichgewichtslage behaupten wird, die eine
Katastrophe verhütet.

Wer dagegen der politischen Lage, wie sie wirklich ist, entschlossen ins Auge
sieht, kann sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß der Friede heute weit
weniger sicher begründet ist, als noch vor wenigen Monaten. Uns scheint
seine Geführdung auf folgenden Umstanden zu beruhen. Erstens auf dem prak¬
tisch gewordnen Zusammenwirken russisch-französischer Streitlrüfte, wie sie in¬
folge der Begründung eines russischen Mittelmeergeschwaders Thatsache ge¬
worden ist. Das ist ein Novum in der allgemeinen Lage und in seinen
Folgen unberechenbar. Es können über Nacht politische Überraschungen kommen,


Grenzboten IV 189Z 57


schein und Wirklichkeit in der Politik

Wßir sind es nun schon lange gewöhnt, daß, wenn einer von den
Monarchen Europas Anlaß hat, sich öffentlich über die Gesamt¬
lage auszusprechen, uns die erfreuliche Versicherung wird, daß
alles zum Besten stehe, die Beziehungen von Staat zu Staat
die herzlichste,? seien und keinerlei Grund vorliege, an der Fort¬
dauer des von allen Teilen erstrebten Friedens zu zweifeln. Auch die jüngste
Thronrede bei der Eröffnung des Reichstags hat uus diese Versicherungen
gebracht, und obgleich wohl niemand in Europa in Wirklichkeit daran glaubt,
daß uns damit eine Charakteristik der thatsächlich bestehenden internationalen
Beziehungen geboten werde, ist doch nicht zu bezweifeln, daß jede Abweichung
von der hergebrachten Formel überall die größte Beunruhigung hervorrufen
würde. Es kann aber, wenn wir nicht unmittelbar vor dem Ausbruch eines
Kriegs stehen, überhaupt nicht anders geredet werden. Das ergiebt freilich,
daß solchen Kundgebungen keinerlei Bedeutung beizulegen ist. Sie beweisen
lediglich, daß die latente Krisis im Augenblick nicht akut ist und sich voraus¬
sichtlich noch einige Zeit in jener Gleichgewichtslage behaupten wird, die eine
Katastrophe verhütet.

Wer dagegen der politischen Lage, wie sie wirklich ist, entschlossen ins Auge
sieht, kann sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß der Friede heute weit
weniger sicher begründet ist, als noch vor wenigen Monaten. Uns scheint
seine Geführdung auf folgenden Umstanden zu beruhen. Erstens auf dem prak¬
tisch gewordnen Zusammenwirken russisch-französischer Streitlrüfte, wie sie in¬
folge der Begründung eines russischen Mittelmeergeschwaders Thatsache ge¬
worden ist. Das ist ein Novum in der allgemeinen Lage und in seinen
Folgen unberechenbar. Es können über Nacht politische Überraschungen kommen,


Grenzboten IV 189Z 57
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[0457] [Abbildung] schein und Wirklichkeit in der Politik Wßir sind es nun schon lange gewöhnt, daß, wenn einer von den Monarchen Europas Anlaß hat, sich öffentlich über die Gesamt¬ lage auszusprechen, uns die erfreuliche Versicherung wird, daß alles zum Besten stehe, die Beziehungen von Staat zu Staat die herzlichste,? seien und keinerlei Grund vorliege, an der Fort¬ dauer des von allen Teilen erstrebten Friedens zu zweifeln. Auch die jüngste Thronrede bei der Eröffnung des Reichstags hat uus diese Versicherungen gebracht, und obgleich wohl niemand in Europa in Wirklichkeit daran glaubt, daß uns damit eine Charakteristik der thatsächlich bestehenden internationalen Beziehungen geboten werde, ist doch nicht zu bezweifeln, daß jede Abweichung von der hergebrachten Formel überall die größte Beunruhigung hervorrufen würde. Es kann aber, wenn wir nicht unmittelbar vor dem Ausbruch eines Kriegs stehen, überhaupt nicht anders geredet werden. Das ergiebt freilich, daß solchen Kundgebungen keinerlei Bedeutung beizulegen ist. Sie beweisen lediglich, daß die latente Krisis im Augenblick nicht akut ist und sich voraus¬ sichtlich noch einige Zeit in jener Gleichgewichtslage behaupten wird, die eine Katastrophe verhütet. Wer dagegen der politischen Lage, wie sie wirklich ist, entschlossen ins Auge sieht, kann sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß der Friede heute weit weniger sicher begründet ist, als noch vor wenigen Monaten. Uns scheint seine Geführdung auf folgenden Umstanden zu beruhen. Erstens auf dem prak¬ tisch gewordnen Zusammenwirken russisch-französischer Streitlrüfte, wie sie in¬ folge der Begründung eines russischen Mittelmeergeschwaders Thatsache ge¬ worden ist. Das ist ein Novum in der allgemeinen Lage und in seinen Folgen unberechenbar. Es können über Nacht politische Überraschungen kommen, Grenzboten IV 189Z 57

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/457>, abgerufen am 22.07.2024.