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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Die Flüchtlinge

Franz schrieb, daß seine Mutter ihre Zustimmung gegeben habe, und der Brief
endigte mit der Bitte, daß ihm Lucie treu bleiben möchte. Sie war so verstört, das;
die Eltern, die sich ihren Zustand nicht erklären konnten, einen Rückfall in die vor
kurzem überwundne Krankheit befürchteten. Der Arzt, den man kommen liest, be¬
trachtete sie kopfschüttelnd. Lucie liest alles über sich ergehen und nahm gehorsam
die Arznei, die er ihr verordnete, aber das Ganze tum ihr wie eine Komödie vor,
über die man hatte lachen können, wenn es nicht so sehr zum Weinen gewesen
wäre. Als sie daun allein gelassen wurde, flüchtete sie sich in den Garten und
überliefe sich wieder ganz ihrem Schmerz.

Franz hatte ihr nnr kurz geschrieben, aber wie wunderbar klang jedes seiner
Worte! Sie las sie wieder und wieder und sog Seligkeit und Verzweiflung zugleich
aus ihnen. Wie glücklich hätte alles kommen können, und zu welchem Elend hatte es
sich nun gewandt! In dem Briefe hatte Franz ihr einen Ring geschickt. Es war
ein einfacher goldner Reif, aber wie innig drückte sie ihn um die Lippen! Sie
streifte den Verlobungsring vom Finger und steckte den andern an. Das Gold schimmerte
und gleisete, und sie berauschte sich mit sehnsüchtigem Ange an seinem Glanz. Eine
geheime Kraft schien in dem Ringe verborgen zu sein, die sie zugleich beglückte
und mit leidenschaftlichem Schmerz erfüllte.

klang es in ihrem Herzen, und in der Nacht, als sie ruhelos in ihrer Kammer
lag, fragte sie sich voll Jammer immer von neuern Ach Gott, was soll nun
aus mir werden? Ich werde diese Liebe nicht mehr los!

Und doch war diese Liebe Frevel, und sie mußte sie aus ihrem Herzen reisten
und zu vergessen suchen. Ihre Kindespflicht stand ihr klar vor Angen, und sie
suchte in ihrem Seelenkämpfe Kraft ans der Gewißheit zu schöpfen, daß das Opfer
ihres Glücks das Glück der Eltern bedeute. Aber sie fand uicht den Mut, den
entscheidenden Schritt zu thun und Franz zu schreiben. Immer wieder trat das
Bild des Geliebten vor sie, immer wieder gewann es Gewalt über sie, und sie
liest sich wieder von der Erinnerung an die Süßigkeit des Liebesrausches hin¬
reisten, der sie umfangen hatte, sie vermochte nicht dagegen anzukämpfen. ,

Da geschah es, daß ihr an einem der folgenden Tage die alte Frau begegnete,
die einst Zeuge ihrer Liebe gewesen war. Sie wollte schnell vorübergehen, aber
die Frau hielt sie an und drohte ihr mit dem Finger. War das auch ein ehrliches
Spiel? fragte sie.

Diese Frage, die sie zwang, die Augen niederzuschlagen, brachte Lucie endlich
zum Entschluß. Es muß ein Eude gemacht werden, sagte sie. Er muß er¬
fahren, was geschehen ist! Und zu Hause angelangt, feste sie sich anch gleich
zum Schreiben nieder. Zuerst bat sie um Verzeihung und entschuldigte sich
mit äußern Verhältnissen, die oft mächtiger wären als des Menschen Wille und
Wunsch. Zum Schluß aber bat sie, sonderbar genug, er möchte sie auch ferner
lieb behalte". Du wirst mir böse sein, Franz, und mit mir grollen, schrieb sie,
aber dn mußt dich in dein Los finden, wie ich mich in meines gesunde" habe.
Den Ring sende ich dir nicht wieder, du wirst auch wohl kein Verlangen tragen,


Die Flüchtlinge

Franz schrieb, daß seine Mutter ihre Zustimmung gegeben habe, und der Brief
endigte mit der Bitte, daß ihm Lucie treu bleiben möchte. Sie war so verstört, das;
die Eltern, die sich ihren Zustand nicht erklären konnten, einen Rückfall in die vor
kurzem überwundne Krankheit befürchteten. Der Arzt, den man kommen liest, be¬
trachtete sie kopfschüttelnd. Lucie liest alles über sich ergehen und nahm gehorsam
die Arznei, die er ihr verordnete, aber das Ganze tum ihr wie eine Komödie vor,
über die man hatte lachen können, wenn es nicht so sehr zum Weinen gewesen
wäre. Als sie daun allein gelassen wurde, flüchtete sie sich in den Garten und
überliefe sich wieder ganz ihrem Schmerz.

Franz hatte ihr nnr kurz geschrieben, aber wie wunderbar klang jedes seiner
Worte! Sie las sie wieder und wieder und sog Seligkeit und Verzweiflung zugleich
aus ihnen. Wie glücklich hätte alles kommen können, und zu welchem Elend hatte es
sich nun gewandt! In dem Briefe hatte Franz ihr einen Ring geschickt. Es war
ein einfacher goldner Reif, aber wie innig drückte sie ihn um die Lippen! Sie
streifte den Verlobungsring vom Finger und steckte den andern an. Das Gold schimmerte
und gleisete, und sie berauschte sich mit sehnsüchtigem Ange an seinem Glanz. Eine
geheime Kraft schien in dem Ringe verborgen zu sein, die sie zugleich beglückte
und mit leidenschaftlichem Schmerz erfüllte.

klang es in ihrem Herzen, und in der Nacht, als sie ruhelos in ihrer Kammer
lag, fragte sie sich voll Jammer immer von neuern Ach Gott, was soll nun
aus mir werden? Ich werde diese Liebe nicht mehr los!

Und doch war diese Liebe Frevel, und sie mußte sie aus ihrem Herzen reisten
und zu vergessen suchen. Ihre Kindespflicht stand ihr klar vor Angen, und sie
suchte in ihrem Seelenkämpfe Kraft ans der Gewißheit zu schöpfen, daß das Opfer
ihres Glücks das Glück der Eltern bedeute. Aber sie fand uicht den Mut, den
entscheidenden Schritt zu thun und Franz zu schreiben. Immer wieder trat das
Bild des Geliebten vor sie, immer wieder gewann es Gewalt über sie, und sie
liest sich wieder von der Erinnerung an die Süßigkeit des Liebesrausches hin¬
reisten, der sie umfangen hatte, sie vermochte nicht dagegen anzukämpfen. ,

Da geschah es, daß ihr an einem der folgenden Tage die alte Frau begegnete,
die einst Zeuge ihrer Liebe gewesen war. Sie wollte schnell vorübergehen, aber
die Frau hielt sie an und drohte ihr mit dem Finger. War das auch ein ehrliches
Spiel? fragte sie.

Diese Frage, die sie zwang, die Augen niederzuschlagen, brachte Lucie endlich
zum Entschluß. Es muß ein Eude gemacht werden, sagte sie. Er muß er¬
fahren, was geschehen ist! Und zu Hause angelangt, feste sie sich anch gleich
zum Schreiben nieder. Zuerst bat sie um Verzeihung und entschuldigte sich
mit äußern Verhältnissen, die oft mächtiger wären als des Menschen Wille und
Wunsch. Zum Schluß aber bat sie, sonderbar genug, er möchte sie auch ferner
lieb behalte». Du wirst mir böse sein, Franz, und mit mir grollen, schrieb sie,
aber dn mußt dich in dein Los finden, wie ich mich in meines gesunde» habe.
Den Ring sende ich dir nicht wieder, du wirst auch wohl kein Verlangen tragen,


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[0383] Die Flüchtlinge Franz schrieb, daß seine Mutter ihre Zustimmung gegeben habe, und der Brief endigte mit der Bitte, daß ihm Lucie treu bleiben möchte. Sie war so verstört, das; die Eltern, die sich ihren Zustand nicht erklären konnten, einen Rückfall in die vor kurzem überwundne Krankheit befürchteten. Der Arzt, den man kommen liest, be¬ trachtete sie kopfschüttelnd. Lucie liest alles über sich ergehen und nahm gehorsam die Arznei, die er ihr verordnete, aber das Ganze tum ihr wie eine Komödie vor, über die man hatte lachen können, wenn es nicht so sehr zum Weinen gewesen wäre. Als sie daun allein gelassen wurde, flüchtete sie sich in den Garten und überliefe sich wieder ganz ihrem Schmerz. Franz hatte ihr nnr kurz geschrieben, aber wie wunderbar klang jedes seiner Worte! Sie las sie wieder und wieder und sog Seligkeit und Verzweiflung zugleich aus ihnen. Wie glücklich hätte alles kommen können, und zu welchem Elend hatte es sich nun gewandt! In dem Briefe hatte Franz ihr einen Ring geschickt. Es war ein einfacher goldner Reif, aber wie innig drückte sie ihn um die Lippen! Sie streifte den Verlobungsring vom Finger und steckte den andern an. Das Gold schimmerte und gleisete, und sie berauschte sich mit sehnsüchtigem Ange an seinem Glanz. Eine geheime Kraft schien in dem Ringe verborgen zu sein, die sie zugleich beglückte und mit leidenschaftlichem Schmerz erfüllte. klang es in ihrem Herzen, und in der Nacht, als sie ruhelos in ihrer Kammer lag, fragte sie sich voll Jammer immer von neuern Ach Gott, was soll nun aus mir werden? Ich werde diese Liebe nicht mehr los! Und doch war diese Liebe Frevel, und sie mußte sie aus ihrem Herzen reisten und zu vergessen suchen. Ihre Kindespflicht stand ihr klar vor Angen, und sie suchte in ihrem Seelenkämpfe Kraft ans der Gewißheit zu schöpfen, daß das Opfer ihres Glücks das Glück der Eltern bedeute. Aber sie fand uicht den Mut, den entscheidenden Schritt zu thun und Franz zu schreiben. Immer wieder trat das Bild des Geliebten vor sie, immer wieder gewann es Gewalt über sie, und sie liest sich wieder von der Erinnerung an die Süßigkeit des Liebesrausches hin¬ reisten, der sie umfangen hatte, sie vermochte nicht dagegen anzukämpfen. , Da geschah es, daß ihr an einem der folgenden Tage die alte Frau begegnete, die einst Zeuge ihrer Liebe gewesen war. Sie wollte schnell vorübergehen, aber die Frau hielt sie an und drohte ihr mit dem Finger. War das auch ein ehrliches Spiel? fragte sie. Diese Frage, die sie zwang, die Augen niederzuschlagen, brachte Lucie endlich zum Entschluß. Es muß ein Eude gemacht werden, sagte sie. Er muß er¬ fahren, was geschehen ist! Und zu Hause angelangt, feste sie sich anch gleich zum Schreiben nieder. Zuerst bat sie um Verzeihung und entschuldigte sich mit äußern Verhältnissen, die oft mächtiger wären als des Menschen Wille und Wunsch. Zum Schluß aber bat sie, sonderbar genug, er möchte sie auch ferner lieb behalte». Du wirst mir böse sein, Franz, und mit mir grollen, schrieb sie, aber dn mußt dich in dein Los finden, wie ich mich in meines gesunde» habe. Den Ring sende ich dir nicht wieder, du wirst auch wohl kein Verlangen tragen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/383>, abgerufen am 22.07.2024.