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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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greifbare parlamentarische Stellung verschafft hätte: Reform des Militärstraf-
prozesses. War doch seit 1870 keine Session vergangen, ohne daß aus der
Mitte des Reichstags darauf gedrungen worden wäre, diese Reform endlich in An¬
griff zu Nehmen, hatte sich doch erst in der Sitzung vom 17. Februar 1892 der
Reichstag mit dreifüuftel Mehrheit in einer Resolution zu Gunsten der Ständig¬
keit und Selbständigkeit der Militärgerichte sowie der Öffentlichkeit und Münd¬
lichkeit des Hnuptverfahreus ausgesprochen, und war doch auch vom Negiernngs-
tisch die Notwendigkeit der Reform selbst niemals bestritten worden. Dazu kam
die Aufregung weiter Volksschichten über die in wachsender Zahl bekannt ge-
wordnen Svldateiimißhaudlungen, die man nur zu geneigt war mit Mängeln
des Strafverfahrens in Verbindung zu bringen, auch in loyal denkenden Kreisen
glaubte man in dem Widerstande gegen die Reform ein Zeichen des sonst nicht
recht greifbaren "Militarismus" zu erkennen, kurz, der Druck der öffentlichen
Meinung war gerade um jene Zeit so stark, daß es die Neichsregierung einer
geschlossenen und sonst zur Bewilligung der Vorlage entschlossenen Mehrheit
gar nicht hätte verweigern können, mindestens bindende, in bestimmter Frist
auch einzulösende Zusagen wegen Vorlegung einer neuen Militärstmfprvzeß-
vrdnuug zu geben- Die Gelegenheit ist versäumt wurden und wird sobald
nicht wiederkehren Mau darf daher heute nur von der Einsicht der Reichs-
regiernng selbst hoffen, daß sie sich aus eigner Bewegung zur endlichen Lösung
einer Aufgabe entschließen werde, die schlechterdings nicht länger aufgeschoben
werden darf. Ihr freiwilliges Borgehen würde zugleich den Vorteil haben,
so gut es bei einer für ein militärisches Volk so hochpolitischen Frage möglich
ist, einer sachlichen und leidenschaftslosen Behandlung die Wege zu ebnen. Ein
uns vorliegendes Buch*) scheint uns besonders geeignet, hierzu Brücken schlagen
zu helfen.

Die erste und wichtigste Bedingung für jeden, der sich über die Grund-
züge einer Reform des Militürstmfprozesses ein Urteil bilden will, ist doch wohl
eine genaue Bekanntschaft mit dem gegenwärtig in Deutschland geltenden
Verfahren, also mit dem preußischen und dem bairischen Prozeß. Der von
beiden abweichende württembergische kommt wegen der Kleinheit des Nechts-
gebiets und da er der älteste von allen ist, nicht in Betracht. Dn sich ferner der
Militärstrafprozeß der Natur der Sache nach in möglichster Übereinstimmung mit
den Formen des bürgerlichen Strafverfahrens zu halten hat, soweit nicht diese
Formen selbst schon als reformbedürftig erkannt sind, und soweit nicht die mi¬
litärische Eigentümlichkeit Abweichungen fordert, so ist auch die Bekanntschaft mit
dem bürgerlichen Recht, mit der auf diesem Gebiete in Fluß befindliche" Reform¬
bewegung und nicht am wenigsten mit den militärischen Dienstverhältnissen



*) Der Militärstrafprozeß in Deutschland und seine Reform. Von Dr. ,1>U'.
vou.M-.rak. Erste Hälfte. Berlin, R. v. Denkers Verlag, 1893. (416 S.)

greifbare parlamentarische Stellung verschafft hätte: Reform des Militärstraf-
prozesses. War doch seit 1870 keine Session vergangen, ohne daß aus der
Mitte des Reichstags darauf gedrungen worden wäre, diese Reform endlich in An¬
griff zu Nehmen, hatte sich doch erst in der Sitzung vom 17. Februar 1892 der
Reichstag mit dreifüuftel Mehrheit in einer Resolution zu Gunsten der Ständig¬
keit und Selbständigkeit der Militärgerichte sowie der Öffentlichkeit und Münd¬
lichkeit des Hnuptverfahreus ausgesprochen, und war doch auch vom Negiernngs-
tisch die Notwendigkeit der Reform selbst niemals bestritten worden. Dazu kam
die Aufregung weiter Volksschichten über die in wachsender Zahl bekannt ge-
wordnen Svldateiimißhaudlungen, die man nur zu geneigt war mit Mängeln
des Strafverfahrens in Verbindung zu bringen, auch in loyal denkenden Kreisen
glaubte man in dem Widerstande gegen die Reform ein Zeichen des sonst nicht
recht greifbaren „Militarismus" zu erkennen, kurz, der Druck der öffentlichen
Meinung war gerade um jene Zeit so stark, daß es die Neichsregierung einer
geschlossenen und sonst zur Bewilligung der Vorlage entschlossenen Mehrheit
gar nicht hätte verweigern können, mindestens bindende, in bestimmter Frist
auch einzulösende Zusagen wegen Vorlegung einer neuen Militärstmfprvzeß-
vrdnuug zu geben- Die Gelegenheit ist versäumt wurden und wird sobald
nicht wiederkehren Mau darf daher heute nur von der Einsicht der Reichs-
regiernng selbst hoffen, daß sie sich aus eigner Bewegung zur endlichen Lösung
einer Aufgabe entschließen werde, die schlechterdings nicht länger aufgeschoben
werden darf. Ihr freiwilliges Borgehen würde zugleich den Vorteil haben,
so gut es bei einer für ein militärisches Volk so hochpolitischen Frage möglich
ist, einer sachlichen und leidenschaftslosen Behandlung die Wege zu ebnen. Ein
uns vorliegendes Buch*) scheint uns besonders geeignet, hierzu Brücken schlagen
zu helfen.

Die erste und wichtigste Bedingung für jeden, der sich über die Grund-
züge einer Reform des Militürstmfprozesses ein Urteil bilden will, ist doch wohl
eine genaue Bekanntschaft mit dem gegenwärtig in Deutschland geltenden
Verfahren, also mit dem preußischen und dem bairischen Prozeß. Der von
beiden abweichende württembergische kommt wegen der Kleinheit des Nechts-
gebiets und da er der älteste von allen ist, nicht in Betracht. Dn sich ferner der
Militärstrafprozeß der Natur der Sache nach in möglichster Übereinstimmung mit
den Formen des bürgerlichen Strafverfahrens zu halten hat, soweit nicht diese
Formen selbst schon als reformbedürftig erkannt sind, und soweit nicht die mi¬
litärische Eigentümlichkeit Abweichungen fordert, so ist auch die Bekanntschaft mit
dem bürgerlichen Recht, mit der auf diesem Gebiete in Fluß befindliche» Reform¬
bewegung und nicht am wenigsten mit den militärischen Dienstverhältnissen



*) Der Militärstrafprozeß in Deutschland und seine Reform. Von Dr. ,1>U'.
vou.M-.rak. Erste Hälfte. Berlin, R. v. Denkers Verlag, 1893. (416 S.)
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/370>, abgerufen am 22.07.2024.