Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Suggestionen in der Politik

Grund haben, über ihr Los zu klagen, oder nicht. Nur wer wenig von der
Geschichte kennt, kann darüber erschrecken, daß die sozialdemokratische Partei
so großen Zuzug aus Verufskreisen erhält, die nach dem heutigen Sprach¬
gebrauch gar nicht zu deu arbeitenden Klassen gerechnet werden dürfen. Man
braucht sich nur an die unter dem Namen des Bauernkrieges bekannte erste
große Erhebung der untern Stände in Deutschland zu erinnern, wo gewerb-
fleißige Städte, die unter dem Drucke kleiner Herren, geistlicher oder weltlicher
Fürsten oder bürgerlicher Geschlechter litten, ihre Thore dem Bnudschuh
öffneten, Ritterbürtige wie Berlichingen und Florian Geyer, sich an die Spitze
der bewaffneten Bauern stellten. Die forderten, was heute als Menschenrechte
allgemein anerkannt ist, und kein Vernünftiger und Billigdenkender verkennt
heute das Berechtigte in den Forderungen der Sozialdemokratie. Von deren
Führern wird es zum großen Teil abhängen, ob abermals mit dem Über¬
triebnen oder Sinnlosen auch das Gerechte und Mögliche nicht zur Ausfüh¬
rung kommen soll. Für eins siud wir ihnen unter allen Umständen zu
Danke verpflichtet, nämlich für die immer wiederholte unumwundne Erklärung,
nicht ruhen zu wollen, bis sie die Mehrheit in der Vertretung haben, um dann
die Minderheit, oder vielmehr die Minderheiten, unter das Joch der Massen¬
herrschaft zu zwingen. Damit üben sie eine unschätzbare Kritik an dem Prinzip
des auf allgemeines gleiches Wahlrecht aufgebauten Parlamentarismus, eine
Kritik, zu der allerdings auch andre, aber meist im stillen, gelangt sind.
"

Denn der "wunderliche Freund in Heft 25 der Grenzboten hat ohne
Zweifel zahllose Gesinnungsgenossen, die viel größern Anspruch auf die Be¬
zeichnung "wunderlich" haben als er. Sie sind stillschweigend übereingekommen,
ihre wahre Meinung nicht auszusprechen, ja ausdrücklich zu verleugnen, und
dies lediglich wegen eines Aberglaubens. Staatsmänner, die es liebten, ihre
Reden mit passenden Anekdoten zu würzen, wie Abraham Lincoln und Franz
Deal, würden für den Fall vielleicht folgendes Beispiel gewählt haben. Einem
Manne, der sich über ein gewisses Unbehagen beklagte, wurde von einem an¬
dern als Radikal- und Universalmittel der Genuß eines großen Glases Wach-
holderbrcmntwein vor dem Frühstück anempfohlen. Er genoß die Arznei ge¬
wissenhaft, glaubte anfangs auch gute Wirkung zu verspüren, doch nach kurzer
Zeit stellten sich allerlei Übel ein, die nicht nur lästiger, sondern auch gefähr¬
licher waren als das frühere. Sagte man ihm nun: die Kur mag für jenen
Passen, obgleich auch er trotz aller Pausbackigkeit nicht deu Eindruck eines ge¬
sunden Menschen macht, für deine Natur ist sie augenscheinlich nicht geeignet,
gieb sie auf, so gab er zur Antwort, das würde inkonsequent sein, sich nicht
schicken; was man angefangen habe, müsse man auch durchführen, möge
daraus werden, was da wolle. Was daraus wurde, braucht nicht be¬
richtet zu werden.

So sagen die Wunderlichen: Es ist richtig, daß verschiedne von den


Suggestionen in der Politik

Grund haben, über ihr Los zu klagen, oder nicht. Nur wer wenig von der
Geschichte kennt, kann darüber erschrecken, daß die sozialdemokratische Partei
so großen Zuzug aus Verufskreisen erhält, die nach dem heutigen Sprach¬
gebrauch gar nicht zu deu arbeitenden Klassen gerechnet werden dürfen. Man
braucht sich nur an die unter dem Namen des Bauernkrieges bekannte erste
große Erhebung der untern Stände in Deutschland zu erinnern, wo gewerb-
fleißige Städte, die unter dem Drucke kleiner Herren, geistlicher oder weltlicher
Fürsten oder bürgerlicher Geschlechter litten, ihre Thore dem Bnudschuh
öffneten, Ritterbürtige wie Berlichingen und Florian Geyer, sich an die Spitze
der bewaffneten Bauern stellten. Die forderten, was heute als Menschenrechte
allgemein anerkannt ist, und kein Vernünftiger und Billigdenkender verkennt
heute das Berechtigte in den Forderungen der Sozialdemokratie. Von deren
Führern wird es zum großen Teil abhängen, ob abermals mit dem Über¬
triebnen oder Sinnlosen auch das Gerechte und Mögliche nicht zur Ausfüh¬
rung kommen soll. Für eins siud wir ihnen unter allen Umständen zu
Danke verpflichtet, nämlich für die immer wiederholte unumwundne Erklärung,
nicht ruhen zu wollen, bis sie die Mehrheit in der Vertretung haben, um dann
die Minderheit, oder vielmehr die Minderheiten, unter das Joch der Massen¬
herrschaft zu zwingen. Damit üben sie eine unschätzbare Kritik an dem Prinzip
des auf allgemeines gleiches Wahlrecht aufgebauten Parlamentarismus, eine
Kritik, zu der allerdings auch andre, aber meist im stillen, gelangt sind.
"

Denn der „wunderliche Freund in Heft 25 der Grenzboten hat ohne
Zweifel zahllose Gesinnungsgenossen, die viel größern Anspruch auf die Be¬
zeichnung „wunderlich" haben als er. Sie sind stillschweigend übereingekommen,
ihre wahre Meinung nicht auszusprechen, ja ausdrücklich zu verleugnen, und
dies lediglich wegen eines Aberglaubens. Staatsmänner, die es liebten, ihre
Reden mit passenden Anekdoten zu würzen, wie Abraham Lincoln und Franz
Deal, würden für den Fall vielleicht folgendes Beispiel gewählt haben. Einem
Manne, der sich über ein gewisses Unbehagen beklagte, wurde von einem an¬
dern als Radikal- und Universalmittel der Genuß eines großen Glases Wach-
holderbrcmntwein vor dem Frühstück anempfohlen. Er genoß die Arznei ge¬
wissenhaft, glaubte anfangs auch gute Wirkung zu verspüren, doch nach kurzer
Zeit stellten sich allerlei Übel ein, die nicht nur lästiger, sondern auch gefähr¬
licher waren als das frühere. Sagte man ihm nun: die Kur mag für jenen
Passen, obgleich auch er trotz aller Pausbackigkeit nicht deu Eindruck eines ge¬
sunden Menschen macht, für deine Natur ist sie augenscheinlich nicht geeignet,
gieb sie auf, so gab er zur Antwort, das würde inkonsequent sein, sich nicht
schicken; was man angefangen habe, müsse man auch durchführen, möge
daraus werden, was da wolle. Was daraus wurde, braucht nicht be¬
richtet zu werden.

So sagen die Wunderlichen: Es ist richtig, daß verschiedne von den


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0335" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/216059"/>
          <fw type="header" place="top"> Suggestionen in der Politik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1094" prev="#ID_1093"> Grund haben, über ihr Los zu klagen, oder nicht. Nur wer wenig von der<lb/>
Geschichte kennt, kann darüber erschrecken, daß die sozialdemokratische Partei<lb/>
so großen Zuzug aus Verufskreisen erhält, die nach dem heutigen Sprach¬<lb/>
gebrauch gar nicht zu deu arbeitenden Klassen gerechnet werden dürfen. Man<lb/>
braucht sich nur an die unter dem Namen des Bauernkrieges bekannte erste<lb/>
große Erhebung der untern Stände in Deutschland zu erinnern, wo gewerb-<lb/>
fleißige Städte, die unter dem Drucke kleiner Herren, geistlicher oder weltlicher<lb/>
Fürsten oder bürgerlicher Geschlechter litten, ihre Thore dem Bnudschuh<lb/>
öffneten, Ritterbürtige wie Berlichingen und Florian Geyer, sich an die Spitze<lb/>
der bewaffneten Bauern stellten. Die forderten, was heute als Menschenrechte<lb/>
allgemein anerkannt ist, und kein Vernünftiger und Billigdenkender verkennt<lb/>
heute das Berechtigte in den Forderungen der Sozialdemokratie. Von deren<lb/>
Führern wird es zum großen Teil abhängen, ob abermals mit dem Über¬<lb/>
triebnen oder Sinnlosen auch das Gerechte und Mögliche nicht zur Ausfüh¬<lb/>
rung kommen soll. Für eins siud wir ihnen unter allen Umständen zu<lb/>
Danke verpflichtet, nämlich für die immer wiederholte unumwundne Erklärung,<lb/>
nicht ruhen zu wollen, bis sie die Mehrheit in der Vertretung haben, um dann<lb/>
die Minderheit, oder vielmehr die Minderheiten, unter das Joch der Massen¬<lb/>
herrschaft zu zwingen. Damit üben sie eine unschätzbare Kritik an dem Prinzip<lb/>
des auf allgemeines gleiches Wahlrecht aufgebauten Parlamentarismus, eine<lb/>
Kritik, zu der allerdings auch andre, aber meist im stillen, gelangt sind.<lb/>
"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1095"> Denn der &#x201E;wunderliche Freund in Heft 25 der Grenzboten hat ohne<lb/>
Zweifel zahllose Gesinnungsgenossen, die viel größern Anspruch auf die Be¬<lb/>
zeichnung &#x201E;wunderlich" haben als er. Sie sind stillschweigend übereingekommen,<lb/>
ihre wahre Meinung nicht auszusprechen, ja ausdrücklich zu verleugnen, und<lb/>
dies lediglich wegen eines Aberglaubens. Staatsmänner, die es liebten, ihre<lb/>
Reden mit passenden Anekdoten zu würzen, wie Abraham Lincoln und Franz<lb/>
Deal, würden für den Fall vielleicht folgendes Beispiel gewählt haben. Einem<lb/>
Manne, der sich über ein gewisses Unbehagen beklagte, wurde von einem an¬<lb/>
dern als Radikal- und Universalmittel der Genuß eines großen Glases Wach-<lb/>
holderbrcmntwein vor dem Frühstück anempfohlen. Er genoß die Arznei ge¬<lb/>
wissenhaft, glaubte anfangs auch gute Wirkung zu verspüren, doch nach kurzer<lb/>
Zeit stellten sich allerlei Übel ein, die nicht nur lästiger, sondern auch gefähr¬<lb/>
licher waren als das frühere. Sagte man ihm nun: die Kur mag für jenen<lb/>
Passen, obgleich auch er trotz aller Pausbackigkeit nicht deu Eindruck eines ge¬<lb/>
sunden Menschen macht, für deine Natur ist sie augenscheinlich nicht geeignet,<lb/>
gieb sie auf, so gab er zur Antwort, das würde inkonsequent sein, sich nicht<lb/>
schicken; was man angefangen habe, müsse man auch durchführen, möge<lb/>
daraus werden, was da wolle. Was daraus wurde, braucht nicht be¬<lb/>
richtet zu werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1096" next="#ID_1097"> So sagen die Wunderlichen: Es ist richtig, daß verschiedne von den</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0335] Suggestionen in der Politik Grund haben, über ihr Los zu klagen, oder nicht. Nur wer wenig von der Geschichte kennt, kann darüber erschrecken, daß die sozialdemokratische Partei so großen Zuzug aus Verufskreisen erhält, die nach dem heutigen Sprach¬ gebrauch gar nicht zu deu arbeitenden Klassen gerechnet werden dürfen. Man braucht sich nur an die unter dem Namen des Bauernkrieges bekannte erste große Erhebung der untern Stände in Deutschland zu erinnern, wo gewerb- fleißige Städte, die unter dem Drucke kleiner Herren, geistlicher oder weltlicher Fürsten oder bürgerlicher Geschlechter litten, ihre Thore dem Bnudschuh öffneten, Ritterbürtige wie Berlichingen und Florian Geyer, sich an die Spitze der bewaffneten Bauern stellten. Die forderten, was heute als Menschenrechte allgemein anerkannt ist, und kein Vernünftiger und Billigdenkender verkennt heute das Berechtigte in den Forderungen der Sozialdemokratie. Von deren Führern wird es zum großen Teil abhängen, ob abermals mit dem Über¬ triebnen oder Sinnlosen auch das Gerechte und Mögliche nicht zur Ausfüh¬ rung kommen soll. Für eins siud wir ihnen unter allen Umständen zu Danke verpflichtet, nämlich für die immer wiederholte unumwundne Erklärung, nicht ruhen zu wollen, bis sie die Mehrheit in der Vertretung haben, um dann die Minderheit, oder vielmehr die Minderheiten, unter das Joch der Massen¬ herrschaft zu zwingen. Damit üben sie eine unschätzbare Kritik an dem Prinzip des auf allgemeines gleiches Wahlrecht aufgebauten Parlamentarismus, eine Kritik, zu der allerdings auch andre, aber meist im stillen, gelangt sind. " Denn der „wunderliche Freund in Heft 25 der Grenzboten hat ohne Zweifel zahllose Gesinnungsgenossen, die viel größern Anspruch auf die Be¬ zeichnung „wunderlich" haben als er. Sie sind stillschweigend übereingekommen, ihre wahre Meinung nicht auszusprechen, ja ausdrücklich zu verleugnen, und dies lediglich wegen eines Aberglaubens. Staatsmänner, die es liebten, ihre Reden mit passenden Anekdoten zu würzen, wie Abraham Lincoln und Franz Deal, würden für den Fall vielleicht folgendes Beispiel gewählt haben. Einem Manne, der sich über ein gewisses Unbehagen beklagte, wurde von einem an¬ dern als Radikal- und Universalmittel der Genuß eines großen Glases Wach- holderbrcmntwein vor dem Frühstück anempfohlen. Er genoß die Arznei ge¬ wissenhaft, glaubte anfangs auch gute Wirkung zu verspüren, doch nach kurzer Zeit stellten sich allerlei Übel ein, die nicht nur lästiger, sondern auch gefähr¬ licher waren als das frühere. Sagte man ihm nun: die Kur mag für jenen Passen, obgleich auch er trotz aller Pausbackigkeit nicht deu Eindruck eines ge¬ sunden Menschen macht, für deine Natur ist sie augenscheinlich nicht geeignet, gieb sie auf, so gab er zur Antwort, das würde inkonsequent sein, sich nicht schicken; was man angefangen habe, müsse man auch durchführen, möge daraus werden, was da wolle. Was daraus wurde, braucht nicht be¬ richtet zu werden. So sagen die Wunderlichen: Es ist richtig, daß verschiedne von den

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/335
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/335>, abgerufen am 02.07.2024.