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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Suggestionen in der Politik

schöner ist die von einigen Organen, nicht etwa zum Hohn, aufgebrachte Be¬
zeichnung "Nichterpartei," aus der so leicht Nachrichterpartei werden kann.)
Nun war bekanntlich diese Partei im ersten Wahlgänge vollständig verschwunden,
und nur mit Hilfe verhaßter volksfeindlicher Parteien, durch das früher so
verächtliche Mittel der Kartelle, wurden so viel Getreue durchgebracht, daß
sie allenfalls die berühmte Droschke ihres Herrn und Meisters füllen können.
Haben wir also noch ein Volk oder nicht? Oder sollte das -- stets ein so
erhebendes Schauspiel bietende -- Betteln mit dein Parteiklingelbeutel diesmal
nicht den Ertrag geliefert haben, der erforderlich gewesen wäre, um das Volk
darüber zu belehren, was es will? Denn das "Volk" der Freisinnigen ist
zwar der Inbegriff aller guten und großen Eigenschaften, aber gleichzeitig bis
zur Unzurechnungsfähigkeit beschränkt, und wenn es ihm seine uneigennützigen
Vormünder nicht sagen, so weiß es nicht, was es will, geschweige denn, was
es zu seinem Heile Wollen muß. Wie dein auch sei: ergötzen würde es den
alten Satiriker gewiß höchlich, daß die privilegirten Vertreter der Reichshaupt-
stadt von ihren Mitbürgern kläglich im Stich gelassen worden sind und nicht
einmal alle in Wahlkreisen Unterschlupf gefunden haben, die sie ("die" und
"sie" nach Belieben als Subjekt oder Objekt zu verstehen!) nicht anders kennen
als von einer Wahlreise her, daß sich der neue Reichstag sogar ohne den nach
Richters Ausspruch unentbehrlichen Virchow behelfen und dieser selbst sich be¬
gnügen muß, seine, ach so bekannten! Weisheitssprüchc dem semitischen Teile
der Berliner Studentenschaft vorzutragen.

So tiefbetrübend für jeden freisinnigen Biedermann solche Erscheinungen
sein müssen, so erklärlich sind sie. Mehrere Gründe hat der erwähnte Aufsatz
in deu Grenzboten schon angegeben. Wir fügen hinzu: jeder Radikalismus
wird unfehlbar überradikalisirt. Immer wird er an eine Stelle geraten, über
die er beim Einreißen nicht Hinausgehen will, wovor aber noch entschiednere
nicht zurückschrecken; ist doch selbst Bebel glücklich schon ein Reaktionär, ein
Abtrünniger, ein Verräter an der Sache der Arbeiter, ein Unterdrücker der
freien Meinung geworden! Was ist natürlicher, als daß eine Partei, die den
jetzigen Staat bestehen lassen, nur in ihm die einzige Autorität sein möchte,
von ihren fortgeschrittnen Schülern niedergetreten wird, die diesen Staat oder
überhaupt jedes Staatswesen abschaffen wollen? Die Massen, die gedankenlos
den bloßen Neinsagern gefolgt sind, machen sich darüber keine Skrupel, daß
Bebel auf die Frage, wie sein Militär-, Steuer-, glaubcns- u. s. w. freier Zu-
tunftsstant beschaffen sein und bestehen werde, nur mit einer Umschreibung des
altberühmten Spruches einer seiner Vorläufer zu antworten wußte: Nix ge¬
wisses weiß man nicht! Anders wird er sein als der jetzige, das ist der Weis¬
heit ganzer Schluß auch bei den "Marxisten," und damit kommen auch "Un¬
abhängige," Nihilisten und Anarchisten aus. Anders! Das genügt den Un¬
zufriednen, und deren Zahl ist ungeheuer groß, gleichviel, ob sie triftigen


Suggestionen in der Politik

schöner ist die von einigen Organen, nicht etwa zum Hohn, aufgebrachte Be¬
zeichnung „Nichterpartei," aus der so leicht Nachrichterpartei werden kann.)
Nun war bekanntlich diese Partei im ersten Wahlgänge vollständig verschwunden,
und nur mit Hilfe verhaßter volksfeindlicher Parteien, durch das früher so
verächtliche Mittel der Kartelle, wurden so viel Getreue durchgebracht, daß
sie allenfalls die berühmte Droschke ihres Herrn und Meisters füllen können.
Haben wir also noch ein Volk oder nicht? Oder sollte das — stets ein so
erhebendes Schauspiel bietende — Betteln mit dein Parteiklingelbeutel diesmal
nicht den Ertrag geliefert haben, der erforderlich gewesen wäre, um das Volk
darüber zu belehren, was es will? Denn das „Volk" der Freisinnigen ist
zwar der Inbegriff aller guten und großen Eigenschaften, aber gleichzeitig bis
zur Unzurechnungsfähigkeit beschränkt, und wenn es ihm seine uneigennützigen
Vormünder nicht sagen, so weiß es nicht, was es will, geschweige denn, was
es zu seinem Heile Wollen muß. Wie dein auch sei: ergötzen würde es den
alten Satiriker gewiß höchlich, daß die privilegirten Vertreter der Reichshaupt-
stadt von ihren Mitbürgern kläglich im Stich gelassen worden sind und nicht
einmal alle in Wahlkreisen Unterschlupf gefunden haben, die sie („die" und
„sie" nach Belieben als Subjekt oder Objekt zu verstehen!) nicht anders kennen
als von einer Wahlreise her, daß sich der neue Reichstag sogar ohne den nach
Richters Ausspruch unentbehrlichen Virchow behelfen und dieser selbst sich be¬
gnügen muß, seine, ach so bekannten! Weisheitssprüchc dem semitischen Teile
der Berliner Studentenschaft vorzutragen.

So tiefbetrübend für jeden freisinnigen Biedermann solche Erscheinungen
sein müssen, so erklärlich sind sie. Mehrere Gründe hat der erwähnte Aufsatz
in deu Grenzboten schon angegeben. Wir fügen hinzu: jeder Radikalismus
wird unfehlbar überradikalisirt. Immer wird er an eine Stelle geraten, über
die er beim Einreißen nicht Hinausgehen will, wovor aber noch entschiednere
nicht zurückschrecken; ist doch selbst Bebel glücklich schon ein Reaktionär, ein
Abtrünniger, ein Verräter an der Sache der Arbeiter, ein Unterdrücker der
freien Meinung geworden! Was ist natürlicher, als daß eine Partei, die den
jetzigen Staat bestehen lassen, nur in ihm die einzige Autorität sein möchte,
von ihren fortgeschrittnen Schülern niedergetreten wird, die diesen Staat oder
überhaupt jedes Staatswesen abschaffen wollen? Die Massen, die gedankenlos
den bloßen Neinsagern gefolgt sind, machen sich darüber keine Skrupel, daß
Bebel auf die Frage, wie sein Militär-, Steuer-, glaubcns- u. s. w. freier Zu-
tunftsstant beschaffen sein und bestehen werde, nur mit einer Umschreibung des
altberühmten Spruches einer seiner Vorläufer zu antworten wußte: Nix ge¬
wisses weiß man nicht! Anders wird er sein als der jetzige, das ist der Weis¬
heit ganzer Schluß auch bei den „Marxisten," und damit kommen auch „Un¬
abhängige," Nihilisten und Anarchisten aus. Anders! Das genügt den Un¬
zufriednen, und deren Zahl ist ungeheuer groß, gleichviel, ob sie triftigen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/334>, abgerufen am 30.06.2024.