Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Unser Zeitungselend

es wenigstens ein lebenswahres, wenn anch nicht künstlerisch wahres Sitten¬
bild aus der Hauptstadt ist. Technisch ist die Heimat genau so mangelhaft
wie die andern Stücke Sudermanns. "Das Recht der Individualität ist das
Schlagwort der modernen Kunst geworden. "Ich bin ich und darf mich nicht
verlieren," ruft Magda in der Heimat, und mit ihr ruft es der ganze, große
Chor der jugendlichen Stürmer und Dränger. Ein Geist des sittlichen und
künstlerischen Aufruhrs geht durch die moderne Welt. Die Regeln der Moral
werden zum alten Plunder geworfen wie die Regeln der Kunst. Das Ich
bäumt sich auf gegen das Gesetz; jeder Mensch will als ein Neues, Besondres,
noch nie Dagewesenes gelten und fordert als erstes Recht, sich voll ausleben
zu dürfen, so wie er ist." Ist das wirklich etwas neues? Das Recht der
Persönlichkeit im Kampfe gegen das Herkommen hat bereits der alte Sophokles
in der Antigone geschildert, und Richard III., Faust, Kabale und Liebe, der
Erbfvrster und vor allem Grillparzers Medea behandeln ausführlich denselben
Gegenstand. Es ist überhaupt kein Drama denkbar, in dem sich nicht das
Recht der Persönlichkeit geltend machte. Was soll also das ganze Gefasel
von einem angeblich neuen Schlagwort? "Bald wie Niobe "ganz Thränen",
bald das Antlitz in tiefstem Schmerz versteinert, bald in bitterster Neue zer¬
knirscht, bald wie ein koboldartiges Wesen, dem die Launen wie kleine heiße
Ströme durch die Fingerspitzen laufen, dann wieder im leidenschaftlichen Trotz,
in fieberhafter Unruhe und im Tone tiefster, thrünenvoller Trauer und
Tragik -- immer war sie von künstlerischer Noblesse und nie ohne die Allüren
einer Weltdame." Wer da noch kein klares Bild von dem Spiel der Magda
hat, der wird es nie bekommen! "Mit rauhen, heisern Tönen, die kurz,
atemlos aus ihrer Kehle herausrollen, hört sie den Vorschlag des Strebers
um, ihr Kind zu verleugnen -- es ist eine unheimliche Stimmung, wie sie
im richtigen Einklang mit dem finstern Augenblick steht, in dein sie ihren
frühern Geliebten weit von sich weist." Es wird einem ganz gruselig zu
Mute. Über all solche Phrasen unsrer Theaterkritiken, vou denen gar nichts
übrig bleibt, wenn man sie logisch zergliedert, liest aber das Publikum ge¬
dankenlos hinweg. Wie sie geschrieben sind, nur um etwas zu schreiben, so
werden sie auch gelesen, nur um etwas zu lesen. Aber wer täglich gedanken¬
loses Geschwätz liest, dem gehen das gesunde Urteil und der gute Geschmack
unheimlich schnell in die Brüche. Ein dramatisches Kunstwerk als Ganzes
zu beurteilen, ist überhaupt nicht jedermanns Sache; jedenfalls aber wird
die Fähigkeit dazu, auch bei den besten Anlagen, nur durch ernstes Studium
erworben. Mit dem Studium aber sieht es bei den Herren, die auf den
kritischen Nichterstühlcn unsrer mittlern Zeitungen sitzen, oft sehr windig aus.
Aber auch sonst ist in unsrer Kritik eine widerwärtige Manier eingerissen.
Da wird zunächst ein großer Phrasenbrei von allerhand -ihnen angerührt,
dann ein wenig von dem Inhalt des Stückes erzählt, und schließlich kraft


Unser Zeitungselend

es wenigstens ein lebenswahres, wenn anch nicht künstlerisch wahres Sitten¬
bild aus der Hauptstadt ist. Technisch ist die Heimat genau so mangelhaft
wie die andern Stücke Sudermanns. „Das Recht der Individualität ist das
Schlagwort der modernen Kunst geworden. »Ich bin ich und darf mich nicht
verlieren,« ruft Magda in der Heimat, und mit ihr ruft es der ganze, große
Chor der jugendlichen Stürmer und Dränger. Ein Geist des sittlichen und
künstlerischen Aufruhrs geht durch die moderne Welt. Die Regeln der Moral
werden zum alten Plunder geworfen wie die Regeln der Kunst. Das Ich
bäumt sich auf gegen das Gesetz; jeder Mensch will als ein Neues, Besondres,
noch nie Dagewesenes gelten und fordert als erstes Recht, sich voll ausleben
zu dürfen, so wie er ist." Ist das wirklich etwas neues? Das Recht der
Persönlichkeit im Kampfe gegen das Herkommen hat bereits der alte Sophokles
in der Antigone geschildert, und Richard III., Faust, Kabale und Liebe, der
Erbfvrster und vor allem Grillparzers Medea behandeln ausführlich denselben
Gegenstand. Es ist überhaupt kein Drama denkbar, in dem sich nicht das
Recht der Persönlichkeit geltend machte. Was soll also das ganze Gefasel
von einem angeblich neuen Schlagwort? „Bald wie Niobe »ganz Thränen«,
bald das Antlitz in tiefstem Schmerz versteinert, bald in bitterster Neue zer¬
knirscht, bald wie ein koboldartiges Wesen, dem die Launen wie kleine heiße
Ströme durch die Fingerspitzen laufen, dann wieder im leidenschaftlichen Trotz,
in fieberhafter Unruhe und im Tone tiefster, thrünenvoller Trauer und
Tragik — immer war sie von künstlerischer Noblesse und nie ohne die Allüren
einer Weltdame." Wer da noch kein klares Bild von dem Spiel der Magda
hat, der wird es nie bekommen! „Mit rauhen, heisern Tönen, die kurz,
atemlos aus ihrer Kehle herausrollen, hört sie den Vorschlag des Strebers
um, ihr Kind zu verleugnen — es ist eine unheimliche Stimmung, wie sie
im richtigen Einklang mit dem finstern Augenblick steht, in dein sie ihren
frühern Geliebten weit von sich weist." Es wird einem ganz gruselig zu
Mute. Über all solche Phrasen unsrer Theaterkritiken, vou denen gar nichts
übrig bleibt, wenn man sie logisch zergliedert, liest aber das Publikum ge¬
dankenlos hinweg. Wie sie geschrieben sind, nur um etwas zu schreiben, so
werden sie auch gelesen, nur um etwas zu lesen. Aber wer täglich gedanken¬
loses Geschwätz liest, dem gehen das gesunde Urteil und der gute Geschmack
unheimlich schnell in die Brüche. Ein dramatisches Kunstwerk als Ganzes
zu beurteilen, ist überhaupt nicht jedermanns Sache; jedenfalls aber wird
die Fähigkeit dazu, auch bei den besten Anlagen, nur durch ernstes Studium
erworben. Mit dem Studium aber sieht es bei den Herren, die auf den
kritischen Nichterstühlcn unsrer mittlern Zeitungen sitzen, oft sehr windig aus.
Aber auch sonst ist in unsrer Kritik eine widerwärtige Manier eingerissen.
Da wird zunächst ein großer Phrasenbrei von allerhand -ihnen angerührt,
dann ein wenig von dem Inhalt des Stückes erzählt, und schließlich kraft


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0314" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/216038"/>
          <fw type="header" place="top"> Unser Zeitungselend</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_928" prev="#ID_927" next="#ID_929"> es wenigstens ein lebenswahres, wenn anch nicht künstlerisch wahres Sitten¬<lb/>
bild aus der Hauptstadt ist. Technisch ist die Heimat genau so mangelhaft<lb/>
wie die andern Stücke Sudermanns. &#x201E;Das Recht der Individualität ist das<lb/>
Schlagwort der modernen Kunst geworden. »Ich bin ich und darf mich nicht<lb/>
verlieren,« ruft Magda in der Heimat, und mit ihr ruft es der ganze, große<lb/>
Chor der jugendlichen Stürmer und Dränger. Ein Geist des sittlichen und<lb/>
künstlerischen Aufruhrs geht durch die moderne Welt. Die Regeln der Moral<lb/>
werden zum alten Plunder geworfen wie die Regeln der Kunst. Das Ich<lb/>
bäumt sich auf gegen das Gesetz; jeder Mensch will als ein Neues, Besondres,<lb/>
noch nie Dagewesenes gelten und fordert als erstes Recht, sich voll ausleben<lb/>
zu dürfen, so wie er ist." Ist das wirklich etwas neues? Das Recht der<lb/>
Persönlichkeit im Kampfe gegen das Herkommen hat bereits der alte Sophokles<lb/>
in der Antigone geschildert, und Richard III., Faust, Kabale und Liebe, der<lb/>
Erbfvrster und vor allem Grillparzers Medea behandeln ausführlich denselben<lb/>
Gegenstand. Es ist überhaupt kein Drama denkbar, in dem sich nicht das<lb/>
Recht der Persönlichkeit geltend machte. Was soll also das ganze Gefasel<lb/>
von einem angeblich neuen Schlagwort? &#x201E;Bald wie Niobe »ganz Thränen«,<lb/>
bald das Antlitz in tiefstem Schmerz versteinert, bald in bitterster Neue zer¬<lb/>
knirscht, bald wie ein koboldartiges Wesen, dem die Launen wie kleine heiße<lb/>
Ströme durch die Fingerspitzen laufen, dann wieder im leidenschaftlichen Trotz,<lb/>
in fieberhafter Unruhe und im Tone tiefster, thrünenvoller Trauer und<lb/>
Tragik &#x2014; immer war sie von künstlerischer Noblesse und nie ohne die Allüren<lb/>
einer Weltdame." Wer da noch kein klares Bild von dem Spiel der Magda<lb/>
hat, der wird es nie bekommen! &#x201E;Mit rauhen, heisern Tönen, die kurz,<lb/>
atemlos aus ihrer Kehle herausrollen, hört sie den Vorschlag des Strebers<lb/>
um, ihr Kind zu verleugnen &#x2014; es ist eine unheimliche Stimmung, wie sie<lb/>
im richtigen Einklang mit dem finstern Augenblick steht, in dein sie ihren<lb/>
frühern Geliebten weit von sich weist." Es wird einem ganz gruselig zu<lb/>
Mute. Über all solche Phrasen unsrer Theaterkritiken, vou denen gar nichts<lb/>
übrig bleibt, wenn man sie logisch zergliedert, liest aber das Publikum ge¬<lb/>
dankenlos hinweg. Wie sie geschrieben sind, nur um etwas zu schreiben, so<lb/>
werden sie auch gelesen, nur um etwas zu lesen. Aber wer täglich gedanken¬<lb/>
loses Geschwätz liest, dem gehen das gesunde Urteil und der gute Geschmack<lb/>
unheimlich schnell in die Brüche. Ein dramatisches Kunstwerk als Ganzes<lb/>
zu beurteilen, ist überhaupt nicht jedermanns Sache; jedenfalls aber wird<lb/>
die Fähigkeit dazu, auch bei den besten Anlagen, nur durch ernstes Studium<lb/>
erworben. Mit dem Studium aber sieht es bei den Herren, die auf den<lb/>
kritischen Nichterstühlcn unsrer mittlern Zeitungen sitzen, oft sehr windig aus.<lb/>
Aber auch sonst ist in unsrer Kritik eine widerwärtige Manier eingerissen.<lb/>
Da wird zunächst ein großer Phrasenbrei von allerhand -ihnen angerührt,<lb/>
dann ein wenig von dem Inhalt des Stückes erzählt, und schließlich kraft</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0314] Unser Zeitungselend es wenigstens ein lebenswahres, wenn anch nicht künstlerisch wahres Sitten¬ bild aus der Hauptstadt ist. Technisch ist die Heimat genau so mangelhaft wie die andern Stücke Sudermanns. „Das Recht der Individualität ist das Schlagwort der modernen Kunst geworden. »Ich bin ich und darf mich nicht verlieren,« ruft Magda in der Heimat, und mit ihr ruft es der ganze, große Chor der jugendlichen Stürmer und Dränger. Ein Geist des sittlichen und künstlerischen Aufruhrs geht durch die moderne Welt. Die Regeln der Moral werden zum alten Plunder geworfen wie die Regeln der Kunst. Das Ich bäumt sich auf gegen das Gesetz; jeder Mensch will als ein Neues, Besondres, noch nie Dagewesenes gelten und fordert als erstes Recht, sich voll ausleben zu dürfen, so wie er ist." Ist das wirklich etwas neues? Das Recht der Persönlichkeit im Kampfe gegen das Herkommen hat bereits der alte Sophokles in der Antigone geschildert, und Richard III., Faust, Kabale und Liebe, der Erbfvrster und vor allem Grillparzers Medea behandeln ausführlich denselben Gegenstand. Es ist überhaupt kein Drama denkbar, in dem sich nicht das Recht der Persönlichkeit geltend machte. Was soll also das ganze Gefasel von einem angeblich neuen Schlagwort? „Bald wie Niobe »ganz Thränen«, bald das Antlitz in tiefstem Schmerz versteinert, bald in bitterster Neue zer¬ knirscht, bald wie ein koboldartiges Wesen, dem die Launen wie kleine heiße Ströme durch die Fingerspitzen laufen, dann wieder im leidenschaftlichen Trotz, in fieberhafter Unruhe und im Tone tiefster, thrünenvoller Trauer und Tragik — immer war sie von künstlerischer Noblesse und nie ohne die Allüren einer Weltdame." Wer da noch kein klares Bild von dem Spiel der Magda hat, der wird es nie bekommen! „Mit rauhen, heisern Tönen, die kurz, atemlos aus ihrer Kehle herausrollen, hört sie den Vorschlag des Strebers um, ihr Kind zu verleugnen — es ist eine unheimliche Stimmung, wie sie im richtigen Einklang mit dem finstern Augenblick steht, in dein sie ihren frühern Geliebten weit von sich weist." Es wird einem ganz gruselig zu Mute. Über all solche Phrasen unsrer Theaterkritiken, vou denen gar nichts übrig bleibt, wenn man sie logisch zergliedert, liest aber das Publikum ge¬ dankenlos hinweg. Wie sie geschrieben sind, nur um etwas zu schreiben, so werden sie auch gelesen, nur um etwas zu lesen. Aber wer täglich gedanken¬ loses Geschwätz liest, dem gehen das gesunde Urteil und der gute Geschmack unheimlich schnell in die Brüche. Ein dramatisches Kunstwerk als Ganzes zu beurteilen, ist überhaupt nicht jedermanns Sache; jedenfalls aber wird die Fähigkeit dazu, auch bei den besten Anlagen, nur durch ernstes Studium erworben. Mit dem Studium aber sieht es bei den Herren, die auf den kritischen Nichterstühlcn unsrer mittlern Zeitungen sitzen, oft sehr windig aus. Aber auch sonst ist in unsrer Kritik eine widerwärtige Manier eingerissen. Da wird zunächst ein großer Phrasenbrei von allerhand -ihnen angerührt, dann ein wenig von dem Inhalt des Stückes erzählt, und schließlich kraft

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/314
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/314>, abgerufen am 22.07.2024.