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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Unser Zeitungselend

eigner Unfehlbarkeit über Dichter und Darsteller das Urteil gefällt. Gewiß
giebt es rühmliche Ausnahmen; aber von denen reden wir nicht, wir
reden von der Negel. Und in der Regel wird bei den kritischen Urteilen
unsrer Tageblätter auch nicht einmal der Versuch gemacht, das gefällte Urteil
zu begründen; und wenn er gemacht wird, so ist die Begründung höchst
dürftig. Denn vernünftigerweise kann der Dichter nnr an anerkannten
Meistern und der Schauspieler nur am Dichter gemessen werden; unsern
Kritikern aber beliebt es, beide -- an ihrem eignen hohen Geiste zu messen.

Genau so jämmerlich aber steht es um die litterarische Kritik. Zwar hat
auch das kleinste Wurstblatt heute seine Rubrik "Litterarisches." Aber was
da untergebracht wird, sind meist vorgedrnckte Reklamen, die notgedrungen
aufgenommen werden müssen, weil sonst die zugehörige", Anzeigen ausbleiben.
Auch bei Büchern, die zur Besprechung eingesandt werden, schickt der freund-
liche Verleger gleich das gedruckte Urteil mit, weil er weiß, daß der Redak¬
teur doch keine Zeit hat, das Buch zu lesen. Aber auch größere Blätter
verwenden viel zu wenig Raum auf Kunst und Wissenschaft. Stoff schleppen
sie ja genug zusammen, Thatsachen, denn "Thatsachen" heißt das Schlagwort,
das jedem Berichterstatter zu Beginn seiner Laufbahn eingepaukt wird. Mag
ein Droschkengaul gestürzt, ein Wasserleituugsrohr gesprungen oder eine Gar¬
dine verbrannt sein, mag ein Festmahl oder ein Jubiläum "stattgefunden"
haben -- und wie viel Festmähler und Jubiläen muß der Mensch jetzt über
sich ergehen lassen! --, mag einer Hofrat- geworden sein oder einen Orden
gekriegt oder das Zeitliche gesegnet haben -- immer her damit! Nur That¬
sachen!

Für Thatsachen sorgen namentlich auch die zahlreichen Vereine, die geradezu
albern geworden sind in ihrer Sucht, sich gedruckt zu sehen. So klüglich kann kein
Konzert mißlingen, daß es in dem Bericht, den der Schriftführer nachher der
größten Provinzzeitung einsendet, nicht "einen großartigen Verlauf" genommen
hätte. Daß die Lokalblätter Weihrauch streuen, versteht sich von selbst. Denn
wenn sich eins von ihnen erdreisten wollte, die schlichte Wahrheit zu sagen,
so würden ja sämtliche Mitglieder des Vereins noch an demselben Tage das un¬
gezogne Blatt abbestellen. Die bloße Drohung genügt, den Verleger sür alle
Zukunft gefügig zu machen. Was aber dem einen bewilligt wird, kann man
dem andern nicht abschlagen. Und so wird denn über deu letzten "Studien¬
ausflug" des Geschichtsvereins, wie über die Fahnenweihe der Klempnergesellen,
über das Sommervergnügen des Radfahrerklubs Windsbraut wie über das
zweijährige Stiftungsfest der Kegelgesellschaft Hilciria, über die erste Winter¬
versammlung des Evangelischen Jünglingsvereins wie über deu Antritts-
kommers der "Akademia" mit der ganzen liebevollen Ausführlichkeit berichtet,
deren nur ein Vereinsprotokoll fähig ist. Wer geredet hat, auf wen ge¬
redet wordeu ist, was man gegessen hat, welche unsterblichen Verdienste sich


Unser Zeitungselend

eigner Unfehlbarkeit über Dichter und Darsteller das Urteil gefällt. Gewiß
giebt es rühmliche Ausnahmen; aber von denen reden wir nicht, wir
reden von der Negel. Und in der Regel wird bei den kritischen Urteilen
unsrer Tageblätter auch nicht einmal der Versuch gemacht, das gefällte Urteil
zu begründen; und wenn er gemacht wird, so ist die Begründung höchst
dürftig. Denn vernünftigerweise kann der Dichter nnr an anerkannten
Meistern und der Schauspieler nur am Dichter gemessen werden; unsern
Kritikern aber beliebt es, beide — an ihrem eignen hohen Geiste zu messen.

Genau so jämmerlich aber steht es um die litterarische Kritik. Zwar hat
auch das kleinste Wurstblatt heute seine Rubrik „Litterarisches." Aber was
da untergebracht wird, sind meist vorgedrnckte Reklamen, die notgedrungen
aufgenommen werden müssen, weil sonst die zugehörige«, Anzeigen ausbleiben.
Auch bei Büchern, die zur Besprechung eingesandt werden, schickt der freund-
liche Verleger gleich das gedruckte Urteil mit, weil er weiß, daß der Redak¬
teur doch keine Zeit hat, das Buch zu lesen. Aber auch größere Blätter
verwenden viel zu wenig Raum auf Kunst und Wissenschaft. Stoff schleppen
sie ja genug zusammen, Thatsachen, denn „Thatsachen" heißt das Schlagwort,
das jedem Berichterstatter zu Beginn seiner Laufbahn eingepaukt wird. Mag
ein Droschkengaul gestürzt, ein Wasserleituugsrohr gesprungen oder eine Gar¬
dine verbrannt sein, mag ein Festmahl oder ein Jubiläum „stattgefunden"
haben — und wie viel Festmähler und Jubiläen muß der Mensch jetzt über
sich ergehen lassen! —, mag einer Hofrat- geworden sein oder einen Orden
gekriegt oder das Zeitliche gesegnet haben — immer her damit! Nur That¬
sachen!

Für Thatsachen sorgen namentlich auch die zahlreichen Vereine, die geradezu
albern geworden sind in ihrer Sucht, sich gedruckt zu sehen. So klüglich kann kein
Konzert mißlingen, daß es in dem Bericht, den der Schriftführer nachher der
größten Provinzzeitung einsendet, nicht „einen großartigen Verlauf" genommen
hätte. Daß die Lokalblätter Weihrauch streuen, versteht sich von selbst. Denn
wenn sich eins von ihnen erdreisten wollte, die schlichte Wahrheit zu sagen,
so würden ja sämtliche Mitglieder des Vereins noch an demselben Tage das un¬
gezogne Blatt abbestellen. Die bloße Drohung genügt, den Verleger sür alle
Zukunft gefügig zu machen. Was aber dem einen bewilligt wird, kann man
dem andern nicht abschlagen. Und so wird denn über deu letzten „Studien¬
ausflug" des Geschichtsvereins, wie über die Fahnenweihe der Klempnergesellen,
über das Sommervergnügen des Radfahrerklubs Windsbraut wie über das
zweijährige Stiftungsfest der Kegelgesellschaft Hilciria, über die erste Winter¬
versammlung des Evangelischen Jünglingsvereins wie über deu Antritts-
kommers der „Akademia" mit der ganzen liebevollen Ausführlichkeit berichtet,
deren nur ein Vereinsprotokoll fähig ist. Wer geredet hat, auf wen ge¬
redet wordeu ist, was man gegessen hat, welche unsterblichen Verdienste sich


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[0315] Unser Zeitungselend eigner Unfehlbarkeit über Dichter und Darsteller das Urteil gefällt. Gewiß giebt es rühmliche Ausnahmen; aber von denen reden wir nicht, wir reden von der Negel. Und in der Regel wird bei den kritischen Urteilen unsrer Tageblätter auch nicht einmal der Versuch gemacht, das gefällte Urteil zu begründen; und wenn er gemacht wird, so ist die Begründung höchst dürftig. Denn vernünftigerweise kann der Dichter nnr an anerkannten Meistern und der Schauspieler nur am Dichter gemessen werden; unsern Kritikern aber beliebt es, beide — an ihrem eignen hohen Geiste zu messen. Genau so jämmerlich aber steht es um die litterarische Kritik. Zwar hat auch das kleinste Wurstblatt heute seine Rubrik „Litterarisches." Aber was da untergebracht wird, sind meist vorgedrnckte Reklamen, die notgedrungen aufgenommen werden müssen, weil sonst die zugehörige«, Anzeigen ausbleiben. Auch bei Büchern, die zur Besprechung eingesandt werden, schickt der freund- liche Verleger gleich das gedruckte Urteil mit, weil er weiß, daß der Redak¬ teur doch keine Zeit hat, das Buch zu lesen. Aber auch größere Blätter verwenden viel zu wenig Raum auf Kunst und Wissenschaft. Stoff schleppen sie ja genug zusammen, Thatsachen, denn „Thatsachen" heißt das Schlagwort, das jedem Berichterstatter zu Beginn seiner Laufbahn eingepaukt wird. Mag ein Droschkengaul gestürzt, ein Wasserleituugsrohr gesprungen oder eine Gar¬ dine verbrannt sein, mag ein Festmahl oder ein Jubiläum „stattgefunden" haben — und wie viel Festmähler und Jubiläen muß der Mensch jetzt über sich ergehen lassen! —, mag einer Hofrat- geworden sein oder einen Orden gekriegt oder das Zeitliche gesegnet haben — immer her damit! Nur That¬ sachen! Für Thatsachen sorgen namentlich auch die zahlreichen Vereine, die geradezu albern geworden sind in ihrer Sucht, sich gedruckt zu sehen. So klüglich kann kein Konzert mißlingen, daß es in dem Bericht, den der Schriftführer nachher der größten Provinzzeitung einsendet, nicht „einen großartigen Verlauf" genommen hätte. Daß die Lokalblätter Weihrauch streuen, versteht sich von selbst. Denn wenn sich eins von ihnen erdreisten wollte, die schlichte Wahrheit zu sagen, so würden ja sämtliche Mitglieder des Vereins noch an demselben Tage das un¬ gezogne Blatt abbestellen. Die bloße Drohung genügt, den Verleger sür alle Zukunft gefügig zu machen. Was aber dem einen bewilligt wird, kann man dem andern nicht abschlagen. Und so wird denn über deu letzten „Studien¬ ausflug" des Geschichtsvereins, wie über die Fahnenweihe der Klempnergesellen, über das Sommervergnügen des Radfahrerklubs Windsbraut wie über das zweijährige Stiftungsfest der Kegelgesellschaft Hilciria, über die erste Winter¬ versammlung des Evangelischen Jünglingsvereins wie über deu Antritts- kommers der „Akademia" mit der ganzen liebevollen Ausführlichkeit berichtet, deren nur ein Vereinsprotokoll fähig ist. Wer geredet hat, auf wen ge¬ redet wordeu ist, was man gegessen hat, welche unsterblichen Verdienste sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/315>, abgerufen am 22.07.2024.