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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Die Philosophie Paniscus

den Kräften der ersten Art die Alleinherrschaft zu sichern. Da sie sich aber
bald davon überzeugen, daß dies uicht möglich ist. so entsteht in ihnen die
Sehnsucht nach einer andern Welt, in der ihr Wunsch erfüllt und die Ge¬
rechtigkeit, die der Gang der irdischen Dinge bestündig verletzt, endlich einmal
hergestellt werden möge. Unzählige unschuldig Gemarterte haben un Augen¬
blicke ihres Todes ihre Peiniger vor den Richterstuhl Gottes gefordert, und
wenn dieser Richterstuhl hinweggedacht wird, so ist die sittliche Weltordnung
dahin. Diese Ordnung besteht nur unter der Voraussetzung, daß dem Dies¬
seits das ergänzende Jenseits nicht fehle. Gut bleiben wird der gutgeartete
Mensch mich ohne diese Voraussetzung, aber nur mit ihr wird er den Mut
finden, an der Verwirklichung der sittlichen Weltordnung in seiner Umgebung
zu wirken, einer Verwirklichung, die uach der oben dargelegten Natur des
Diesseits immer unvollkommen bleiben muß und nur als Vorbereitung des
Jenseits eine" Herz und Vernunft befriedigenden Sinn und Zweck hat. Im
Grunde genommen ist wohl auch Paulsen dieser Ansicht, denn als die drei
Wurzeln der Religion nennt er die Angst, die bewundernde Freude und die
Enttäuschung. Über die dritte aber sagt er: ...In aller idealistische" Philo¬
sophie ist etwas von dieser Empfindung; bei Plato. bei Fichte klingt sie an.
Die Entrüstung über die Welt und die Menschen, wie sie sind, treibt die Be¬
hauptung hervor: diese Welt ist gar nicht die wirkliche Welt, sie kann es nicht
sein, sie ist zu gering dazu; es giebt, es muß geben eine reinere, eine höhere
Welt jenseits dieses Dunstkreises der Sinnlichkeit." Demnach ist es nicht wahr,
daß der Glaube an eine sittliche Weltordnung den Unsterblichkeitsglauben über¬
leben und von ihm unabhängig fortbestehen könne; wohl allenfalls in den
Seelen hoffnungsfroher Jünglinge, aber nicht in denen erfahrner Männer
könnte das geschehen. Nur muß man sich natürlich die Ergänzung des Dies¬
seits durchs Jenseits nicht in der Weise der orthodoxe" Theologen aller Kon-
fessionen denken, die neunundneunzig Hundertel aller Menschenseelen im Höllen-
schlunde versinken lassen, denn wäre dieses das Jenseits, dann wäre es wieder
nichts mit der sittlichen Weltordnung. weil in diesem Falle der Teufel über
Gott gesiegt Hütte, wie Lucio Vanini - Paulsen erzählt die Anekdote - dar¬
gelegt hat. der dafür natürlich verbrannt worden ist.

Um aber den Unsterblichkeitsglauben retten zu können, sind wir genötigt,
sür ein Ding einzutreten, dein Paulsen mit eben soviel Lebhaftigkeit als Scharf¬
sinn die Daseinsberechtigung abstreitet: für die Seele. Die Seele, sagt Paulsen
nach dem Vorgänge Lotzes, der dabei aber doch wohl nicht ganz dasselbe ge¬
meint hat. die Seele ist nichts andres als die Gesamtheit der seelischen Lebens¬
äußerungen. Paulsen verspottet die Psychologen, die außer diesen Lebens¬
äußerungen durchaus noch ein unbekanntes und uukenubcires, unbegreifliches
und undefinirbares Etwas haben wollen, ein "Wirklichkeitsklötzchen," die Seelen-
regnngen daran zu hängen, das sie Seele oder Seelensubstanz nennen. Hat


Die Philosophie Paniscus

den Kräften der ersten Art die Alleinherrschaft zu sichern. Da sie sich aber
bald davon überzeugen, daß dies uicht möglich ist. so entsteht in ihnen die
Sehnsucht nach einer andern Welt, in der ihr Wunsch erfüllt und die Ge¬
rechtigkeit, die der Gang der irdischen Dinge bestündig verletzt, endlich einmal
hergestellt werden möge. Unzählige unschuldig Gemarterte haben un Augen¬
blicke ihres Todes ihre Peiniger vor den Richterstuhl Gottes gefordert, und
wenn dieser Richterstuhl hinweggedacht wird, so ist die sittliche Weltordnung
dahin. Diese Ordnung besteht nur unter der Voraussetzung, daß dem Dies¬
seits das ergänzende Jenseits nicht fehle. Gut bleiben wird der gutgeartete
Mensch mich ohne diese Voraussetzung, aber nur mit ihr wird er den Mut
finden, an der Verwirklichung der sittlichen Weltordnung in seiner Umgebung
zu wirken, einer Verwirklichung, die uach der oben dargelegten Natur des
Diesseits immer unvollkommen bleiben muß und nur als Vorbereitung des
Jenseits eine» Herz und Vernunft befriedigenden Sinn und Zweck hat. Im
Grunde genommen ist wohl auch Paulsen dieser Ansicht, denn als die drei
Wurzeln der Religion nennt er die Angst, die bewundernde Freude und die
Enttäuschung. Über die dritte aber sagt er: ...In aller idealistische» Philo¬
sophie ist etwas von dieser Empfindung; bei Plato. bei Fichte klingt sie an.
Die Entrüstung über die Welt und die Menschen, wie sie sind, treibt die Be¬
hauptung hervor: diese Welt ist gar nicht die wirkliche Welt, sie kann es nicht
sein, sie ist zu gering dazu; es giebt, es muß geben eine reinere, eine höhere
Welt jenseits dieses Dunstkreises der Sinnlichkeit." Demnach ist es nicht wahr,
daß der Glaube an eine sittliche Weltordnung den Unsterblichkeitsglauben über¬
leben und von ihm unabhängig fortbestehen könne; wohl allenfalls in den
Seelen hoffnungsfroher Jünglinge, aber nicht in denen erfahrner Männer
könnte das geschehen. Nur muß man sich natürlich die Ergänzung des Dies¬
seits durchs Jenseits nicht in der Weise der orthodoxe« Theologen aller Kon-
fessionen denken, die neunundneunzig Hundertel aller Menschenseelen im Höllen-
schlunde versinken lassen, denn wäre dieses das Jenseits, dann wäre es wieder
nichts mit der sittlichen Weltordnung. weil in diesem Falle der Teufel über
Gott gesiegt Hütte, wie Lucio Vanini - Paulsen erzählt die Anekdote - dar¬
gelegt hat. der dafür natürlich verbrannt worden ist.

Um aber den Unsterblichkeitsglauben retten zu können, sind wir genötigt,
sür ein Ding einzutreten, dein Paulsen mit eben soviel Lebhaftigkeit als Scharf¬
sinn die Daseinsberechtigung abstreitet: für die Seele. Die Seele, sagt Paulsen
nach dem Vorgänge Lotzes, der dabei aber doch wohl nicht ganz dasselbe ge¬
meint hat. die Seele ist nichts andres als die Gesamtheit der seelischen Lebens¬
äußerungen. Paulsen verspottet die Psychologen, die außer diesen Lebens¬
äußerungen durchaus noch ein unbekanntes und uukenubcires, unbegreifliches
und undefinirbares Etwas haben wollen, ein „Wirklichkeitsklötzchen," die Seelen-
regnngen daran zu hängen, das sie Seele oder Seelensubstanz nennen. Hat


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[0027] Die Philosophie Paniscus den Kräften der ersten Art die Alleinherrschaft zu sichern. Da sie sich aber bald davon überzeugen, daß dies uicht möglich ist. so entsteht in ihnen die Sehnsucht nach einer andern Welt, in der ihr Wunsch erfüllt und die Ge¬ rechtigkeit, die der Gang der irdischen Dinge bestündig verletzt, endlich einmal hergestellt werden möge. Unzählige unschuldig Gemarterte haben un Augen¬ blicke ihres Todes ihre Peiniger vor den Richterstuhl Gottes gefordert, und wenn dieser Richterstuhl hinweggedacht wird, so ist die sittliche Weltordnung dahin. Diese Ordnung besteht nur unter der Voraussetzung, daß dem Dies¬ seits das ergänzende Jenseits nicht fehle. Gut bleiben wird der gutgeartete Mensch mich ohne diese Voraussetzung, aber nur mit ihr wird er den Mut finden, an der Verwirklichung der sittlichen Weltordnung in seiner Umgebung zu wirken, einer Verwirklichung, die uach der oben dargelegten Natur des Diesseits immer unvollkommen bleiben muß und nur als Vorbereitung des Jenseits eine» Herz und Vernunft befriedigenden Sinn und Zweck hat. Im Grunde genommen ist wohl auch Paulsen dieser Ansicht, denn als die drei Wurzeln der Religion nennt er die Angst, die bewundernde Freude und die Enttäuschung. Über die dritte aber sagt er: ...In aller idealistische» Philo¬ sophie ist etwas von dieser Empfindung; bei Plato. bei Fichte klingt sie an. Die Entrüstung über die Welt und die Menschen, wie sie sind, treibt die Be¬ hauptung hervor: diese Welt ist gar nicht die wirkliche Welt, sie kann es nicht sein, sie ist zu gering dazu; es giebt, es muß geben eine reinere, eine höhere Welt jenseits dieses Dunstkreises der Sinnlichkeit." Demnach ist es nicht wahr, daß der Glaube an eine sittliche Weltordnung den Unsterblichkeitsglauben über¬ leben und von ihm unabhängig fortbestehen könne; wohl allenfalls in den Seelen hoffnungsfroher Jünglinge, aber nicht in denen erfahrner Männer könnte das geschehen. Nur muß man sich natürlich die Ergänzung des Dies¬ seits durchs Jenseits nicht in der Weise der orthodoxe« Theologen aller Kon- fessionen denken, die neunundneunzig Hundertel aller Menschenseelen im Höllen- schlunde versinken lassen, denn wäre dieses das Jenseits, dann wäre es wieder nichts mit der sittlichen Weltordnung. weil in diesem Falle der Teufel über Gott gesiegt Hütte, wie Lucio Vanini - Paulsen erzählt die Anekdote - dar¬ gelegt hat. der dafür natürlich verbrannt worden ist. Um aber den Unsterblichkeitsglauben retten zu können, sind wir genötigt, sür ein Ding einzutreten, dein Paulsen mit eben soviel Lebhaftigkeit als Scharf¬ sinn die Daseinsberechtigung abstreitet: für die Seele. Die Seele, sagt Paulsen nach dem Vorgänge Lotzes, der dabei aber doch wohl nicht ganz dasselbe ge¬ meint hat. die Seele ist nichts andres als die Gesamtheit der seelischen Lebens¬ äußerungen. Paulsen verspottet die Psychologen, die außer diesen Lebens¬ äußerungen durchaus noch ein unbekanntes und uukenubcires, unbegreifliches und undefinirbares Etwas haben wollen, ein „Wirklichkeitsklötzchen," die Seelen- regnngen daran zu hängen, das sie Seele oder Seelensubstanz nennen. Hat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/27>, abgerufen am 04.07.2024.