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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Die Philosophie panisens

zur ersten Ungerechtigkeit eine zweite fügen, wenn der verhältnismäßig un¬
schuldige Nachkomme an den Sünden des Ahnherrn zu Grunde geht? Oder
sollen vielleicht die verhungerten französischen Bauern und die gespießten und
lebendig verbrannten Kinder der Psiilzer die Vergeltung für den Hochmut
Ludwigs XIV. bilden und die Wage der Gerechtigkeit ins Gleichgewicht bringen?
"Das Große und Gute -- fährt Paulsen fort -- war zwar in der Gegenwart
oft verkannt und unterdrückt, während das Nichtige und scheinbare und Schlechte
in Geltung und Ansehen stand. Aber die Geschichte läßt sie die Rollen tauschen."
Dieser Nolleutausch, was besagt er anders, als daß das Gute und das Böse
gleichberechtigt sind auf Erden? Keiner dieser Nollentcmsche ist ja der letzte;
Güte und Gerechtigkeit werden, wenn sie eine Zeit lang regiert haben, gar bald
wieder von ihrem Widerpart abgelöst. "Dem Schlechten mag der Tag ge¬
hören, dem Wahren und Guten gehört die Ewigkeit." Ganz dasselbe ist unser
Glaube, der aber nur Sinn hat, wenn wir unter Ewigkeit nicht den endlosen
irdischen Wechsel verstehen, sondern das jenseitige Reich unsterblicher Geister,
sonst ist die Ewigkeit, die dem Guten und Wahren gehören soll, eine leere
betrügerische Phrase. Ob Paulsen an jene wahre Ewigkeit gedacht hat? Man
sollte es meinen, denn er beruft sich auf "die große Lehre des Christentums:
durch Leiden und Tod gehe der Weg zur Auferstehung und Herrlichkeit.
Triumphircnd fragt sein Glaube: Tod, wo ist dein Stachel, Hölle,*) wo ist
dein Sieg?" So ruft ja eben der Apostel, nachdem er gezeigt hat, daß ohne
den Glauben an die leibliche Auferstehung der ganze Christenglauben eitel
wäre und wir Christen die elendesten aller Menschen sein würden. Aber
Paulsen spricht das Wort, das man erwartet, nicht aus; er schließt seine Be¬
trachtung mit dem Satze: "Das Übel und das Böse hat keine Macht über die,
die in Gottes Hand sind. Es kann sie äußerlich treffen, aber nicht innerlich
überwinden." Demnach scheint es, daß er doch zu guter letzt unter dem Siege
des Guten nur den innern Sieg versteht: die Glaubhaftigkeit des Helden, der
lieber untergeht als nachgiebt. Aber die ist kein Beweis für die sittliche
Ordnung der Welt, sondern nur für die seiner eignen Seele; denn viel tausend
edle Seelen machen immer noch nicht die Welt ans.

Die Wirklichkeit zeigt uns verschiedne Kräfte thätig, von denen wir die
einen moralisch, die andern unmoralisch nennen, die aber beide gleich unent¬
behrlich sind, sodaß die Ordnung der Menschenwelt weder als sittlich gut noch
als sittlich böse charakterisirt werden kann. Indem aber die edlern Seelen so
organisirt sind, daß ihnen die Erscheinungen, die wir moralisch nennen, Wohl¬
gefallen, die entgegengesetzten Abscheu erregen, entsteht in ihnen der Wunsch,



*) So wird der Spruch gewöhnlich angeführt, aber im Original kommt das Wort
"Hölle" nicht vor. Nicht die Bezeichnung sür den jenseitigen Strnfort, gebraucht
Paulus 1. Kor. 15, 55 im zweiten Gliede des Ausrufs, sondern Unterwelt, was nur
ein andrer Ausdruck für das A"^"-roh des erste" Gliedes ist.
Die Philosophie panisens

zur ersten Ungerechtigkeit eine zweite fügen, wenn der verhältnismäßig un¬
schuldige Nachkomme an den Sünden des Ahnherrn zu Grunde geht? Oder
sollen vielleicht die verhungerten französischen Bauern und die gespießten und
lebendig verbrannten Kinder der Psiilzer die Vergeltung für den Hochmut
Ludwigs XIV. bilden und die Wage der Gerechtigkeit ins Gleichgewicht bringen?
„Das Große und Gute — fährt Paulsen fort — war zwar in der Gegenwart
oft verkannt und unterdrückt, während das Nichtige und scheinbare und Schlechte
in Geltung und Ansehen stand. Aber die Geschichte läßt sie die Rollen tauschen."
Dieser Nolleutausch, was besagt er anders, als daß das Gute und das Böse
gleichberechtigt sind auf Erden? Keiner dieser Nollentcmsche ist ja der letzte;
Güte und Gerechtigkeit werden, wenn sie eine Zeit lang regiert haben, gar bald
wieder von ihrem Widerpart abgelöst. „Dem Schlechten mag der Tag ge¬
hören, dem Wahren und Guten gehört die Ewigkeit." Ganz dasselbe ist unser
Glaube, der aber nur Sinn hat, wenn wir unter Ewigkeit nicht den endlosen
irdischen Wechsel verstehen, sondern das jenseitige Reich unsterblicher Geister,
sonst ist die Ewigkeit, die dem Guten und Wahren gehören soll, eine leere
betrügerische Phrase. Ob Paulsen an jene wahre Ewigkeit gedacht hat? Man
sollte es meinen, denn er beruft sich auf „die große Lehre des Christentums:
durch Leiden und Tod gehe der Weg zur Auferstehung und Herrlichkeit.
Triumphircnd fragt sein Glaube: Tod, wo ist dein Stachel, Hölle,*) wo ist
dein Sieg?" So ruft ja eben der Apostel, nachdem er gezeigt hat, daß ohne
den Glauben an die leibliche Auferstehung der ganze Christenglauben eitel
wäre und wir Christen die elendesten aller Menschen sein würden. Aber
Paulsen spricht das Wort, das man erwartet, nicht aus; er schließt seine Be¬
trachtung mit dem Satze: „Das Übel und das Böse hat keine Macht über die,
die in Gottes Hand sind. Es kann sie äußerlich treffen, aber nicht innerlich
überwinden." Demnach scheint es, daß er doch zu guter letzt unter dem Siege
des Guten nur den innern Sieg versteht: die Glaubhaftigkeit des Helden, der
lieber untergeht als nachgiebt. Aber die ist kein Beweis für die sittliche
Ordnung der Welt, sondern nur für die seiner eignen Seele; denn viel tausend
edle Seelen machen immer noch nicht die Welt ans.

Die Wirklichkeit zeigt uns verschiedne Kräfte thätig, von denen wir die
einen moralisch, die andern unmoralisch nennen, die aber beide gleich unent¬
behrlich sind, sodaß die Ordnung der Menschenwelt weder als sittlich gut noch
als sittlich böse charakterisirt werden kann. Indem aber die edlern Seelen so
organisirt sind, daß ihnen die Erscheinungen, die wir moralisch nennen, Wohl¬
gefallen, die entgegengesetzten Abscheu erregen, entsteht in ihnen der Wunsch,



*) So wird der Spruch gewöhnlich angeführt, aber im Original kommt das Wort
„Hölle" nicht vor. Nicht die Bezeichnung sür den jenseitigen Strnfort, gebraucht
Paulus 1. Kor. 15, 55 im zweiten Gliede des Ausrufs, sondern Unterwelt, was nur
ein andrer Ausdruck für das A«^«-roh des erste» Gliedes ist.
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[0026] Die Philosophie panisens zur ersten Ungerechtigkeit eine zweite fügen, wenn der verhältnismäßig un¬ schuldige Nachkomme an den Sünden des Ahnherrn zu Grunde geht? Oder sollen vielleicht die verhungerten französischen Bauern und die gespießten und lebendig verbrannten Kinder der Psiilzer die Vergeltung für den Hochmut Ludwigs XIV. bilden und die Wage der Gerechtigkeit ins Gleichgewicht bringen? „Das Große und Gute — fährt Paulsen fort — war zwar in der Gegenwart oft verkannt und unterdrückt, während das Nichtige und scheinbare und Schlechte in Geltung und Ansehen stand. Aber die Geschichte läßt sie die Rollen tauschen." Dieser Nolleutausch, was besagt er anders, als daß das Gute und das Böse gleichberechtigt sind auf Erden? Keiner dieser Nollentcmsche ist ja der letzte; Güte und Gerechtigkeit werden, wenn sie eine Zeit lang regiert haben, gar bald wieder von ihrem Widerpart abgelöst. „Dem Schlechten mag der Tag ge¬ hören, dem Wahren und Guten gehört die Ewigkeit." Ganz dasselbe ist unser Glaube, der aber nur Sinn hat, wenn wir unter Ewigkeit nicht den endlosen irdischen Wechsel verstehen, sondern das jenseitige Reich unsterblicher Geister, sonst ist die Ewigkeit, die dem Guten und Wahren gehören soll, eine leere betrügerische Phrase. Ob Paulsen an jene wahre Ewigkeit gedacht hat? Man sollte es meinen, denn er beruft sich auf „die große Lehre des Christentums: durch Leiden und Tod gehe der Weg zur Auferstehung und Herrlichkeit. Triumphircnd fragt sein Glaube: Tod, wo ist dein Stachel, Hölle,*) wo ist dein Sieg?" So ruft ja eben der Apostel, nachdem er gezeigt hat, daß ohne den Glauben an die leibliche Auferstehung der ganze Christenglauben eitel wäre und wir Christen die elendesten aller Menschen sein würden. Aber Paulsen spricht das Wort, das man erwartet, nicht aus; er schließt seine Be¬ trachtung mit dem Satze: „Das Übel und das Böse hat keine Macht über die, die in Gottes Hand sind. Es kann sie äußerlich treffen, aber nicht innerlich überwinden." Demnach scheint es, daß er doch zu guter letzt unter dem Siege des Guten nur den innern Sieg versteht: die Glaubhaftigkeit des Helden, der lieber untergeht als nachgiebt. Aber die ist kein Beweis für die sittliche Ordnung der Welt, sondern nur für die seiner eignen Seele; denn viel tausend edle Seelen machen immer noch nicht die Welt ans. Die Wirklichkeit zeigt uns verschiedne Kräfte thätig, von denen wir die einen moralisch, die andern unmoralisch nennen, die aber beide gleich unent¬ behrlich sind, sodaß die Ordnung der Menschenwelt weder als sittlich gut noch als sittlich böse charakterisirt werden kann. Indem aber die edlern Seelen so organisirt sind, daß ihnen die Erscheinungen, die wir moralisch nennen, Wohl¬ gefallen, die entgegengesetzten Abscheu erregen, entsteht in ihnen der Wunsch, *) So wird der Spruch gewöhnlich angeführt, aber im Original kommt das Wort „Hölle" nicht vor. Nicht die Bezeichnung sür den jenseitigen Strnfort, gebraucht Paulus 1. Kor. 15, 55 im zweiten Gliede des Ausrufs, sondern Unterwelt, was nur ein andrer Ausdruck für das A«^«-roh des erste» Gliedes ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/26>, abgerufen am 04.07.2024.