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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Die Philosophie Pilsens

so genügt uns sein Begriff von der Menschenseele auf keine Weise. Die per¬
sönliche Unsterblichkeit der Seele leugnet er zwar nicht, aber er spricht davon
mir ganz kurz als von einer Möglichkeit, ohne der ungeheuern Wich¬
tigkeit' dieser Möglichkeit für unser diesseitiges Leben auch nur mit einem Worte
zu gedenken. Die Wichtigkeit des Unsterblichkeitsglaubens liegt vorzugsweise
auf 'dem moralischen Gebiete, denn Moral ist freilich bei jeder Art von Glauben
und Unglauben möglich, aber, um es kurz und gerade herauszusagen, eme sitt¬
liche Weltordnung giebt es nicht, wenn es kein Jenseits, keine persönliche Fort¬
dauer nach dem Tode giebt, und mit dem Glauben daran füllt auch einer der
"mächtigsten Antriebe weg zur Verwirklichung dessen, was an Anläufen zu einer
sittlichen Weltordnung hienieden geleistet werden kann. Es ist richtig, die
Moralgesetze sind, wie sie Paulsen nennt, Naturgesetze, aber keineswegs in dem
allgemeinen Sinne, wie er es darstellt, sondern nur in dem doppelten Sinne,
daß erstens die Moralität die geistige Gesundheit des edeln Menschen ist, und
daß zweitens die moralischen Empfindungen und Triebe zu den Kräften ge¬
hören, die alle Gebilde der menschlichen Gesellschaft aufbauen. Der weniger
moralische, der unmoralische Mensch, mag dem moralischen Beschauer krank
scheinen, er selbst sühlt sich nicht krank, sondern soweit seine Triebe Befriedi¬
gung finden, vollkommen wohl. Das Verlangen uach sinnlicher Befriedigung
ist in den meisten Menschen soviel stärker als das nach sittlicher Befriedigung,
daß es die Obrigkeiten allerorten für notwendig erachten, durch Zwangsma߬
regeln und Strafen wenigstens einen äußern Schein der Moralität aufrecht
erhalten, und daß der Kampf um die Güter, die leiblichen Genuß gewähren,
den Hauptinhalt der Weltgeschichte ausmacht. Das böse Gewissen ist in den
'"eisten Fällen nicht ein Gericht des Sünders über sich selbst, sondern Furcht
vor dem äußern Richter. Zur Erklärung dieser Beschaffenheit der Menschen¬
natur ist bekanntlich das Dogma von der Erbsünde erfunden worden. Und
die moralischen Triebe gehören zwar zu den Kräften, die Familien, Gemeinden,
Parteien, Stunde und Staaten aufbauen, aber es wäre falsch zu sagen, sie
seien diese Kräfte, vielmehr hat Empedokles mit seinem von Paulsen selbst bei-
Mig angeführten Ausspruche Recht, daß Liebe und Haß die beiden Schöpfer¬
kräfte sind. Man muß daun allerdings beide im wejtesten Sinne, als An¬
siehung und Abstvßullg, verstehen; nimmt man sie im engern und eigentlichen
Sinne, so muß mau noch die ganze Reihe der übrigen Paare von entgegen¬
gesetzten Trieben hinzufügen: Habgier und Freigebigkeit, Zorn und Sanftmut,
Herrschsucht und Unterwürfigkeit, Sinnlichkeit und Erkenntnistrieb u. f. w.
Keiner dieser Triebe ist demi Ganzen entbehrlich, so wenig wie aus dem Haus¬
halte der Natur die zersetzenden und zerstörenden Kräfte hinweggedacht werden
können, oder vielmehr die Wirkungen, die sie als zerstörende Kräfte erscheinen
lassen, denn es ist ja dieselbe Sonnenwärme, die den Baum erst aufbaut und
ehr dann später dnrch einen Sturmwind knickt. Nur mit großen Einschrän-


Die Philosophie Pilsens

so genügt uns sein Begriff von der Menschenseele auf keine Weise. Die per¬
sönliche Unsterblichkeit der Seele leugnet er zwar nicht, aber er spricht davon
mir ganz kurz als von einer Möglichkeit, ohne der ungeheuern Wich¬
tigkeit' dieser Möglichkeit für unser diesseitiges Leben auch nur mit einem Worte
zu gedenken. Die Wichtigkeit des Unsterblichkeitsglaubens liegt vorzugsweise
auf 'dem moralischen Gebiete, denn Moral ist freilich bei jeder Art von Glauben
und Unglauben möglich, aber, um es kurz und gerade herauszusagen, eme sitt¬
liche Weltordnung giebt es nicht, wenn es kein Jenseits, keine persönliche Fort¬
dauer nach dem Tode giebt, und mit dem Glauben daran füllt auch einer der
»mächtigsten Antriebe weg zur Verwirklichung dessen, was an Anläufen zu einer
sittlichen Weltordnung hienieden geleistet werden kann. Es ist richtig, die
Moralgesetze sind, wie sie Paulsen nennt, Naturgesetze, aber keineswegs in dem
allgemeinen Sinne, wie er es darstellt, sondern nur in dem doppelten Sinne,
daß erstens die Moralität die geistige Gesundheit des edeln Menschen ist, und
daß zweitens die moralischen Empfindungen und Triebe zu den Kräften ge¬
hören, die alle Gebilde der menschlichen Gesellschaft aufbauen. Der weniger
moralische, der unmoralische Mensch, mag dem moralischen Beschauer krank
scheinen, er selbst sühlt sich nicht krank, sondern soweit seine Triebe Befriedi¬
gung finden, vollkommen wohl. Das Verlangen uach sinnlicher Befriedigung
ist in den meisten Menschen soviel stärker als das nach sittlicher Befriedigung,
daß es die Obrigkeiten allerorten für notwendig erachten, durch Zwangsma߬
regeln und Strafen wenigstens einen äußern Schein der Moralität aufrecht
erhalten, und daß der Kampf um die Güter, die leiblichen Genuß gewähren,
den Hauptinhalt der Weltgeschichte ausmacht. Das böse Gewissen ist in den
'"eisten Fällen nicht ein Gericht des Sünders über sich selbst, sondern Furcht
vor dem äußern Richter. Zur Erklärung dieser Beschaffenheit der Menschen¬
natur ist bekanntlich das Dogma von der Erbsünde erfunden worden. Und
die moralischen Triebe gehören zwar zu den Kräften, die Familien, Gemeinden,
Parteien, Stunde und Staaten aufbauen, aber es wäre falsch zu sagen, sie
seien diese Kräfte, vielmehr hat Empedokles mit seinem von Paulsen selbst bei-
Mig angeführten Ausspruche Recht, daß Liebe und Haß die beiden Schöpfer¬
kräfte sind. Man muß daun allerdings beide im wejtesten Sinne, als An¬
siehung und Abstvßullg, verstehen; nimmt man sie im engern und eigentlichen
Sinne, so muß mau noch die ganze Reihe der übrigen Paare von entgegen¬
gesetzten Trieben hinzufügen: Habgier und Freigebigkeit, Zorn und Sanftmut,
Herrschsucht und Unterwürfigkeit, Sinnlichkeit und Erkenntnistrieb u. f. w.
Keiner dieser Triebe ist demi Ganzen entbehrlich, so wenig wie aus dem Haus¬
halte der Natur die zersetzenden und zerstörenden Kräfte hinweggedacht werden
können, oder vielmehr die Wirkungen, die sie als zerstörende Kräfte erscheinen
lassen, denn es ist ja dieselbe Sonnenwärme, die den Baum erst aufbaut und
ehr dann später dnrch einen Sturmwind knickt. Nur mit großen Einschrän-


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[0023] Die Philosophie Pilsens so genügt uns sein Begriff von der Menschenseele auf keine Weise. Die per¬ sönliche Unsterblichkeit der Seele leugnet er zwar nicht, aber er spricht davon mir ganz kurz als von einer Möglichkeit, ohne der ungeheuern Wich¬ tigkeit' dieser Möglichkeit für unser diesseitiges Leben auch nur mit einem Worte zu gedenken. Die Wichtigkeit des Unsterblichkeitsglaubens liegt vorzugsweise auf 'dem moralischen Gebiete, denn Moral ist freilich bei jeder Art von Glauben und Unglauben möglich, aber, um es kurz und gerade herauszusagen, eme sitt¬ liche Weltordnung giebt es nicht, wenn es kein Jenseits, keine persönliche Fort¬ dauer nach dem Tode giebt, und mit dem Glauben daran füllt auch einer der »mächtigsten Antriebe weg zur Verwirklichung dessen, was an Anläufen zu einer sittlichen Weltordnung hienieden geleistet werden kann. Es ist richtig, die Moralgesetze sind, wie sie Paulsen nennt, Naturgesetze, aber keineswegs in dem allgemeinen Sinne, wie er es darstellt, sondern nur in dem doppelten Sinne, daß erstens die Moralität die geistige Gesundheit des edeln Menschen ist, und daß zweitens die moralischen Empfindungen und Triebe zu den Kräften ge¬ hören, die alle Gebilde der menschlichen Gesellschaft aufbauen. Der weniger moralische, der unmoralische Mensch, mag dem moralischen Beschauer krank scheinen, er selbst sühlt sich nicht krank, sondern soweit seine Triebe Befriedi¬ gung finden, vollkommen wohl. Das Verlangen uach sinnlicher Befriedigung ist in den meisten Menschen soviel stärker als das nach sittlicher Befriedigung, daß es die Obrigkeiten allerorten für notwendig erachten, durch Zwangsma߬ regeln und Strafen wenigstens einen äußern Schein der Moralität aufrecht erhalten, und daß der Kampf um die Güter, die leiblichen Genuß gewähren, den Hauptinhalt der Weltgeschichte ausmacht. Das böse Gewissen ist in den '"eisten Fällen nicht ein Gericht des Sünders über sich selbst, sondern Furcht vor dem äußern Richter. Zur Erklärung dieser Beschaffenheit der Menschen¬ natur ist bekanntlich das Dogma von der Erbsünde erfunden worden. Und die moralischen Triebe gehören zwar zu den Kräften, die Familien, Gemeinden, Parteien, Stunde und Staaten aufbauen, aber es wäre falsch zu sagen, sie seien diese Kräfte, vielmehr hat Empedokles mit seinem von Paulsen selbst bei- Mig angeführten Ausspruche Recht, daß Liebe und Haß die beiden Schöpfer¬ kräfte sind. Man muß daun allerdings beide im wejtesten Sinne, als An¬ siehung und Abstvßullg, verstehen; nimmt man sie im engern und eigentlichen Sinne, so muß mau noch die ganze Reihe der übrigen Paare von entgegen¬ gesetzten Trieben hinzufügen: Habgier und Freigebigkeit, Zorn und Sanftmut, Herrschsucht und Unterwürfigkeit, Sinnlichkeit und Erkenntnistrieb u. f. w. Keiner dieser Triebe ist demi Ganzen entbehrlich, so wenig wie aus dem Haus¬ halte der Natur die zersetzenden und zerstörenden Kräfte hinweggedacht werden können, oder vielmehr die Wirkungen, die sie als zerstörende Kräfte erscheinen lassen, denn es ist ja dieselbe Sonnenwärme, die den Baum erst aufbaut und ehr dann später dnrch einen Sturmwind knickt. Nur mit großen Einschrän-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/23>, abgerufen am 30.06.2024.