Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Europa und England

Daher der häufig wiederholte Vorwurf, Deutschland plane neue Kriege. Die
Erklnrnngen Kaiser Wilhelms I., seine Pflicht sei, "den Frieden zu schützen,"
"allezeit Mehrer des Reiches zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen" u. s. w.,
fanden zunächst keinen Glauben. Osterreich und Frankreich beeilten über Hals
und Kopf ihre militärische Neuorganisation, und Frankreich verbarritadirte seine
Ostgrenze in keineswegs durchaus nützlicher Weise. Italien sah sich genötigt,
dem Beispiele seiner mächtigern Nachbarn zu folgen. Zeitweilige Heraus¬
forderungen ans Frankreich bestätigten nur die Thatsache, daß die, die Furcht
haben, vielfach ihren Mut in überlauter und oft unziemlicher Weise betonen
zu müssen glauben. Nur Nußland schien anfangs von dieser Furcht nichts
zu verspüren. Die Russen hatten zwar in ihrer Gesamtheit den Franzosen
den Sieg gewünscht und waren darum über die beispiellosen Siege der Deutschen
in hohem Maße erstaunt, aber die innigen Beziehungen der Negentenhäuser
schlössen für sie jeden Krieg zwischen Deutschland und Rußland aus. Fürst
Gortschakoff war der erste, der den Samen der Furcht vor Deutschland auch
in Rußland ausstreute, nachdem der erneute russische Versuch, Bevvrmundnngs-
politik zu üben, in Berlin auf kühle Ablehnung gestoßen war und seine staats¬
männische Eitelkeit auf dem Berliner Kongreß trotz der "ehrlichen Maklerschaft"
des Fürsten Bismarck keine Befriedigung gefunden hatte. Von da an begann
die Vorschiebung des durch die allgemeine Wehrpflicht verdoppelten russischen
Heeres nach der Westgrenze: ein sprechendes Gegenstück zu der starken Be¬
festigung des Ostens ans Seiten Frankreichs. Nach der Thronbesteigung des
mißtrauische" Kaisers Alexander III. wurde das Verfahren fortgesetzt. Es sollte
der doppelte Zweck erreicht werden, Deutschland einen Einfall nach Nußland
unmöglich zu machen und die diplomatische Stellung Rußlands zu verbessern.
Beide Zwecke sind nicht erreicht worden; der erste nicht, weil er überhaupt
gegenstandslos war, und der zweite wurde gleich von vornherein durch das
Bündnis mit Österreich vereitelt, das sich später zum Dreibuud erweiterte.
Österreich hatte zuerst die Furcht vor Deutschland fallen lasse". Sie schien
überhaupt während der letzten Lebensjahre des Kaisers Wilhelm I. geschwunden
zu sein, weil man überzeugt war, wegen des hohen Alters des Monarchen
werde Deutschland nur im äußersten Notfalle zum Kriege schreiten. Der in
politischen Dingen gänzlich urteilslose Boulanger täuschte sich über diese Sach¬
lage so weit, daß er 1887 an ernste kriegerische Verwicklungen mit Deutschland
dachte und nur -- zum Glück Frankreichs -- mit Mühe von verständigen Leuten
davon abgehalten und endlich beseitigt wurde. Als Kaiser Wilhelm II. zur
Regierung kam, erwachte die Furcht vor Deutschland von neuem, und Frank¬
reich näherte sich Rußland noch mehr. Dieses Verhältnis steigerte sich im
Jahre 1891 zum Höhepunkt, als zu gleicher Zeit von Italien aus die Er¬
neuerung des Dreibundes etwas laut verkündet wurde und ein Teil der Presse
in dem feierlichen Besuch Kaiser Wilhelms in England einen Beweis für den


Europa und England

Daher der häufig wiederholte Vorwurf, Deutschland plane neue Kriege. Die
Erklnrnngen Kaiser Wilhelms I., seine Pflicht sei, „den Frieden zu schützen,"
„allezeit Mehrer des Reiches zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen" u. s. w.,
fanden zunächst keinen Glauben. Osterreich und Frankreich beeilten über Hals
und Kopf ihre militärische Neuorganisation, und Frankreich verbarritadirte seine
Ostgrenze in keineswegs durchaus nützlicher Weise. Italien sah sich genötigt,
dem Beispiele seiner mächtigern Nachbarn zu folgen. Zeitweilige Heraus¬
forderungen ans Frankreich bestätigten nur die Thatsache, daß die, die Furcht
haben, vielfach ihren Mut in überlauter und oft unziemlicher Weise betonen
zu müssen glauben. Nur Nußland schien anfangs von dieser Furcht nichts
zu verspüren. Die Russen hatten zwar in ihrer Gesamtheit den Franzosen
den Sieg gewünscht und waren darum über die beispiellosen Siege der Deutschen
in hohem Maße erstaunt, aber die innigen Beziehungen der Negentenhäuser
schlössen für sie jeden Krieg zwischen Deutschland und Rußland aus. Fürst
Gortschakoff war der erste, der den Samen der Furcht vor Deutschland auch
in Rußland ausstreute, nachdem der erneute russische Versuch, Bevvrmundnngs-
politik zu üben, in Berlin auf kühle Ablehnung gestoßen war und seine staats¬
männische Eitelkeit auf dem Berliner Kongreß trotz der „ehrlichen Maklerschaft"
des Fürsten Bismarck keine Befriedigung gefunden hatte. Von da an begann
die Vorschiebung des durch die allgemeine Wehrpflicht verdoppelten russischen
Heeres nach der Westgrenze: ein sprechendes Gegenstück zu der starken Be¬
festigung des Ostens ans Seiten Frankreichs. Nach der Thronbesteigung des
mißtrauische» Kaisers Alexander III. wurde das Verfahren fortgesetzt. Es sollte
der doppelte Zweck erreicht werden, Deutschland einen Einfall nach Nußland
unmöglich zu machen und die diplomatische Stellung Rußlands zu verbessern.
Beide Zwecke sind nicht erreicht worden; der erste nicht, weil er überhaupt
gegenstandslos war, und der zweite wurde gleich von vornherein durch das
Bündnis mit Österreich vereitelt, das sich später zum Dreibuud erweiterte.
Österreich hatte zuerst die Furcht vor Deutschland fallen lasse». Sie schien
überhaupt während der letzten Lebensjahre des Kaisers Wilhelm I. geschwunden
zu sein, weil man überzeugt war, wegen des hohen Alters des Monarchen
werde Deutschland nur im äußersten Notfalle zum Kriege schreiten. Der in
politischen Dingen gänzlich urteilslose Boulanger täuschte sich über diese Sach¬
lage so weit, daß er 1887 an ernste kriegerische Verwicklungen mit Deutschland
dachte und nur — zum Glück Frankreichs — mit Mühe von verständigen Leuten
davon abgehalten und endlich beseitigt wurde. Als Kaiser Wilhelm II. zur
Regierung kam, erwachte die Furcht vor Deutschland von neuem, und Frank¬
reich näherte sich Rußland noch mehr. Dieses Verhältnis steigerte sich im
Jahre 1891 zum Höhepunkt, als zu gleicher Zeit von Italien aus die Er¬
neuerung des Dreibundes etwas laut verkündet wurde und ein Teil der Presse
in dem feierlichen Besuch Kaiser Wilhelms in England einen Beweis für den


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0155" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215879"/>
          <fw type="header" place="top"> Europa und England</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_418" prev="#ID_417" next="#ID_419"> Daher der häufig wiederholte Vorwurf, Deutschland plane neue Kriege. Die<lb/>
Erklnrnngen Kaiser Wilhelms I., seine Pflicht sei, &#x201E;den Frieden zu schützen,"<lb/>
&#x201E;allezeit Mehrer des Reiches zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen" u. s. w.,<lb/>
fanden zunächst keinen Glauben. Osterreich und Frankreich beeilten über Hals<lb/>
und Kopf ihre militärische Neuorganisation, und Frankreich verbarritadirte seine<lb/>
Ostgrenze in keineswegs durchaus nützlicher Weise. Italien sah sich genötigt,<lb/>
dem Beispiele seiner mächtigern Nachbarn zu folgen. Zeitweilige Heraus¬<lb/>
forderungen ans Frankreich bestätigten nur die Thatsache, daß die, die Furcht<lb/>
haben, vielfach ihren Mut in überlauter und oft unziemlicher Weise betonen<lb/>
zu müssen glauben. Nur Nußland schien anfangs von dieser Furcht nichts<lb/>
zu verspüren. Die Russen hatten zwar in ihrer Gesamtheit den Franzosen<lb/>
den Sieg gewünscht und waren darum über die beispiellosen Siege der Deutschen<lb/>
in hohem Maße erstaunt, aber die innigen Beziehungen der Negentenhäuser<lb/>
schlössen für sie jeden Krieg zwischen Deutschland und Rußland aus. Fürst<lb/>
Gortschakoff war der erste, der den Samen der Furcht vor Deutschland auch<lb/>
in Rußland ausstreute, nachdem der erneute russische Versuch, Bevvrmundnngs-<lb/>
politik zu üben, in Berlin auf kühle Ablehnung gestoßen war und seine staats¬<lb/>
männische Eitelkeit auf dem Berliner Kongreß trotz der &#x201E;ehrlichen Maklerschaft"<lb/>
des Fürsten Bismarck keine Befriedigung gefunden hatte. Von da an begann<lb/>
die Vorschiebung des durch die allgemeine Wehrpflicht verdoppelten russischen<lb/>
Heeres nach der Westgrenze: ein sprechendes Gegenstück zu der starken Be¬<lb/>
festigung des Ostens ans Seiten Frankreichs. Nach der Thronbesteigung des<lb/>
mißtrauische» Kaisers Alexander III. wurde das Verfahren fortgesetzt. Es sollte<lb/>
der doppelte Zweck erreicht werden, Deutschland einen Einfall nach Nußland<lb/>
unmöglich zu machen und die diplomatische Stellung Rußlands zu verbessern.<lb/>
Beide Zwecke sind nicht erreicht worden; der erste nicht, weil er überhaupt<lb/>
gegenstandslos war, und der zweite wurde gleich von vornherein durch das<lb/>
Bündnis mit Österreich vereitelt, das sich später zum Dreibuud erweiterte.<lb/>
Österreich hatte zuerst die Furcht vor Deutschland fallen lasse». Sie schien<lb/>
überhaupt während der letzten Lebensjahre des Kaisers Wilhelm I. geschwunden<lb/>
zu sein, weil man überzeugt war, wegen des hohen Alters des Monarchen<lb/>
werde Deutschland nur im äußersten Notfalle zum Kriege schreiten. Der in<lb/>
politischen Dingen gänzlich urteilslose Boulanger täuschte sich über diese Sach¬<lb/>
lage so weit, daß er 1887 an ernste kriegerische Verwicklungen mit Deutschland<lb/>
dachte und nur &#x2014; zum Glück Frankreichs &#x2014; mit Mühe von verständigen Leuten<lb/>
davon abgehalten und endlich beseitigt wurde. Als Kaiser Wilhelm II. zur<lb/>
Regierung kam, erwachte die Furcht vor Deutschland von neuem, und Frank¬<lb/>
reich näherte sich Rußland noch mehr. Dieses Verhältnis steigerte sich im<lb/>
Jahre 1891 zum Höhepunkt, als zu gleicher Zeit von Italien aus die Er¬<lb/>
neuerung des Dreibundes etwas laut verkündet wurde und ein Teil der Presse<lb/>
in dem feierlichen Besuch Kaiser Wilhelms in England einen Beweis für den</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0155] Europa und England Daher der häufig wiederholte Vorwurf, Deutschland plane neue Kriege. Die Erklnrnngen Kaiser Wilhelms I., seine Pflicht sei, „den Frieden zu schützen," „allezeit Mehrer des Reiches zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen" u. s. w., fanden zunächst keinen Glauben. Osterreich und Frankreich beeilten über Hals und Kopf ihre militärische Neuorganisation, und Frankreich verbarritadirte seine Ostgrenze in keineswegs durchaus nützlicher Weise. Italien sah sich genötigt, dem Beispiele seiner mächtigern Nachbarn zu folgen. Zeitweilige Heraus¬ forderungen ans Frankreich bestätigten nur die Thatsache, daß die, die Furcht haben, vielfach ihren Mut in überlauter und oft unziemlicher Weise betonen zu müssen glauben. Nur Nußland schien anfangs von dieser Furcht nichts zu verspüren. Die Russen hatten zwar in ihrer Gesamtheit den Franzosen den Sieg gewünscht und waren darum über die beispiellosen Siege der Deutschen in hohem Maße erstaunt, aber die innigen Beziehungen der Negentenhäuser schlössen für sie jeden Krieg zwischen Deutschland und Rußland aus. Fürst Gortschakoff war der erste, der den Samen der Furcht vor Deutschland auch in Rußland ausstreute, nachdem der erneute russische Versuch, Bevvrmundnngs- politik zu üben, in Berlin auf kühle Ablehnung gestoßen war und seine staats¬ männische Eitelkeit auf dem Berliner Kongreß trotz der „ehrlichen Maklerschaft" des Fürsten Bismarck keine Befriedigung gefunden hatte. Von da an begann die Vorschiebung des durch die allgemeine Wehrpflicht verdoppelten russischen Heeres nach der Westgrenze: ein sprechendes Gegenstück zu der starken Be¬ festigung des Ostens ans Seiten Frankreichs. Nach der Thronbesteigung des mißtrauische» Kaisers Alexander III. wurde das Verfahren fortgesetzt. Es sollte der doppelte Zweck erreicht werden, Deutschland einen Einfall nach Nußland unmöglich zu machen und die diplomatische Stellung Rußlands zu verbessern. Beide Zwecke sind nicht erreicht worden; der erste nicht, weil er überhaupt gegenstandslos war, und der zweite wurde gleich von vornherein durch das Bündnis mit Österreich vereitelt, das sich später zum Dreibuud erweiterte. Österreich hatte zuerst die Furcht vor Deutschland fallen lasse». Sie schien überhaupt während der letzten Lebensjahre des Kaisers Wilhelm I. geschwunden zu sein, weil man überzeugt war, wegen des hohen Alters des Monarchen werde Deutschland nur im äußersten Notfalle zum Kriege schreiten. Der in politischen Dingen gänzlich urteilslose Boulanger täuschte sich über diese Sach¬ lage so weit, daß er 1887 an ernste kriegerische Verwicklungen mit Deutschland dachte und nur — zum Glück Frankreichs — mit Mühe von verständigen Leuten davon abgehalten und endlich beseitigt wurde. Als Kaiser Wilhelm II. zur Regierung kam, erwachte die Furcht vor Deutschland von neuem, und Frank¬ reich näherte sich Rußland noch mehr. Dieses Verhältnis steigerte sich im Jahre 1891 zum Höhepunkt, als zu gleicher Zeit von Italien aus die Er¬ neuerung des Dreibundes etwas laut verkündet wurde und ein Teil der Presse in dem feierlichen Besuch Kaiser Wilhelms in England einen Beweis für den

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/155
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/155>, abgerufen am 02.07.2024.