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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Europa und England

das Verhalten des im Mai aufgelösten und des darnach neugewählten Reichs¬
tags anzusehen. Fast uirgeuds sand sich die nüchterne Einsicht für das Not¬
wendige. Der heiße Wunsch, die Neichsregierung zur dauernden Festlegung
der zweijährigen Dienstpflicht zu nötigen, um sie in Zukunft damit zwicken
und zwacken zu können, beherrschte monatelang die Lage; die Abgeschmacktheit,
daß Deutschland eine jährliche Mehrausgabe von etwa sechzig Millionen nicht
mehr zu "erschwingen" vermöge, erging sich in populärer Breite; Leute, die
nie etwas vom Armeewesen verstanden und infolgedessen nichts davon gehalten
hatten, behaupteten mit dem Brustton der Überzeugung, uns Deutsche "könne
keiner," und sie zeigten nngeheucheltes Erstaunen, als der Reichskanzler schlicht
und kühl betonte, wir müßten im "Ernstfalle" doch mindestens stark genng sein,
den Krieg auf das feindliche Gebiet verlegen zu können. Schließlich stimmte"
die Parteien ab; mehr nach alter Gewohnheit als durchdrungen von der ""-
abweisliche" Notwendigkeit, daß Deutschland doch dem um zehn Millionen
schwächer bevölkerten Frankteich an Zahl überlegen sein müsse, wenn es nicht
der Möglichkeit einer zukünftigen militärischen Niederlage ausgesetzt sein wollte.
Ja die meisten deutschen Patrioten stellen sich den nächsten Krieg ungefähr so
vor: feindliche Kriegserklärung, große Begeisterung, Ausmarsch des "Volkes
in Waffen" nnter dem Gesang patriotischer Lieder; dann täglich dreimal Sieges-
depeschen, wöchentlich zweimal Gefangnendurchzüge, endlich Friedensschluß mit
beliebig viel Milliarde", Einzug der Truppen mit Festessen; schließlich große
Börsenhausse, allgemeine Glückseligkeit und unbändige Freiheit. Phantastereien
dieser Art koiuite man in den letzten Monaten ans den Bierbänken von den
"Gesinnnngstüchtigen" vielfach hören, und wir zweifeln nicht daran, daß anch
im Reichstage unter den "Auserwählten des Volkes" solche Leute gesessen
haben. Allenthalben trat eine durchaus unberechtigte Vertrauensseligkeit ans
ganz unerhörte Waffenleistungen der deutschen Armee zu Tage, daneben eine
ebenso unberechtigte Bangigkeit vor dem Kriegsdurft unsrer Nachbarn, selten
war ein klarer Einblick in das Thatsächliche und Wesentliche, eine verständige
Unterscheidung zwischen Notwendigein und Überflüssigem vorhanden.

Wir können es uns nicht verhehlen, daß mau im Ausland über derartige
Dinge während der letzten fünfundzwanzig Jahre immer klarer gewesen ist.
An parlamentarischen und sonstigen inner" Einrichtungen uns gleich oder sogar
voraus, erkannte man in den gewaltig erschütternde" deutschen Siegen nur die
Folge" der allgemeine" Wehrpflicht, die ein ""gemei" zahlreiches, nicht dnrch
Loskaus und Stellvertretung um eine" Teil seiner beste" Bestandteile gebrachtes
Heeresmaterial liefert, einer vorzüglichen Militärorganisation und eines in seiner
Art einzig zusammengesetzt, Offizierkorps: alles preußische und auf Gesamt¬
deutschland übertragne Einrichtungen. Man suchte sich dieselben Vorteile zu
sichern und hat bis heute daran gearbeitet, aber immer uiiter dem Drucke der
Furcht, Deutschland könne noch einmal seine Überlegenheit geltend machen.


Europa und England

das Verhalten des im Mai aufgelösten und des darnach neugewählten Reichs¬
tags anzusehen. Fast uirgeuds sand sich die nüchterne Einsicht für das Not¬
wendige. Der heiße Wunsch, die Neichsregierung zur dauernden Festlegung
der zweijährigen Dienstpflicht zu nötigen, um sie in Zukunft damit zwicken
und zwacken zu können, beherrschte monatelang die Lage; die Abgeschmacktheit,
daß Deutschland eine jährliche Mehrausgabe von etwa sechzig Millionen nicht
mehr zu „erschwingen" vermöge, erging sich in populärer Breite; Leute, die
nie etwas vom Armeewesen verstanden und infolgedessen nichts davon gehalten
hatten, behaupteten mit dem Brustton der Überzeugung, uns Deutsche „könne
keiner," und sie zeigten nngeheucheltes Erstaunen, als der Reichskanzler schlicht
und kühl betonte, wir müßten im „Ernstfalle" doch mindestens stark genng sein,
den Krieg auf das feindliche Gebiet verlegen zu können. Schließlich stimmte»
die Parteien ab; mehr nach alter Gewohnheit als durchdrungen von der »»-
abweisliche» Notwendigkeit, daß Deutschland doch dem um zehn Millionen
schwächer bevölkerten Frankteich an Zahl überlegen sein müsse, wenn es nicht
der Möglichkeit einer zukünftigen militärischen Niederlage ausgesetzt sein wollte.
Ja die meisten deutschen Patrioten stellen sich den nächsten Krieg ungefähr so
vor: feindliche Kriegserklärung, große Begeisterung, Ausmarsch des „Volkes
in Waffen" nnter dem Gesang patriotischer Lieder; dann täglich dreimal Sieges-
depeschen, wöchentlich zweimal Gefangnendurchzüge, endlich Friedensschluß mit
beliebig viel Milliarde», Einzug der Truppen mit Festessen; schließlich große
Börsenhausse, allgemeine Glückseligkeit und unbändige Freiheit. Phantastereien
dieser Art koiuite man in den letzten Monaten ans den Bierbänken von den
„Gesinnnngstüchtigen" vielfach hören, und wir zweifeln nicht daran, daß anch
im Reichstage unter den „Auserwählten des Volkes" solche Leute gesessen
haben. Allenthalben trat eine durchaus unberechtigte Vertrauensseligkeit ans
ganz unerhörte Waffenleistungen der deutschen Armee zu Tage, daneben eine
ebenso unberechtigte Bangigkeit vor dem Kriegsdurft unsrer Nachbarn, selten
war ein klarer Einblick in das Thatsächliche und Wesentliche, eine verständige
Unterscheidung zwischen Notwendigein und Überflüssigem vorhanden.

Wir können es uns nicht verhehlen, daß mau im Ausland über derartige
Dinge während der letzten fünfundzwanzig Jahre immer klarer gewesen ist.
An parlamentarischen und sonstigen inner» Einrichtungen uns gleich oder sogar
voraus, erkannte man in den gewaltig erschütternde» deutschen Siegen nur die
Folge» der allgemeine» Wehrpflicht, die ein »»gemei» zahlreiches, nicht dnrch
Loskaus und Stellvertretung um eine» Teil seiner beste» Bestandteile gebrachtes
Heeresmaterial liefert, einer vorzüglichen Militärorganisation und eines in seiner
Art einzig zusammengesetzt, Offizierkorps: alles preußische und auf Gesamt¬
deutschland übertragne Einrichtungen. Man suchte sich dieselben Vorteile zu
sichern und hat bis heute daran gearbeitet, aber immer uiiter dem Drucke der
Furcht, Deutschland könne noch einmal seine Überlegenheit geltend machen.


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[0154] Europa und England das Verhalten des im Mai aufgelösten und des darnach neugewählten Reichs¬ tags anzusehen. Fast uirgeuds sand sich die nüchterne Einsicht für das Not¬ wendige. Der heiße Wunsch, die Neichsregierung zur dauernden Festlegung der zweijährigen Dienstpflicht zu nötigen, um sie in Zukunft damit zwicken und zwacken zu können, beherrschte monatelang die Lage; die Abgeschmacktheit, daß Deutschland eine jährliche Mehrausgabe von etwa sechzig Millionen nicht mehr zu „erschwingen" vermöge, erging sich in populärer Breite; Leute, die nie etwas vom Armeewesen verstanden und infolgedessen nichts davon gehalten hatten, behaupteten mit dem Brustton der Überzeugung, uns Deutsche „könne keiner," und sie zeigten nngeheucheltes Erstaunen, als der Reichskanzler schlicht und kühl betonte, wir müßten im „Ernstfalle" doch mindestens stark genng sein, den Krieg auf das feindliche Gebiet verlegen zu können. Schließlich stimmte» die Parteien ab; mehr nach alter Gewohnheit als durchdrungen von der »»- abweisliche» Notwendigkeit, daß Deutschland doch dem um zehn Millionen schwächer bevölkerten Frankteich an Zahl überlegen sein müsse, wenn es nicht der Möglichkeit einer zukünftigen militärischen Niederlage ausgesetzt sein wollte. Ja die meisten deutschen Patrioten stellen sich den nächsten Krieg ungefähr so vor: feindliche Kriegserklärung, große Begeisterung, Ausmarsch des „Volkes in Waffen" nnter dem Gesang patriotischer Lieder; dann täglich dreimal Sieges- depeschen, wöchentlich zweimal Gefangnendurchzüge, endlich Friedensschluß mit beliebig viel Milliarde», Einzug der Truppen mit Festessen; schließlich große Börsenhausse, allgemeine Glückseligkeit und unbändige Freiheit. Phantastereien dieser Art koiuite man in den letzten Monaten ans den Bierbänken von den „Gesinnnngstüchtigen" vielfach hören, und wir zweifeln nicht daran, daß anch im Reichstage unter den „Auserwählten des Volkes" solche Leute gesessen haben. Allenthalben trat eine durchaus unberechtigte Vertrauensseligkeit ans ganz unerhörte Waffenleistungen der deutschen Armee zu Tage, daneben eine ebenso unberechtigte Bangigkeit vor dem Kriegsdurft unsrer Nachbarn, selten war ein klarer Einblick in das Thatsächliche und Wesentliche, eine verständige Unterscheidung zwischen Notwendigein und Überflüssigem vorhanden. Wir können es uns nicht verhehlen, daß mau im Ausland über derartige Dinge während der letzten fünfundzwanzig Jahre immer klarer gewesen ist. An parlamentarischen und sonstigen inner» Einrichtungen uns gleich oder sogar voraus, erkannte man in den gewaltig erschütternde» deutschen Siegen nur die Folge» der allgemeine» Wehrpflicht, die ein »»gemei» zahlreiches, nicht dnrch Loskaus und Stellvertretung um eine» Teil seiner beste» Bestandteile gebrachtes Heeresmaterial liefert, einer vorzüglichen Militärorganisation und eines in seiner Art einzig zusammengesetzt, Offizierkorps: alles preußische und auf Gesamt¬ deutschland übertragne Einrichtungen. Man suchte sich dieselben Vorteile zu sichern und hat bis heute daran gearbeitet, aber immer uiiter dem Drucke der Furcht, Deutschland könne noch einmal seine Überlegenheit geltend machen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/154>, abgerufen am 30.06.2024.