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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Zum Geschichtsunterricht an deu höhorn Lehranstalten

holen? Gewiß, sie brauchen ja nur Werke wie die von Röscher, Schaffte,
Nodbertus, Lamprecht u. a, gründlich durchzustudiren. Recht schön. Aber
wenn jemand wöchentlich einundzwanzig Stunden, darunter z. B. zwölf Ge-
schichtsstunden in den obersten Klassen, zu geben und sich darauf namentlich
wegen des geforderten sogenannten freien Vertrags (der selbst auf Universitäten
noch immer selten sein soll) gehörig vorzubereiten, so und so viel Aufsätze zu
korrigiren, gelegentlich Berichte zu liefern, Vertretung zu leisten, Beratungen
beizuwohnen hat, wenn er sich serner in einen ihm neu übertragneu Lehr-
gegenstand, dem er bisher ziemlich fern gestanden hat, einarbeiten muß und
es bei alledem als seine Pflicht ansieht, stets mit der Wissenschaft fortzuschreiten,
wo in aller Welt soll da die Zeit herkommen, sich gründlich in Staatswissen¬
schaft und Volkswirtschaft zu vertiefen? Nur deu Röscher durchzuarbeiten
kostet schon Monate ungestörten Studiums. Deshalb lege die Negierung
nicht eine gar zu große Sparsamkeit an den Tag, beschränke vielmehr die Zahl
der Pflichtstnnden je nach den Verhältnissen. Nur dann kann wirklich ge¬
nügende Zeit zu frischem, fröhlichem Fortschreiten mit der Wissenschaft bleiben,
ohne Gefahr, daß der Lehrer frühzeitig verbraucht wird, und uur dann werden
die Hilferufe uubeschüftigter Hilfslehrer nicht so oft ungehört Verhalten.

Und um noch etwas andres. Lorenz hat den sehr beachtenswerten Vor¬
schlag gemacht, kleine Kurse von geschichtlichen Vorlesungen über einzelne inter¬
essante Themen für allgemeine Bilduugszwecke mit Rücksicht auf die öffent-
lichen und Staatsangelegenheiten zu halten. Daß auf diese Weise eine Reihe
wertvoller politischer Gedanken und geschichtlicher Eindrücke mit ins Leben
genommen werden würde, dürfte nicht zu bezweifeln sein. Können nun -- so
frage ich -- solche Kurse nicht auch besonders für Geschichtslehrer an höhern
'Lehranstalten, namentlich für ältere, gehalten werden? Auf andern Gebieten giebt
es ja schon Ferienkurse. Wenn auch nur zwei Wochen laug täglich ein paar
Stunden von berufner Seite mit Rücksicht auf den besondern Zweck über
Themen wie: Grundbegriffe der Volkswirtschaftslehre, die soziale Frage seit
Louis Vlane, die deutschen Einheitsbestrebungen seit 1815, Grundzüge der
deutschen Verfassungskunde u. s. w. gesprochen würde, so wäre davon sicherlich
eine wesentliche Förderung des geschichtlichen Studiums und Unterrichts zu
erwarten, und die Gefahr, daß mancher eben erst von ihm selbst gelernte und
bei ihm noch nicht gehörig ausgereifte Dinge mit seinen Schülern besprechen
muß, würde wesentlich verringert werden. Ohne daß der Staat, die Städte, die
einzelnen Personen Opfer bringen, ist so etwas natürlich nicht durchzuführen,
aber der Erfolg würde diese Opfer doch wohl lohnen. Dann wird hoffentlich
die Zeit kommen, wo der Geschichtsunterricht nicht mehr das ist, als was ihn
Herbst schon vor fünfundzwanzig Jahren bezeichnete: das Sorgenkind unsrer
Didaktik.




Zum Geschichtsunterricht an deu höhorn Lehranstalten

holen? Gewiß, sie brauchen ja nur Werke wie die von Röscher, Schaffte,
Nodbertus, Lamprecht u. a, gründlich durchzustudiren. Recht schön. Aber
wenn jemand wöchentlich einundzwanzig Stunden, darunter z. B. zwölf Ge-
schichtsstunden in den obersten Klassen, zu geben und sich darauf namentlich
wegen des geforderten sogenannten freien Vertrags (der selbst auf Universitäten
noch immer selten sein soll) gehörig vorzubereiten, so und so viel Aufsätze zu
korrigiren, gelegentlich Berichte zu liefern, Vertretung zu leisten, Beratungen
beizuwohnen hat, wenn er sich serner in einen ihm neu übertragneu Lehr-
gegenstand, dem er bisher ziemlich fern gestanden hat, einarbeiten muß und
es bei alledem als seine Pflicht ansieht, stets mit der Wissenschaft fortzuschreiten,
wo in aller Welt soll da die Zeit herkommen, sich gründlich in Staatswissen¬
schaft und Volkswirtschaft zu vertiefen? Nur deu Röscher durchzuarbeiten
kostet schon Monate ungestörten Studiums. Deshalb lege die Negierung
nicht eine gar zu große Sparsamkeit an den Tag, beschränke vielmehr die Zahl
der Pflichtstnnden je nach den Verhältnissen. Nur dann kann wirklich ge¬
nügende Zeit zu frischem, fröhlichem Fortschreiten mit der Wissenschaft bleiben,
ohne Gefahr, daß der Lehrer frühzeitig verbraucht wird, und uur dann werden
die Hilferufe uubeschüftigter Hilfslehrer nicht so oft ungehört Verhalten.

Und um noch etwas andres. Lorenz hat den sehr beachtenswerten Vor¬
schlag gemacht, kleine Kurse von geschichtlichen Vorlesungen über einzelne inter¬
essante Themen für allgemeine Bilduugszwecke mit Rücksicht auf die öffent-
lichen und Staatsangelegenheiten zu halten. Daß auf diese Weise eine Reihe
wertvoller politischer Gedanken und geschichtlicher Eindrücke mit ins Leben
genommen werden würde, dürfte nicht zu bezweifeln sein. Können nun — so
frage ich — solche Kurse nicht auch besonders für Geschichtslehrer an höhern
'Lehranstalten, namentlich für ältere, gehalten werden? Auf andern Gebieten giebt
es ja schon Ferienkurse. Wenn auch nur zwei Wochen laug täglich ein paar
Stunden von berufner Seite mit Rücksicht auf den besondern Zweck über
Themen wie: Grundbegriffe der Volkswirtschaftslehre, die soziale Frage seit
Louis Vlane, die deutschen Einheitsbestrebungen seit 1815, Grundzüge der
deutschen Verfassungskunde u. s. w. gesprochen würde, so wäre davon sicherlich
eine wesentliche Förderung des geschichtlichen Studiums und Unterrichts zu
erwarten, und die Gefahr, daß mancher eben erst von ihm selbst gelernte und
bei ihm noch nicht gehörig ausgereifte Dinge mit seinen Schülern besprechen
muß, würde wesentlich verringert werden. Ohne daß der Staat, die Städte, die
einzelnen Personen Opfer bringen, ist so etwas natürlich nicht durchzuführen,
aber der Erfolg würde diese Opfer doch wohl lohnen. Dann wird hoffentlich
die Zeit kommen, wo der Geschichtsunterricht nicht mehr das ist, als was ihn
Herbst schon vor fünfundzwanzig Jahren bezeichnete: das Sorgenkind unsrer
Didaktik.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/138>, abgerufen am 22.07.2024.