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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Die Ziele der gegenwärtigen Litteraturbewegung
in Deutschland
Adolf Bartels von

NKon den Zielen einer Litteraturbewegung zu reden wird manchem
thöricht erscheinen. Erfüllt jede Litteratur die Aufgabe, das
Wesen der Zeit und des Volks, dem sie angehört, widerzu¬
spiegeln, so kann sie nicht gut ein Ziel haben; sie wird stets
vom Volks- und Zeitgeiste abhängig sein, und ihre Bewegung
wird dem Lause der geschichtlichen Entwicklung entsprechen, dem man ja auch
kein bestimmtes Ziel setzen kann. Wie die Geschichte, so ist auch die Litteratur
eines Volkes gewissermaßen ein organisches Gebilde, und wie man dem Baume
nicht zumutet, an dieser oder jener Stelle Zweige, Blätter, Blüten, Früchte
anzusetzen, sich nach einer bestimmten Richtung oder zu bestimmter Höhe zu
entwickeln, so kann man von der Litteratur nicht zu beliebiger Zeit Genies
und Talente, die Pflege bestimmter Gattungen, die Verfolgung gewisser Ideen
fordern. Aber der Baum treibt jedes Jahr, und an Talenten fehlt es nie.
Neben den schöpferischen Geistern der Litteratur treten jedoch auch kritisch an¬
gelegte hervor, ja neben der Kraft ruht im Künstler selber die Erkenntnis,
und so birgt die Litteratur, wie alles Menschliche, die Reflexion in sich, die sie
antreibt, sich Rechenschaft über sich selbst zu geben. Damit tauchen denn auch
natürlich bald "Tendenzen" und Ziele auf, die allerdings immer nur für die
Teilstrecken der Gesamtbewegung gelten, die die Litteraturgeschichte später
Perioden nennt.

Die Perioden der deutschen Litteratur haben, seitdem diese selbständig ge¬
worden ist -- das geschah bekanntlich mit Klopstocks Auftreten, nach 1740 --,
stets mit einer Art von Sturm und Drang eingesetzt. Aller dreißig Jahre
etwa, also den Menschenaltern entsprechend, hatten wir eine Sturm- und Drang-
bewegnng: um 1770 die vorzugsweise so genannte, um 1800 die Romantik,
um 1830 das junge Deutschland. Auch im Jahre 1860 war etwas wie
Sturm und Drang da, in dem Münchner Dichterkreise nämlich, freilich ein
recht zahmer, der sich hauptsächlich in Sammetröckeu, laugen Haaren und einem
den Malerkreisen nachgeahmten burschikosen Ton und Kneipenwesen be-




Die Ziele der gegenwärtigen Litteraturbewegung
in Deutschland
Adolf Bartels von

NKon den Zielen einer Litteraturbewegung zu reden wird manchem
thöricht erscheinen. Erfüllt jede Litteratur die Aufgabe, das
Wesen der Zeit und des Volks, dem sie angehört, widerzu¬
spiegeln, so kann sie nicht gut ein Ziel haben; sie wird stets
vom Volks- und Zeitgeiste abhängig sein, und ihre Bewegung
wird dem Lause der geschichtlichen Entwicklung entsprechen, dem man ja auch
kein bestimmtes Ziel setzen kann. Wie die Geschichte, so ist auch die Litteratur
eines Volkes gewissermaßen ein organisches Gebilde, und wie man dem Baume
nicht zumutet, an dieser oder jener Stelle Zweige, Blätter, Blüten, Früchte
anzusetzen, sich nach einer bestimmten Richtung oder zu bestimmter Höhe zu
entwickeln, so kann man von der Litteratur nicht zu beliebiger Zeit Genies
und Talente, die Pflege bestimmter Gattungen, die Verfolgung gewisser Ideen
fordern. Aber der Baum treibt jedes Jahr, und an Talenten fehlt es nie.
Neben den schöpferischen Geistern der Litteratur treten jedoch auch kritisch an¬
gelegte hervor, ja neben der Kraft ruht im Künstler selber die Erkenntnis,
und so birgt die Litteratur, wie alles Menschliche, die Reflexion in sich, die sie
antreibt, sich Rechenschaft über sich selbst zu geben. Damit tauchen denn auch
natürlich bald „Tendenzen" und Ziele auf, die allerdings immer nur für die
Teilstrecken der Gesamtbewegung gelten, die die Litteraturgeschichte später
Perioden nennt.

Die Perioden der deutschen Litteratur haben, seitdem diese selbständig ge¬
worden ist — das geschah bekanntlich mit Klopstocks Auftreten, nach 1740 —,
stets mit einer Art von Sturm und Drang eingesetzt. Aller dreißig Jahre
etwa, also den Menschenaltern entsprechend, hatten wir eine Sturm- und Drang-
bewegnng: um 1770 die vorzugsweise so genannte, um 1800 die Romantik,
um 1830 das junge Deutschland. Auch im Jahre 1860 war etwas wie
Sturm und Drang da, in dem Münchner Dichterkreise nämlich, freilich ein
recht zahmer, der sich hauptsächlich in Sammetröckeu, laugen Haaren und einem
den Malerkreisen nachgeahmten burschikosen Ton und Kneipenwesen be-


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[0139] [Abbildung] Die Ziele der gegenwärtigen Litteraturbewegung in Deutschland Adolf Bartels von NKon den Zielen einer Litteraturbewegung zu reden wird manchem thöricht erscheinen. Erfüllt jede Litteratur die Aufgabe, das Wesen der Zeit und des Volks, dem sie angehört, widerzu¬ spiegeln, so kann sie nicht gut ein Ziel haben; sie wird stets vom Volks- und Zeitgeiste abhängig sein, und ihre Bewegung wird dem Lause der geschichtlichen Entwicklung entsprechen, dem man ja auch kein bestimmtes Ziel setzen kann. Wie die Geschichte, so ist auch die Litteratur eines Volkes gewissermaßen ein organisches Gebilde, und wie man dem Baume nicht zumutet, an dieser oder jener Stelle Zweige, Blätter, Blüten, Früchte anzusetzen, sich nach einer bestimmten Richtung oder zu bestimmter Höhe zu entwickeln, so kann man von der Litteratur nicht zu beliebiger Zeit Genies und Talente, die Pflege bestimmter Gattungen, die Verfolgung gewisser Ideen fordern. Aber der Baum treibt jedes Jahr, und an Talenten fehlt es nie. Neben den schöpferischen Geistern der Litteratur treten jedoch auch kritisch an¬ gelegte hervor, ja neben der Kraft ruht im Künstler selber die Erkenntnis, und so birgt die Litteratur, wie alles Menschliche, die Reflexion in sich, die sie antreibt, sich Rechenschaft über sich selbst zu geben. Damit tauchen denn auch natürlich bald „Tendenzen" und Ziele auf, die allerdings immer nur für die Teilstrecken der Gesamtbewegung gelten, die die Litteraturgeschichte später Perioden nennt. Die Perioden der deutschen Litteratur haben, seitdem diese selbständig ge¬ worden ist — das geschah bekanntlich mit Klopstocks Auftreten, nach 1740 —, stets mit einer Art von Sturm und Drang eingesetzt. Aller dreißig Jahre etwa, also den Menschenaltern entsprechend, hatten wir eine Sturm- und Drang- bewegnng: um 1770 die vorzugsweise so genannte, um 1800 die Romantik, um 1830 das junge Deutschland. Auch im Jahre 1860 war etwas wie Sturm und Drang da, in dem Münchner Dichterkreise nämlich, freilich ein recht zahmer, der sich hauptsächlich in Sammetröckeu, laugen Haaren und einem den Malerkreisen nachgeahmten burschikosen Ton und Kneipenwesen be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/139>, abgerufen am 22.07.2024.