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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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mit einer weitverbreiteten Mißstimmung zu rechnen hat. daß sie die Masse der
Bevölkerung, wenn nicht für sich, so doch wenigstens nicht gegen sich hat,
den" sonst würde sie ihre Militärmacht jedenfalls vergrößern müssen. Dies
könnte aber wieder nicht durch bedeutende Vermehrung der europäischen Re-
gimenter geschehen, da England schon für deren gegenwärtigen Bestand nur mit
Mühe den Ersatz liefern kann. Man müßte noch weiter zu Sepoys greisen,
wie ja schon jetzt zwei Drittel des anglo-indischen Heeres, also rund 140000
Mann, aus einheimischen Regimentern bestehen. Es ist also eine Grund¬
bedingung sür die englische Herrschaft in Indien, daß England unter der ein-
gebornen Bevölkerung in beliebiger Zahl Söldner anwerben kann. Indien ist
in der Hauptsache durch die Sepoys erobert worden und kann nnr mit Hilfe
der Sepoys gehalten werden. Dank den eigentümlichen gesellschaftlichen Zu¬
ständen der Halbinsel stellen sich aber die eingebornen Söldner in Masse unter
die britischen Fahnen. Der Sepoy hat kein Vaterland, für dessen Freiheit zu
kämpfen ihm eine heilige Pflicht gehste. Kein Nationalgefühl hält ihn ab,
seine Dienste den Engländern anzubieten. Kein sittliches Band verknüpft ihn
mit der Masse der Bevölkerung. Dafür reizt seinen kriegerische"! Sinn der
Gedanke an die stolze Vergangenheit der britischen Fahnen, und es lockt ihn
die sichre Aussicht auf einen festen Sold und eine regelmäßige Pension. Der
Sepoy sieht in dem Briten nicht den Ausländer, er sieht in ihm nur den
sieggewohnten Führer, der treue Dienste gut belohnt. Und wie er, so urteilt
die Mehrzahl seiner Landsleute. Sie alle halten den englischen Kriegsdienst
nicht für schimpflich, sondern für ehrenvoll. Der Sepoy ist ihnen wegen seiner
Verbindung mit dem Fremdherrn nicht ein Gegenstand des Abscheus, sondern
ein Gegenstand des Neides und der Bewunderung, wegen seines Verhältnisses
zu einer unwiderstehlichen Macht. So ist es nur natürlich, daß sich die in¬
dischen Regimenter nicht, wie es anderwärts und anch in England selbst Miet¬
truppen zu thun Pflegen, ans dem Abschaum der Bevölkerung, sondern aus
den besten Elementen rekrutiren. Aber wie sehr muß einer Bevölkerung poli¬
tisches Selbstbewußtsein, Nationalgefühl abgebe", die so zu deuten vermag!

Indien ist nicht eigentlich durch die Engländer erobert worden, und so
ist seine Stellung zu England auch nicht die eines eroberten Landes zu einem
Eroberer. Als die deutscheu Stämme über die Provinzen des römischen Reichs
hereinbrachen, nahmen sie kraft des Rechts der Eroberung Besitz von dein ge¬
samte" Grund und Boden und überließen den frühern Einwohnern nnr die
Vebanung gegen einen bestimmten Zoll, oder sie nahmen wenigstens einen
großen Teil, meist ein Drittel, des Bodens in Beschlag, während der Rest
den Besiegten blieb. In ähnlicher Weise haben die R'adschpntenstämme in den
Ebnen Nadschpntanas die nnterworfne Bevölkerung zur Stellung von Kolonen
herabgedrückt, von deren Abgaben sie leben. Nichts dergleichen geschah bei
Errichtung der englischen Herrschaft. Ebenso wenig zahlt Indien an Groß-


mit einer weitverbreiteten Mißstimmung zu rechnen hat. daß sie die Masse der
Bevölkerung, wenn nicht für sich, so doch wenigstens nicht gegen sich hat,
den» sonst würde sie ihre Militärmacht jedenfalls vergrößern müssen. Dies
könnte aber wieder nicht durch bedeutende Vermehrung der europäischen Re-
gimenter geschehen, da England schon für deren gegenwärtigen Bestand nur mit
Mühe den Ersatz liefern kann. Man müßte noch weiter zu Sepoys greisen,
wie ja schon jetzt zwei Drittel des anglo-indischen Heeres, also rund 140000
Mann, aus einheimischen Regimentern bestehen. Es ist also eine Grund¬
bedingung sür die englische Herrschaft in Indien, daß England unter der ein-
gebornen Bevölkerung in beliebiger Zahl Söldner anwerben kann. Indien ist
in der Hauptsache durch die Sepoys erobert worden und kann nnr mit Hilfe
der Sepoys gehalten werden. Dank den eigentümlichen gesellschaftlichen Zu¬
ständen der Halbinsel stellen sich aber die eingebornen Söldner in Masse unter
die britischen Fahnen. Der Sepoy hat kein Vaterland, für dessen Freiheit zu
kämpfen ihm eine heilige Pflicht gehste. Kein Nationalgefühl hält ihn ab,
seine Dienste den Engländern anzubieten. Kein sittliches Band verknüpft ihn
mit der Masse der Bevölkerung. Dafür reizt seinen kriegerische»! Sinn der
Gedanke an die stolze Vergangenheit der britischen Fahnen, und es lockt ihn
die sichre Aussicht auf einen festen Sold und eine regelmäßige Pension. Der
Sepoy sieht in dem Briten nicht den Ausländer, er sieht in ihm nur den
sieggewohnten Führer, der treue Dienste gut belohnt. Und wie er, so urteilt
die Mehrzahl seiner Landsleute. Sie alle halten den englischen Kriegsdienst
nicht für schimpflich, sondern für ehrenvoll. Der Sepoy ist ihnen wegen seiner
Verbindung mit dem Fremdherrn nicht ein Gegenstand des Abscheus, sondern
ein Gegenstand des Neides und der Bewunderung, wegen seines Verhältnisses
zu einer unwiderstehlichen Macht. So ist es nur natürlich, daß sich die in¬
dischen Regimenter nicht, wie es anderwärts und anch in England selbst Miet¬
truppen zu thun Pflegen, ans dem Abschaum der Bevölkerung, sondern aus
den besten Elementen rekrutiren. Aber wie sehr muß einer Bevölkerung poli¬
tisches Selbstbewußtsein, Nationalgefühl abgebe», die so zu deuten vermag!

Indien ist nicht eigentlich durch die Engländer erobert worden, und so
ist seine Stellung zu England auch nicht die eines eroberten Landes zu einem
Eroberer. Als die deutscheu Stämme über die Provinzen des römischen Reichs
hereinbrachen, nahmen sie kraft des Rechts der Eroberung Besitz von dein ge¬
samte» Grund und Boden und überließen den frühern Einwohnern nnr die
Vebanung gegen einen bestimmten Zoll, oder sie nahmen wenigstens einen
großen Teil, meist ein Drittel, des Bodens in Beschlag, während der Rest
den Besiegten blieb. In ähnlicher Weise haben die R'adschpntenstämme in den
Ebnen Nadschpntanas die nnterworfne Bevölkerung zur Stellung von Kolonen
herabgedrückt, von deren Abgaben sie leben. Nichts dergleichen geschah bei
Errichtung der englischen Herrschaft. Ebenso wenig zahlt Indien an Groß-


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[0125] mit einer weitverbreiteten Mißstimmung zu rechnen hat. daß sie die Masse der Bevölkerung, wenn nicht für sich, so doch wenigstens nicht gegen sich hat, den» sonst würde sie ihre Militärmacht jedenfalls vergrößern müssen. Dies könnte aber wieder nicht durch bedeutende Vermehrung der europäischen Re- gimenter geschehen, da England schon für deren gegenwärtigen Bestand nur mit Mühe den Ersatz liefern kann. Man müßte noch weiter zu Sepoys greisen, wie ja schon jetzt zwei Drittel des anglo-indischen Heeres, also rund 140000 Mann, aus einheimischen Regimentern bestehen. Es ist also eine Grund¬ bedingung sür die englische Herrschaft in Indien, daß England unter der ein- gebornen Bevölkerung in beliebiger Zahl Söldner anwerben kann. Indien ist in der Hauptsache durch die Sepoys erobert worden und kann nnr mit Hilfe der Sepoys gehalten werden. Dank den eigentümlichen gesellschaftlichen Zu¬ ständen der Halbinsel stellen sich aber die eingebornen Söldner in Masse unter die britischen Fahnen. Der Sepoy hat kein Vaterland, für dessen Freiheit zu kämpfen ihm eine heilige Pflicht gehste. Kein Nationalgefühl hält ihn ab, seine Dienste den Engländern anzubieten. Kein sittliches Band verknüpft ihn mit der Masse der Bevölkerung. Dafür reizt seinen kriegerische»! Sinn der Gedanke an die stolze Vergangenheit der britischen Fahnen, und es lockt ihn die sichre Aussicht auf einen festen Sold und eine regelmäßige Pension. Der Sepoy sieht in dem Briten nicht den Ausländer, er sieht in ihm nur den sieggewohnten Führer, der treue Dienste gut belohnt. Und wie er, so urteilt die Mehrzahl seiner Landsleute. Sie alle halten den englischen Kriegsdienst nicht für schimpflich, sondern für ehrenvoll. Der Sepoy ist ihnen wegen seiner Verbindung mit dem Fremdherrn nicht ein Gegenstand des Abscheus, sondern ein Gegenstand des Neides und der Bewunderung, wegen seines Verhältnisses zu einer unwiderstehlichen Macht. So ist es nur natürlich, daß sich die in¬ dischen Regimenter nicht, wie es anderwärts und anch in England selbst Miet¬ truppen zu thun Pflegen, ans dem Abschaum der Bevölkerung, sondern aus den besten Elementen rekrutiren. Aber wie sehr muß einer Bevölkerung poli¬ tisches Selbstbewußtsein, Nationalgefühl abgebe», die so zu deuten vermag! Indien ist nicht eigentlich durch die Engländer erobert worden, und so ist seine Stellung zu England auch nicht die eines eroberten Landes zu einem Eroberer. Als die deutscheu Stämme über die Provinzen des römischen Reichs hereinbrachen, nahmen sie kraft des Rechts der Eroberung Besitz von dein ge¬ samte» Grund und Boden und überließen den frühern Einwohnern nnr die Vebanung gegen einen bestimmten Zoll, oder sie nahmen wenigstens einen großen Teil, meist ein Drittel, des Bodens in Beschlag, während der Rest den Besiegten blieb. In ähnlicher Weise haben die R'adschpntenstämme in den Ebnen Nadschpntanas die nnterworfne Bevölkerung zur Stellung von Kolonen herabgedrückt, von deren Abgaben sie leben. Nichts dergleichen geschah bei Errichtung der englischen Herrschaft. Ebenso wenig zahlt Indien an Groß-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/125>, abgerufen am 02.07.2024.