Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Indische Zustände

schlecht verhehltem Haß auf ihre Überwinder und Nachfolger blicken. Aber
diese unzufriednen Elemente vertreten derzeit nicht die Gesamtheit. Den" auch
ihre Herrschaft war eine Fremdherrschaft. Durch ihre" Sturz haben die Eng¬
länder keine nationalen Bildungen zerstört, haben deshalb auch gar keine weit
verbreitete politische Mißstimmung errege" können. Die große Masse der Be¬
völkerung hat nicht die mindeste Veranlassung, den Sturz der alten Macht¬
haber als eine ihnen zugefügte Unbill zu empfinden. Der Wechsel der Re¬
gierung ist ihnen etwas so Unabwendbares, wie der Wechsel der Jahreszeiten.
Ein unergründliches Schicksal bestimmt ihnen heute diesen Herrscher, morgen
jenen; sie fügen sich den Launen des einen wie des andern mit demselben
Gefühl hilfloser Ergebung, mit dein sie sich den Launen des Wetters unter-
werfen. Der Zorn eines bösen Dämons mag durch Opfer besänftigt werden,
ein saumseliger Schutzgott läuft Gefahr, abgesetzt zu werden, aber gegen die
Tyrannei seiner Hcrrrschcr weiß der indische Bauer keine Hilfe. Jahrhunderte¬
lang von fremden Despoten geknechtet, durch die unüberschreitbare Kluft der
Kaste auf immer zur sozialen Sklaverei bestimmt, ist er jeder freien Willens¬
regung beraubt. Der Gedanke an ein Recht politischer Selbstbestimmung ist
ihm nie gekommen; die Möglichkeit eines Widerstandes gegen seine Macht¬
haber hat er nie ins Auge gefaßt. Die Bevölkerung von Audh ertrug viele
Jahrzehnte lang die furchtbarsten Bedrückungen ihres Herrschers, bis der eng¬
lische Bizekönig Lord Dalhonsie einschritt und der MißHerrschaft durch Ein¬
verleibung des Landes ein Ende machte. Dem Inder ist nicht die Regierung
um deS Volkes willen, sondern das Volk um der Regierung willen da, und
eine liebevolle Fürsorge der Regierung ist den Unterthanen ein unverständliches
Ding. Von den sklavisch gesinnten Massen braucht die englische Regierung
also Aufstände nie zu befürchten, und wenn sie auch so hart und grausam
wäre, wie sie in Wirklichkeit väterlich und milde ist. Und gesetzt auch
den Fall, es käme zu einem zur Zeit ganz undenkbaren Volksaufstande, was
vermöchte die führerlose und unbewaffnete Menge gegen die wvhlgedrillten
Truppen der Regierung? Das Heer würde jeden Aufstand rasch niederschlagen,
vor allem die Sepvhregimenter, solange diese nicht gelernt haben, jeden Hindu
als ihren Bruder und jeden Engländer als ihren Feind anzusehen. Auf den
Sepvytruppen ruht in der That die englische Herrschaft. Die Briten herrschen
ans der Halbinsel nicht durch den Willen des Volkes und können deshalb beim
Volke anch keine Unterstützung erwarten. Gegen äußere und innere Feinde
ist die Regierung allein auf ihre Kraft angewiesen. Sie steht und fällt mit
ihrem Heere. Dieses Heer aber ist in Anbetracht des ungeheuern volkreichen
Gebiets, dem es die Sicherheit gegen außen und die Ruhe im Innern zu er¬
halten hat, schwach genng. Es zählt 210000 Mann bei einer Bevölkerung
vou 2K0 Millionen, hat also etwa einen Soldaten ans tausend Einwohner.
Wenn irgend etwas, so zeigt schon dieser Umstand, daß die Regierung nicht


Indische Zustände

schlecht verhehltem Haß auf ihre Überwinder und Nachfolger blicken. Aber
diese unzufriednen Elemente vertreten derzeit nicht die Gesamtheit. Den» auch
ihre Herrschaft war eine Fremdherrschaft. Durch ihre» Sturz haben die Eng¬
länder keine nationalen Bildungen zerstört, haben deshalb auch gar keine weit
verbreitete politische Mißstimmung errege» können. Die große Masse der Be¬
völkerung hat nicht die mindeste Veranlassung, den Sturz der alten Macht¬
haber als eine ihnen zugefügte Unbill zu empfinden. Der Wechsel der Re¬
gierung ist ihnen etwas so Unabwendbares, wie der Wechsel der Jahreszeiten.
Ein unergründliches Schicksal bestimmt ihnen heute diesen Herrscher, morgen
jenen; sie fügen sich den Launen des einen wie des andern mit demselben
Gefühl hilfloser Ergebung, mit dein sie sich den Launen des Wetters unter-
werfen. Der Zorn eines bösen Dämons mag durch Opfer besänftigt werden,
ein saumseliger Schutzgott läuft Gefahr, abgesetzt zu werden, aber gegen die
Tyrannei seiner Hcrrrschcr weiß der indische Bauer keine Hilfe. Jahrhunderte¬
lang von fremden Despoten geknechtet, durch die unüberschreitbare Kluft der
Kaste auf immer zur sozialen Sklaverei bestimmt, ist er jeder freien Willens¬
regung beraubt. Der Gedanke an ein Recht politischer Selbstbestimmung ist
ihm nie gekommen; die Möglichkeit eines Widerstandes gegen seine Macht¬
haber hat er nie ins Auge gefaßt. Die Bevölkerung von Audh ertrug viele
Jahrzehnte lang die furchtbarsten Bedrückungen ihres Herrschers, bis der eng¬
lische Bizekönig Lord Dalhonsie einschritt und der MißHerrschaft durch Ein¬
verleibung des Landes ein Ende machte. Dem Inder ist nicht die Regierung
um deS Volkes willen, sondern das Volk um der Regierung willen da, und
eine liebevolle Fürsorge der Regierung ist den Unterthanen ein unverständliches
Ding. Von den sklavisch gesinnten Massen braucht die englische Regierung
also Aufstände nie zu befürchten, und wenn sie auch so hart und grausam
wäre, wie sie in Wirklichkeit väterlich und milde ist. Und gesetzt auch
den Fall, es käme zu einem zur Zeit ganz undenkbaren Volksaufstande, was
vermöchte die führerlose und unbewaffnete Menge gegen die wvhlgedrillten
Truppen der Regierung? Das Heer würde jeden Aufstand rasch niederschlagen,
vor allem die Sepvhregimenter, solange diese nicht gelernt haben, jeden Hindu
als ihren Bruder und jeden Engländer als ihren Feind anzusehen. Auf den
Sepvytruppen ruht in der That die englische Herrschaft. Die Briten herrschen
ans der Halbinsel nicht durch den Willen des Volkes und können deshalb beim
Volke anch keine Unterstützung erwarten. Gegen äußere und innere Feinde
ist die Regierung allein auf ihre Kraft angewiesen. Sie steht und fällt mit
ihrem Heere. Dieses Heer aber ist in Anbetracht des ungeheuern volkreichen
Gebiets, dem es die Sicherheit gegen außen und die Ruhe im Innern zu er¬
halten hat, schwach genng. Es zählt 210000 Mann bei einer Bevölkerung
vou 2K0 Millionen, hat also etwa einen Soldaten ans tausend Einwohner.
Wenn irgend etwas, so zeigt schon dieser Umstand, daß die Regierung nicht


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0124" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215848"/>
          <fw type="header" place="top"> Indische Zustände</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_334" prev="#ID_333" next="#ID_335"> schlecht verhehltem Haß auf ihre Überwinder und Nachfolger blicken. Aber<lb/>
diese unzufriednen Elemente vertreten derzeit nicht die Gesamtheit. Den» auch<lb/>
ihre Herrschaft war eine Fremdherrschaft. Durch ihre» Sturz haben die Eng¬<lb/>
länder keine nationalen Bildungen zerstört, haben deshalb auch gar keine weit<lb/>
verbreitete politische Mißstimmung errege» können. Die große Masse der Be¬<lb/>
völkerung hat nicht die mindeste Veranlassung, den Sturz der alten Macht¬<lb/>
haber als eine ihnen zugefügte Unbill zu empfinden. Der Wechsel der Re¬<lb/>
gierung ist ihnen etwas so Unabwendbares, wie der Wechsel der Jahreszeiten.<lb/>
Ein unergründliches Schicksal bestimmt ihnen heute diesen Herrscher, morgen<lb/>
jenen; sie fügen sich den Launen des einen wie des andern mit demselben<lb/>
Gefühl hilfloser Ergebung, mit dein sie sich den Launen des Wetters unter-<lb/>
werfen. Der Zorn eines bösen Dämons mag durch Opfer besänftigt werden,<lb/>
ein saumseliger Schutzgott läuft Gefahr, abgesetzt zu werden, aber gegen die<lb/>
Tyrannei seiner Hcrrrschcr weiß der indische Bauer keine Hilfe. Jahrhunderte¬<lb/>
lang von fremden Despoten geknechtet, durch die unüberschreitbare Kluft der<lb/>
Kaste auf immer zur sozialen Sklaverei bestimmt, ist er jeder freien Willens¬<lb/>
regung beraubt. Der Gedanke an ein Recht politischer Selbstbestimmung ist<lb/>
ihm nie gekommen; die Möglichkeit eines Widerstandes gegen seine Macht¬<lb/>
haber hat er nie ins Auge gefaßt. Die Bevölkerung von Audh ertrug viele<lb/>
Jahrzehnte lang die furchtbarsten Bedrückungen ihres Herrschers, bis der eng¬<lb/>
lische Bizekönig Lord Dalhonsie einschritt und der MißHerrschaft durch Ein¬<lb/>
verleibung des Landes ein Ende machte. Dem Inder ist nicht die Regierung<lb/>
um deS Volkes willen, sondern das Volk um der Regierung willen da, und<lb/>
eine liebevolle Fürsorge der Regierung ist den Unterthanen ein unverständliches<lb/>
Ding. Von den sklavisch gesinnten Massen braucht die englische Regierung<lb/>
also Aufstände nie zu befürchten, und wenn sie auch so hart und grausam<lb/>
wäre, wie sie in Wirklichkeit väterlich und milde ist. Und gesetzt auch<lb/>
den Fall, es käme zu einem zur Zeit ganz undenkbaren Volksaufstande, was<lb/>
vermöchte die führerlose und unbewaffnete Menge gegen die wvhlgedrillten<lb/>
Truppen der Regierung? Das Heer würde jeden Aufstand rasch niederschlagen,<lb/>
vor allem die Sepvhregimenter, solange diese nicht gelernt haben, jeden Hindu<lb/>
als ihren Bruder und jeden Engländer als ihren Feind anzusehen. Auf den<lb/>
Sepvytruppen ruht in der That die englische Herrschaft. Die Briten herrschen<lb/>
ans der Halbinsel nicht durch den Willen des Volkes und können deshalb beim<lb/>
Volke anch keine Unterstützung erwarten. Gegen äußere und innere Feinde<lb/>
ist die Regierung allein auf ihre Kraft angewiesen. Sie steht und fällt mit<lb/>
ihrem Heere. Dieses Heer aber ist in Anbetracht des ungeheuern volkreichen<lb/>
Gebiets, dem es die Sicherheit gegen außen und die Ruhe im Innern zu er¬<lb/>
halten hat, schwach genng. Es zählt 210000 Mann bei einer Bevölkerung<lb/>
vou 2K0 Millionen, hat also etwa einen Soldaten ans tausend Einwohner.<lb/>
Wenn irgend etwas, so zeigt schon dieser Umstand, daß die Regierung nicht</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0124] Indische Zustände schlecht verhehltem Haß auf ihre Überwinder und Nachfolger blicken. Aber diese unzufriednen Elemente vertreten derzeit nicht die Gesamtheit. Den» auch ihre Herrschaft war eine Fremdherrschaft. Durch ihre» Sturz haben die Eng¬ länder keine nationalen Bildungen zerstört, haben deshalb auch gar keine weit verbreitete politische Mißstimmung errege» können. Die große Masse der Be¬ völkerung hat nicht die mindeste Veranlassung, den Sturz der alten Macht¬ haber als eine ihnen zugefügte Unbill zu empfinden. Der Wechsel der Re¬ gierung ist ihnen etwas so Unabwendbares, wie der Wechsel der Jahreszeiten. Ein unergründliches Schicksal bestimmt ihnen heute diesen Herrscher, morgen jenen; sie fügen sich den Launen des einen wie des andern mit demselben Gefühl hilfloser Ergebung, mit dein sie sich den Launen des Wetters unter- werfen. Der Zorn eines bösen Dämons mag durch Opfer besänftigt werden, ein saumseliger Schutzgott läuft Gefahr, abgesetzt zu werden, aber gegen die Tyrannei seiner Hcrrrschcr weiß der indische Bauer keine Hilfe. Jahrhunderte¬ lang von fremden Despoten geknechtet, durch die unüberschreitbare Kluft der Kaste auf immer zur sozialen Sklaverei bestimmt, ist er jeder freien Willens¬ regung beraubt. Der Gedanke an ein Recht politischer Selbstbestimmung ist ihm nie gekommen; die Möglichkeit eines Widerstandes gegen seine Macht¬ haber hat er nie ins Auge gefaßt. Die Bevölkerung von Audh ertrug viele Jahrzehnte lang die furchtbarsten Bedrückungen ihres Herrschers, bis der eng¬ lische Bizekönig Lord Dalhonsie einschritt und der MißHerrschaft durch Ein¬ verleibung des Landes ein Ende machte. Dem Inder ist nicht die Regierung um deS Volkes willen, sondern das Volk um der Regierung willen da, und eine liebevolle Fürsorge der Regierung ist den Unterthanen ein unverständliches Ding. Von den sklavisch gesinnten Massen braucht die englische Regierung also Aufstände nie zu befürchten, und wenn sie auch so hart und grausam wäre, wie sie in Wirklichkeit väterlich und milde ist. Und gesetzt auch den Fall, es käme zu einem zur Zeit ganz undenkbaren Volksaufstande, was vermöchte die führerlose und unbewaffnete Menge gegen die wvhlgedrillten Truppen der Regierung? Das Heer würde jeden Aufstand rasch niederschlagen, vor allem die Sepvhregimenter, solange diese nicht gelernt haben, jeden Hindu als ihren Bruder und jeden Engländer als ihren Feind anzusehen. Auf den Sepvytruppen ruht in der That die englische Herrschaft. Die Briten herrschen ans der Halbinsel nicht durch den Willen des Volkes und können deshalb beim Volke anch keine Unterstützung erwarten. Gegen äußere und innere Feinde ist die Regierung allein auf ihre Kraft angewiesen. Sie steht und fällt mit ihrem Heere. Dieses Heer aber ist in Anbetracht des ungeheuern volkreichen Gebiets, dem es die Sicherheit gegen außen und die Ruhe im Innern zu er¬ halten hat, schwach genng. Es zählt 210000 Mann bei einer Bevölkerung vou 2K0 Millionen, hat also etwa einen Soldaten ans tausend Einwohner. Wenn irgend etwas, so zeigt schon dieser Umstand, daß die Regierung nicht

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/124
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/124>, abgerufen am 04.07.2024.