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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Indische Zustände

Staates zu betrachten, in deren Belieben es stünde, die bisherigen Machthaber
zu beseitigen. Intrigante Brahmanen, die ihre soziale Stellung durch das
Eindringen europäischer Bildung bedroht sahen, und die Abkömmlinge ge¬
stürzter Dynastien, die nach Rache an ihren Übermindern bürsteten, bemühten
sich nach Kräften, das Selbstvertrauen und die Mißstimmung der Scpoys zu
schüren, um sie später für ihre eignen Zwecke auszunutzen. Den Anlaß zum
Ausbruch gab eine durch die Unvorsichtigkeit der Engländer hervvrgerufne
Verletzung der religiösen Gefühle .der Sepoys. So bekam der Aufstand
äußerlich einen gewissen religiös-politischen Anstrich. Im Grunde aber war
und blieb er eine Meuterei eines Teils der einheimischen Söldner. Er be¬
schränkte sich auf die reguläre" Regimenter der bengalischen Armee. Die
Madras- und Bombaytrnppen verhielten sich eben so ruhig wie die große
Masse der Bevölkerung. Auch daß sich die Meuterei über einen so großen
Teil der bengalischen Armee zugleich erstreckte, daß eine so große Anzahl dieser
Söldner die zu einem gemeinsamen Handeln nötige Einigkeit hatten, wurde
nur dadurch möglich, daß sie sich in der Hauptsache aus einer bestimmten
Kaste eines gewissen Landes rekrutirte. Aus demselben Grunde aber standen
alle andern Klassen der Bevölkerung und die übrigen Landesteile dem ganzen
Unternehmen von vornherein gleichgiltig, ja selbst feindselig gegenüber. Mehrere
Bataillone Gurkas blieben tren und schlugen sich mit Tapferkeit gegen die Auf¬
rührer. Ebenso die elf irregulären Regimenter. Aber die größte Unterstützung
kam der englischen Sache von den Sikhs. Erst acht Jahre vorher der
britischen Herrschaft unterworfen, und zwar mit Hilfe derselben Hindustani-
regimenter, die sich jetzt gegen ihre gemeinsamen Herren erhoben hatten, folgte
die Bevölkerung des Pandschab in Masse dem Rufe zu den Waffen. Tau¬
sende und aber tausende stellten sich unter die englischen Fahnen und wurden
in Eile nach dem Kriegsschauplatz geführt, nachdem sie rasch ausgerüstet und
gedrillt waren. Unter den 8700 Mann, die Delhi den Aufständischen wieder
entrissen, waren nur 3300 Europäer. So wurde die Empörung in der Haupt¬
sache dadurch niedergeschlagen, daß die Engländer die verschiednen Nassen
Indiens gegeneinanderkehrten. Ehe auch nur ein Maun der Verstärkungen
aus der Heimat ans indischem Boden eingetroffen war, war die Kraft des
Aufstandes gebrochen und Delhi wieder in deu Händen der Briten.

Die Engländer herrschen in Indien nicht durch den Willen des Volkes;
das ist unbestreitbar. Aber daraus folgt nicht notwendig, daß sie gegen den
Willen des Volkes herrschten. Eine solche Schlußfolgerung würde bei der
indischen Bevölkerung einen einheitlichen Willen und ein politisches Selbst¬
bewußtsein voraussetzen, die ihr gänzlich abgehen. Wir haben gesehen, daß
diese Bevölkerung kein wirkliches Ganze, keinen organischen Körper bildet, also
auch keinen einheitlichen Willen hat. Was ihre einzelnen Teile anlangt, so
kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die früher herrschenden Klassen mit


Indische Zustände

Staates zu betrachten, in deren Belieben es stünde, die bisherigen Machthaber
zu beseitigen. Intrigante Brahmanen, die ihre soziale Stellung durch das
Eindringen europäischer Bildung bedroht sahen, und die Abkömmlinge ge¬
stürzter Dynastien, die nach Rache an ihren Übermindern bürsteten, bemühten
sich nach Kräften, das Selbstvertrauen und die Mißstimmung der Scpoys zu
schüren, um sie später für ihre eignen Zwecke auszunutzen. Den Anlaß zum
Ausbruch gab eine durch die Unvorsichtigkeit der Engländer hervvrgerufne
Verletzung der religiösen Gefühle .der Sepoys. So bekam der Aufstand
äußerlich einen gewissen religiös-politischen Anstrich. Im Grunde aber war
und blieb er eine Meuterei eines Teils der einheimischen Söldner. Er be¬
schränkte sich auf die reguläre» Regimenter der bengalischen Armee. Die
Madras- und Bombaytrnppen verhielten sich eben so ruhig wie die große
Masse der Bevölkerung. Auch daß sich die Meuterei über einen so großen
Teil der bengalischen Armee zugleich erstreckte, daß eine so große Anzahl dieser
Söldner die zu einem gemeinsamen Handeln nötige Einigkeit hatten, wurde
nur dadurch möglich, daß sie sich in der Hauptsache aus einer bestimmten
Kaste eines gewissen Landes rekrutirte. Aus demselben Grunde aber standen
alle andern Klassen der Bevölkerung und die übrigen Landesteile dem ganzen
Unternehmen von vornherein gleichgiltig, ja selbst feindselig gegenüber. Mehrere
Bataillone Gurkas blieben tren und schlugen sich mit Tapferkeit gegen die Auf¬
rührer. Ebenso die elf irregulären Regimenter. Aber die größte Unterstützung
kam der englischen Sache von den Sikhs. Erst acht Jahre vorher der
britischen Herrschaft unterworfen, und zwar mit Hilfe derselben Hindustani-
regimenter, die sich jetzt gegen ihre gemeinsamen Herren erhoben hatten, folgte
die Bevölkerung des Pandschab in Masse dem Rufe zu den Waffen. Tau¬
sende und aber tausende stellten sich unter die englischen Fahnen und wurden
in Eile nach dem Kriegsschauplatz geführt, nachdem sie rasch ausgerüstet und
gedrillt waren. Unter den 8700 Mann, die Delhi den Aufständischen wieder
entrissen, waren nur 3300 Europäer. So wurde die Empörung in der Haupt¬
sache dadurch niedergeschlagen, daß die Engländer die verschiednen Nassen
Indiens gegeneinanderkehrten. Ehe auch nur ein Maun der Verstärkungen
aus der Heimat ans indischem Boden eingetroffen war, war die Kraft des
Aufstandes gebrochen und Delhi wieder in deu Händen der Briten.

Die Engländer herrschen in Indien nicht durch den Willen des Volkes;
das ist unbestreitbar. Aber daraus folgt nicht notwendig, daß sie gegen den
Willen des Volkes herrschten. Eine solche Schlußfolgerung würde bei der
indischen Bevölkerung einen einheitlichen Willen und ein politisches Selbst¬
bewußtsein voraussetzen, die ihr gänzlich abgehen. Wir haben gesehen, daß
diese Bevölkerung kein wirkliches Ganze, keinen organischen Körper bildet, also
auch keinen einheitlichen Willen hat. Was ihre einzelnen Teile anlangt, so
kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die früher herrschenden Klassen mit


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[0123] Indische Zustände Staates zu betrachten, in deren Belieben es stünde, die bisherigen Machthaber zu beseitigen. Intrigante Brahmanen, die ihre soziale Stellung durch das Eindringen europäischer Bildung bedroht sahen, und die Abkömmlinge ge¬ stürzter Dynastien, die nach Rache an ihren Übermindern bürsteten, bemühten sich nach Kräften, das Selbstvertrauen und die Mißstimmung der Scpoys zu schüren, um sie später für ihre eignen Zwecke auszunutzen. Den Anlaß zum Ausbruch gab eine durch die Unvorsichtigkeit der Engländer hervvrgerufne Verletzung der religiösen Gefühle .der Sepoys. So bekam der Aufstand äußerlich einen gewissen religiös-politischen Anstrich. Im Grunde aber war und blieb er eine Meuterei eines Teils der einheimischen Söldner. Er be¬ schränkte sich auf die reguläre» Regimenter der bengalischen Armee. Die Madras- und Bombaytrnppen verhielten sich eben so ruhig wie die große Masse der Bevölkerung. Auch daß sich die Meuterei über einen so großen Teil der bengalischen Armee zugleich erstreckte, daß eine so große Anzahl dieser Söldner die zu einem gemeinsamen Handeln nötige Einigkeit hatten, wurde nur dadurch möglich, daß sie sich in der Hauptsache aus einer bestimmten Kaste eines gewissen Landes rekrutirte. Aus demselben Grunde aber standen alle andern Klassen der Bevölkerung und die übrigen Landesteile dem ganzen Unternehmen von vornherein gleichgiltig, ja selbst feindselig gegenüber. Mehrere Bataillone Gurkas blieben tren und schlugen sich mit Tapferkeit gegen die Auf¬ rührer. Ebenso die elf irregulären Regimenter. Aber die größte Unterstützung kam der englischen Sache von den Sikhs. Erst acht Jahre vorher der britischen Herrschaft unterworfen, und zwar mit Hilfe derselben Hindustani- regimenter, die sich jetzt gegen ihre gemeinsamen Herren erhoben hatten, folgte die Bevölkerung des Pandschab in Masse dem Rufe zu den Waffen. Tau¬ sende und aber tausende stellten sich unter die englischen Fahnen und wurden in Eile nach dem Kriegsschauplatz geführt, nachdem sie rasch ausgerüstet und gedrillt waren. Unter den 8700 Mann, die Delhi den Aufständischen wieder entrissen, waren nur 3300 Europäer. So wurde die Empörung in der Haupt¬ sache dadurch niedergeschlagen, daß die Engländer die verschiednen Nassen Indiens gegeneinanderkehrten. Ehe auch nur ein Maun der Verstärkungen aus der Heimat ans indischem Boden eingetroffen war, war die Kraft des Aufstandes gebrochen und Delhi wieder in deu Händen der Briten. Die Engländer herrschen in Indien nicht durch den Willen des Volkes; das ist unbestreitbar. Aber daraus folgt nicht notwendig, daß sie gegen den Willen des Volkes herrschten. Eine solche Schlußfolgerung würde bei der indischen Bevölkerung einen einheitlichen Willen und ein politisches Selbst¬ bewußtsein voraussetzen, die ihr gänzlich abgehen. Wir haben gesehen, daß diese Bevölkerung kein wirkliches Ganze, keinen organischen Körper bildet, also auch keinen einheitlichen Willen hat. Was ihre einzelnen Teile anlangt, so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die früher herrschenden Klassen mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/123>, abgerufen am 04.07.2024.