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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Lin italienischer Katholik über die Freiheit

darum lebt jedes nachfolgende Geschlecht so unchristlich wie das vorhergehende,
und darum ist die Idee der Gerechtigkeit seit Christus bis auf den heutigen
Tag ihrer Verwirklichung auch nicht um einen Schritt näher gekommen.

Also, das Menschengeschlecht wird lauge zu warten haben, bis es dem
christlichen Glauben gelingen wird, das geltende Recht in diesen und andern
Stücken dem Naturrechte gleichförmig zu machen. Bis dahin, meint Cenni,
sei es Sache der Wohlthätigkeit, die Mängel deS geltenden Rechts zu ergänzen,
und dabei verweilt er so lange, daß man daraus sieht, wie eigentlich seine
ganze Sozialpolitik auf das Almosengeben hinausläuft. Lukas 11, 41, worauf
er sich wiederholt beruft, dient ihm als Grundlage für sein sozialpolitisches
Shstcm, das übrigens kein andres ist, als das amtliche der katholischen Kirche.
Die Schriftgemüßheit dieses Systems hängt davon ab, ob die katholische Über¬
setzung: "von dem, was übrig ist, gebet Almosen, und alles ist euch rein,"
richtig ist. Luther übersetzt: "von dem, was da ist." Im Urtext steht: r"
el^r", wovor wahrscheinlich x",." zu ergänzen ist, was dann bedeuten würde:
nach Vermögen. Dem Sinne nach dürfte die Übersetzung: "von dem, was
übrig ist" Wohl richtig sein.

Cenni führt nun aus: dieses Wort Christi sei keineswegs ein Rat, wie
der dem reichen Jüngling erteilte: willst du vollkommen sein, so verkaufe alles,
was du hast, gieb es den Armen und folge mir nach, sondern ein Gebot, das
alle verpflichte. Demnach sei es keinem erlaubt, mehr zu behalten, als er
wirklich brauche. Das Maß dessen, was jeder brauche, sei nun allerdings
nach Thätigkeit und Lebensstellung sehr verschieden. Ein Gelehrter z. B.
brauche bessere Nahrung als ein Tagelöhner, außerdem Geld zu Büchern und
Instrumenten, zu Forschungsreisen u. s. w., und so gebe es noch andre Lebens¬
stellungen, die noch mehr erforderten. Aber die gewöhnliche Ausrede reicher
Leute, daß sie gar nichts übrig hätten, und daß sie auch bei fehr hohem Ein¬
kommen alles brauchten, sei unzulässig und sophistisch; der größte Teil des
Luxus, der von den Reichen getrieben werde, der Genüsse, die sie sich ver¬
schafften, sei nicht allein überflüssig, sondern geradezu sündhaft. Demnach sei
es strenge Pflicht, ans diese Dinge zu verzichten und das erübrigte auf Wohl¬
thun zu verwenden. Die Wohlthätigkeit habe sich aber keineswegs auf un¬
mittelbare Unterstützung der Notleidenden zu beschränken, die Gründung und
Unterstützung von Wohlthütigkeits- und Unterrichtsanstalten, die Erbauung
prachtvoller Kirchen, Rathäuser, Hospitäler, Museen, die Förderung der Künste
und Wissenschaften sowie großartiger gemeinnütziger Unternehmungen: Eisen¬
bahnbauten, Tunnel u. tgi., gehörten anch dazu. Nur soweit der Luxus dem
Hochmut und der Sinnlichkeit diene, sei er sündhaft, hingegen sei die ung'iu-
n'Lhu^, die Entfaltung von Größe und Schönheit, eine Tugend.

Diese Ansicht vom Luxus ist genau die unsrige, und ebenso stimmen wir
mit ihm in der Ansicht überein, daß jeder einen natürlichen Anspruch habe


Lin italienischer Katholik über die Freiheit

darum lebt jedes nachfolgende Geschlecht so unchristlich wie das vorhergehende,
und darum ist die Idee der Gerechtigkeit seit Christus bis auf den heutigen
Tag ihrer Verwirklichung auch nicht um einen Schritt näher gekommen.

Also, das Menschengeschlecht wird lauge zu warten haben, bis es dem
christlichen Glauben gelingen wird, das geltende Recht in diesen und andern
Stücken dem Naturrechte gleichförmig zu machen. Bis dahin, meint Cenni,
sei es Sache der Wohlthätigkeit, die Mängel deS geltenden Rechts zu ergänzen,
und dabei verweilt er so lange, daß man daraus sieht, wie eigentlich seine
ganze Sozialpolitik auf das Almosengeben hinausläuft. Lukas 11, 41, worauf
er sich wiederholt beruft, dient ihm als Grundlage für sein sozialpolitisches
Shstcm, das übrigens kein andres ist, als das amtliche der katholischen Kirche.
Die Schriftgemüßheit dieses Systems hängt davon ab, ob die katholische Über¬
setzung: „von dem, was übrig ist, gebet Almosen, und alles ist euch rein,"
richtig ist. Luther übersetzt: „von dem, was da ist." Im Urtext steht: r«
el^r«, wovor wahrscheinlich x«,.« zu ergänzen ist, was dann bedeuten würde:
nach Vermögen. Dem Sinne nach dürfte die Übersetzung: „von dem, was
übrig ist" Wohl richtig sein.

Cenni führt nun aus: dieses Wort Christi sei keineswegs ein Rat, wie
der dem reichen Jüngling erteilte: willst du vollkommen sein, so verkaufe alles,
was du hast, gieb es den Armen und folge mir nach, sondern ein Gebot, das
alle verpflichte. Demnach sei es keinem erlaubt, mehr zu behalten, als er
wirklich brauche. Das Maß dessen, was jeder brauche, sei nun allerdings
nach Thätigkeit und Lebensstellung sehr verschieden. Ein Gelehrter z. B.
brauche bessere Nahrung als ein Tagelöhner, außerdem Geld zu Büchern und
Instrumenten, zu Forschungsreisen u. s. w., und so gebe es noch andre Lebens¬
stellungen, die noch mehr erforderten. Aber die gewöhnliche Ausrede reicher
Leute, daß sie gar nichts übrig hätten, und daß sie auch bei fehr hohem Ein¬
kommen alles brauchten, sei unzulässig und sophistisch; der größte Teil des
Luxus, der von den Reichen getrieben werde, der Genüsse, die sie sich ver¬
schafften, sei nicht allein überflüssig, sondern geradezu sündhaft. Demnach sei
es strenge Pflicht, ans diese Dinge zu verzichten und das erübrigte auf Wohl¬
thun zu verwenden. Die Wohlthätigkeit habe sich aber keineswegs auf un¬
mittelbare Unterstützung der Notleidenden zu beschränken, die Gründung und
Unterstützung von Wohlthütigkeits- und Unterrichtsanstalten, die Erbauung
prachtvoller Kirchen, Rathäuser, Hospitäler, Museen, die Förderung der Künste
und Wissenschaften sowie großartiger gemeinnütziger Unternehmungen: Eisen¬
bahnbauten, Tunnel u. tgi., gehörten anch dazu. Nur soweit der Luxus dem
Hochmut und der Sinnlichkeit diene, sei er sündhaft, hingegen sei die ung'iu-
n'Lhu^, die Entfaltung von Größe und Schönheit, eine Tugend.

Diese Ansicht vom Luxus ist genau die unsrige, und ebenso stimmen wir
mit ihm in der Ansicht überein, daß jeder einen natürlichen Anspruch habe


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/118>, abgerufen am 22.07.2024.