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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Lin italienischer Katholik über die Freiheit

die christlichen Geistlichen die Geister in Europa ziemlich unbeschränkt be¬
herrscht. Haben sie die Gerechtigkeit herstellen können? Ist nicht das ganze
Mittelalter eine ununterbrvchne Kette sozialer Revolutionen gewesen, und
wenn die Darniederhaltnng des Volksgeistes unter dem WLion rc'-glas den
Schein der Ruhe, Ordnung und Zufriedenheit erzeugte, war nicht die schlie߬
liche Explosion im Jahre 178!) dafür um so furchtbarer? Vielleicht wendet
Cenni ein, die christliche Religion könne nichts dafür, daß sie von ihren Ver¬
tretern nicht richtig gelehrt werde. So verhält es sich in der That; aber
wie sollen diese Vertreter geändert werden? Werden nicht die christlichen
Geistlichen auch in Zukunft stets Menschen und von menschlichen Rücksichten
abhängig bleiben? Bei einer öffentlichen Schnlprüfnng an irgend einem Orte
Westfalens -- so berichtet die Preußische Lehrerzeitung -- wurde u. a. das
Gedicht von Chamisso "Das Riesenspielzcug" vorgenommen und sein Grund¬
gedanke, daß auch der geringste Arbeiter den Großen dieser Erde zu ihrer
Erhaltung notwendig sei, richtig entwickelt. Bei dieser Katechese gaben die
anwesenden Schulvorstandsmitglieder dem Lehrer ihren Unwillen durch Scharren
und Husten zu erkennen, und nach der Prüfung machten sie ihm die heftigsten
Vorwürfe darüber, daß er "sozialdemokratische Ansichten und Ideen" verbreite.
Statt des Lobes für die glänzend verlanfne Prüfung erntete er eine amtliche
Rüge. So geht es auch mit jeder Stelle der Bibel, die den herrschenden
Kreisen nicht paßt. Jeder Geistliche, der sie auf der Kanzel und im Schul¬
unterricht hervorheben wollte, würde als Sozialdemokrat verschrien werden
und seines Amtes verlustig gehen. So tritt deun die Geistlichkeit, von löb¬
lichen Ausnahmen abgesehen, jahraus jahrein auf einigen politisch und sozial
unverfänglichen Dogmen herum, was ihr bloß den ohnmächtigen Zorn des
"Berliner Tageblatts" und einiger Professoren zuzieht, und geißelt daneben
fleißig die Sünden der untern Klassen, die Hauptsache im "Gesetze" aber
(Matth. 23, 23), die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, vernachlässigt sie gerade
so wie die Priester und Schriftgelehrten vor 1900 Jahren. Und so bleibt
zwar die Philosophie des Christentums ewig wahr, aber zugleich auch ewig
unwirksam.") Weil die christliche Gesinnung fehlt, darum werden die, die
sie verbreiten wollen, ans Krenz geschlagen oder eingesperrt oder der Existenz¬
mittel beraubt, und weil die christliche Gesinnung nicht verbreitet werden darf,



Unwirksam im Großen, in sozialer Beziehung, meinen wir natürlich; daß nicht zwar
die christliche Philosophie, aber doch die christliche Liebe einzelnen Unglücklichen jahraus
jahrein die Thränen trocknet, und daß sich die Zahl dieser Getrösteten alljährlich ans viele
tausende beläuft, leugnen wir nicht. Aber das Massenelend kommt und geht nicht so sehr
mit der unchristlichen Gesinnung, als mit den Umwälzungen der Produktion und mit den
Bewegungen der Bevölkerung, und die französische Revolution hat. indem sie den französischen
Bnuerustaud schuf, damit mehr Avlkswohl geschaffen, als irgend eine Klerisei irgend eines
Landes.
Lin italienischer Katholik über die Freiheit

die christlichen Geistlichen die Geister in Europa ziemlich unbeschränkt be¬
herrscht. Haben sie die Gerechtigkeit herstellen können? Ist nicht das ganze
Mittelalter eine ununterbrvchne Kette sozialer Revolutionen gewesen, und
wenn die Darniederhaltnng des Volksgeistes unter dem WLion rc'-glas den
Schein der Ruhe, Ordnung und Zufriedenheit erzeugte, war nicht die schlie߬
liche Explosion im Jahre 178!) dafür um so furchtbarer? Vielleicht wendet
Cenni ein, die christliche Religion könne nichts dafür, daß sie von ihren Ver¬
tretern nicht richtig gelehrt werde. So verhält es sich in der That; aber
wie sollen diese Vertreter geändert werden? Werden nicht die christlichen
Geistlichen auch in Zukunft stets Menschen und von menschlichen Rücksichten
abhängig bleiben? Bei einer öffentlichen Schnlprüfnng an irgend einem Orte
Westfalens — so berichtet die Preußische Lehrerzeitung — wurde u. a. das
Gedicht von Chamisso „Das Riesenspielzcug" vorgenommen und sein Grund¬
gedanke, daß auch der geringste Arbeiter den Großen dieser Erde zu ihrer
Erhaltung notwendig sei, richtig entwickelt. Bei dieser Katechese gaben die
anwesenden Schulvorstandsmitglieder dem Lehrer ihren Unwillen durch Scharren
und Husten zu erkennen, und nach der Prüfung machten sie ihm die heftigsten
Vorwürfe darüber, daß er „sozialdemokratische Ansichten und Ideen" verbreite.
Statt des Lobes für die glänzend verlanfne Prüfung erntete er eine amtliche
Rüge. So geht es auch mit jeder Stelle der Bibel, die den herrschenden
Kreisen nicht paßt. Jeder Geistliche, der sie auf der Kanzel und im Schul¬
unterricht hervorheben wollte, würde als Sozialdemokrat verschrien werden
und seines Amtes verlustig gehen. So tritt deun die Geistlichkeit, von löb¬
lichen Ausnahmen abgesehen, jahraus jahrein auf einigen politisch und sozial
unverfänglichen Dogmen herum, was ihr bloß den ohnmächtigen Zorn des
„Berliner Tageblatts" und einiger Professoren zuzieht, und geißelt daneben
fleißig die Sünden der untern Klassen, die Hauptsache im „Gesetze" aber
(Matth. 23, 23), die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, vernachlässigt sie gerade
so wie die Priester und Schriftgelehrten vor 1900 Jahren. Und so bleibt
zwar die Philosophie des Christentums ewig wahr, aber zugleich auch ewig
unwirksam.") Weil die christliche Gesinnung fehlt, darum werden die, die
sie verbreiten wollen, ans Krenz geschlagen oder eingesperrt oder der Existenz¬
mittel beraubt, und weil die christliche Gesinnung nicht verbreitet werden darf,



Unwirksam im Großen, in sozialer Beziehung, meinen wir natürlich; daß nicht zwar
die christliche Philosophie, aber doch die christliche Liebe einzelnen Unglücklichen jahraus
jahrein die Thränen trocknet, und daß sich die Zahl dieser Getrösteten alljährlich ans viele
tausende beläuft, leugnen wir nicht. Aber das Massenelend kommt und geht nicht so sehr
mit der unchristlichen Gesinnung, als mit den Umwälzungen der Produktion und mit den
Bewegungen der Bevölkerung, und die französische Revolution hat. indem sie den französischen
Bnuerustaud schuf, damit mehr Avlkswohl geschaffen, als irgend eine Klerisei irgend eines
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[0117] Lin italienischer Katholik über die Freiheit die christlichen Geistlichen die Geister in Europa ziemlich unbeschränkt be¬ herrscht. Haben sie die Gerechtigkeit herstellen können? Ist nicht das ganze Mittelalter eine ununterbrvchne Kette sozialer Revolutionen gewesen, und wenn die Darniederhaltnng des Volksgeistes unter dem WLion rc'-glas den Schein der Ruhe, Ordnung und Zufriedenheit erzeugte, war nicht die schlie߬ liche Explosion im Jahre 178!) dafür um so furchtbarer? Vielleicht wendet Cenni ein, die christliche Religion könne nichts dafür, daß sie von ihren Ver¬ tretern nicht richtig gelehrt werde. So verhält es sich in der That; aber wie sollen diese Vertreter geändert werden? Werden nicht die christlichen Geistlichen auch in Zukunft stets Menschen und von menschlichen Rücksichten abhängig bleiben? Bei einer öffentlichen Schnlprüfnng an irgend einem Orte Westfalens — so berichtet die Preußische Lehrerzeitung — wurde u. a. das Gedicht von Chamisso „Das Riesenspielzcug" vorgenommen und sein Grund¬ gedanke, daß auch der geringste Arbeiter den Großen dieser Erde zu ihrer Erhaltung notwendig sei, richtig entwickelt. Bei dieser Katechese gaben die anwesenden Schulvorstandsmitglieder dem Lehrer ihren Unwillen durch Scharren und Husten zu erkennen, und nach der Prüfung machten sie ihm die heftigsten Vorwürfe darüber, daß er „sozialdemokratische Ansichten und Ideen" verbreite. Statt des Lobes für die glänzend verlanfne Prüfung erntete er eine amtliche Rüge. So geht es auch mit jeder Stelle der Bibel, die den herrschenden Kreisen nicht paßt. Jeder Geistliche, der sie auf der Kanzel und im Schul¬ unterricht hervorheben wollte, würde als Sozialdemokrat verschrien werden und seines Amtes verlustig gehen. So tritt deun die Geistlichkeit, von löb¬ lichen Ausnahmen abgesehen, jahraus jahrein auf einigen politisch und sozial unverfänglichen Dogmen herum, was ihr bloß den ohnmächtigen Zorn des „Berliner Tageblatts" und einiger Professoren zuzieht, und geißelt daneben fleißig die Sünden der untern Klassen, die Hauptsache im „Gesetze" aber (Matth. 23, 23), die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, vernachlässigt sie gerade so wie die Priester und Schriftgelehrten vor 1900 Jahren. Und so bleibt zwar die Philosophie des Christentums ewig wahr, aber zugleich auch ewig unwirksam.") Weil die christliche Gesinnung fehlt, darum werden die, die sie verbreiten wollen, ans Krenz geschlagen oder eingesperrt oder der Existenz¬ mittel beraubt, und weil die christliche Gesinnung nicht verbreitet werden darf, Unwirksam im Großen, in sozialer Beziehung, meinen wir natürlich; daß nicht zwar die christliche Philosophie, aber doch die christliche Liebe einzelnen Unglücklichen jahraus jahrein die Thränen trocknet, und daß sich die Zahl dieser Getrösteten alljährlich ans viele tausende beläuft, leugnen wir nicht. Aber das Massenelend kommt und geht nicht so sehr mit der unchristlichen Gesinnung, als mit den Umwälzungen der Produktion und mit den Bewegungen der Bevölkerung, und die französische Revolution hat. indem sie den französischen Bnuerustaud schuf, damit mehr Avlkswohl geschaffen, als irgend eine Klerisei irgend eines Landes.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/117>, abgerufen am 22.07.2024.