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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Was wird aus dem Griechische"?

scharfen Anfmerkens erwerben, die für eine fruchtbare deutsche Lektüre voraus¬
gesetzt werden muß? Ist es nicht sehr wahr, was Cauer in seiner neuesten
Schrift "Unsre Erziehung durch Griechen und Römer" sagt: "Die Gedanken
der Schüler gleiten am deutschen Text ub, wie daS Rad an der zu glatten
Schiene: es fehlt an Reibung"? Nein, auch das ist kein stichhaltiger Ein¬
wand. Wenn das Eindringen in fremde Sprachgebiete so schwer ist wie beim
Griechischen, dann ist es nur für wenige philologisch begabte Schüler ein
Segen, für die Klasse aber, die Masse, ein Zurückhalten der geistigen Entwick¬
lung, und eine vergebliche Marter dazu. Warum in einen dichten Wald mit
der Axt in der Hand eindringen wollen, wenn von allen Seiten gebahnte Fu߬
pfade hineinführen? Die Hauptsache aber ist, daß wir Zeit gewinnen müssen
für die neuern Sprachen und vor allem für das Deutsche. Hier ist Reibung
genug, wenn man nur fahren und nicht darüber hinfliegen will. Wie sehr
auch die Altphilologen gegen jede Vermehrung der Stundenzahl für das Deutsche
Protestiren, der philosophische Gedankengehalt unsrer klassischen Litteratur, die
praktische Verwertung unsrer grammatischen Studien sür die Sprach- und
Schreibweise aller Gebildeten, das sind Schätze, die gehoben werden wollen,
und die sich ohne die schwerste Schädigung aller Stände nicht länger über¬
sehen lassen. Durch das Studium fremder Litteraturen und' fremder Sprachen
allein erfassen wir nimmer den Gedankengehalt unsrer Litteratur und den Geist
unsrer Sprache. Darum gilt es, das Studium der toten Sprachen soweit zu
beschränken, daß die nationale und moderne Bildung daneben nicht Schaden leide.

Mau sieht, daß diese Vorschläge, hervorgegangen aus den am Gymnasium
selbst gemachten Erfahrungen, viel weiter reichen, als die eifrigsten Verteidiger
der Einheitsschule zu gehen gewagt hätten, auch weiter, als es für die ein¬
heitliche Gestaltung des höhern Schulwesens unbedingt nötig ist. Diese ein¬
heitliche Gestaltung des höhern Schulwesens aber, diese Eingliederung der
Realgymnasien uno Realschulen oder höhern Bürgerschulen in den Organismus
des höhern Schulwesens ist eine unabweisbare Forderung des heutigen Unter-
richtswesens, eine Forderung übrigens, die nicht die Schulmänner stellen, sondern
das gesamte deutsche Volk, soweit es an höhern Schulwesen Interesse hat. Es
ist auf die Dauer unhaltbar, daß man den Eltern zumutet, über den künftigen
Beruf eines neun- oder zehnjährigen Knaben zu entscheiden. Mögen die für
das Griechische begeisterten Philologen immerhin einen Teil davon im Gym¬
nasium festhalte", der größere Teil der griechischen Sprachstudien wird doch
an die Universität abgegeben werden müssen. Diese Verschiebung wird nicht
bewirkt durch die Lehrer des Realgymnasiums, wie man hänfig in den Kreisen
der Gymnasiallehrer noch zu glauben scheint, sondern durch die steigende Be¬
deutung der zeitgemäßen Bildung und durch die Notwendigkeit, die gerechtesten
Forderungen der Öffentlichkeit zu befriedigen. Zu dieser einheitlichen Gestal¬
tung wäre es nötig, daß das Griechische erst in Obersekundn begönne, also


Was wird aus dem Griechische»?

scharfen Anfmerkens erwerben, die für eine fruchtbare deutsche Lektüre voraus¬
gesetzt werden muß? Ist es nicht sehr wahr, was Cauer in seiner neuesten
Schrift „Unsre Erziehung durch Griechen und Römer" sagt: „Die Gedanken
der Schüler gleiten am deutschen Text ub, wie daS Rad an der zu glatten
Schiene: es fehlt an Reibung"? Nein, auch das ist kein stichhaltiger Ein¬
wand. Wenn das Eindringen in fremde Sprachgebiete so schwer ist wie beim
Griechischen, dann ist es nur für wenige philologisch begabte Schüler ein
Segen, für die Klasse aber, die Masse, ein Zurückhalten der geistigen Entwick¬
lung, und eine vergebliche Marter dazu. Warum in einen dichten Wald mit
der Axt in der Hand eindringen wollen, wenn von allen Seiten gebahnte Fu߬
pfade hineinführen? Die Hauptsache aber ist, daß wir Zeit gewinnen müssen
für die neuern Sprachen und vor allem für das Deutsche. Hier ist Reibung
genug, wenn man nur fahren und nicht darüber hinfliegen will. Wie sehr
auch die Altphilologen gegen jede Vermehrung der Stundenzahl für das Deutsche
Protestiren, der philosophische Gedankengehalt unsrer klassischen Litteratur, die
praktische Verwertung unsrer grammatischen Studien sür die Sprach- und
Schreibweise aller Gebildeten, das sind Schätze, die gehoben werden wollen,
und die sich ohne die schwerste Schädigung aller Stände nicht länger über¬
sehen lassen. Durch das Studium fremder Litteraturen und' fremder Sprachen
allein erfassen wir nimmer den Gedankengehalt unsrer Litteratur und den Geist
unsrer Sprache. Darum gilt es, das Studium der toten Sprachen soweit zu
beschränken, daß die nationale und moderne Bildung daneben nicht Schaden leide.

Mau sieht, daß diese Vorschläge, hervorgegangen aus den am Gymnasium
selbst gemachten Erfahrungen, viel weiter reichen, als die eifrigsten Verteidiger
der Einheitsschule zu gehen gewagt hätten, auch weiter, als es für die ein¬
heitliche Gestaltung des höhern Schulwesens unbedingt nötig ist. Diese ein¬
heitliche Gestaltung des höhern Schulwesens aber, diese Eingliederung der
Realgymnasien uno Realschulen oder höhern Bürgerschulen in den Organismus
des höhern Schulwesens ist eine unabweisbare Forderung des heutigen Unter-
richtswesens, eine Forderung übrigens, die nicht die Schulmänner stellen, sondern
das gesamte deutsche Volk, soweit es an höhern Schulwesen Interesse hat. Es
ist auf die Dauer unhaltbar, daß man den Eltern zumutet, über den künftigen
Beruf eines neun- oder zehnjährigen Knaben zu entscheiden. Mögen die für
das Griechische begeisterten Philologen immerhin einen Teil davon im Gym¬
nasium festhalte», der größere Teil der griechischen Sprachstudien wird doch
an die Universität abgegeben werden müssen. Diese Verschiebung wird nicht
bewirkt durch die Lehrer des Realgymnasiums, wie man hänfig in den Kreisen
der Gymnasiallehrer noch zu glauben scheint, sondern durch die steigende Be¬
deutung der zeitgemäßen Bildung und durch die Notwendigkeit, die gerechtesten
Forderungen der Öffentlichkeit zu befriedigen. Zu dieser einheitlichen Gestal¬
tung wäre es nötig, daß das Griechische erst in Obersekundn begönne, also


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[0079] Was wird aus dem Griechische»? scharfen Anfmerkens erwerben, die für eine fruchtbare deutsche Lektüre voraus¬ gesetzt werden muß? Ist es nicht sehr wahr, was Cauer in seiner neuesten Schrift „Unsre Erziehung durch Griechen und Römer" sagt: „Die Gedanken der Schüler gleiten am deutschen Text ub, wie daS Rad an der zu glatten Schiene: es fehlt an Reibung"? Nein, auch das ist kein stichhaltiger Ein¬ wand. Wenn das Eindringen in fremde Sprachgebiete so schwer ist wie beim Griechischen, dann ist es nur für wenige philologisch begabte Schüler ein Segen, für die Klasse aber, die Masse, ein Zurückhalten der geistigen Entwick¬ lung, und eine vergebliche Marter dazu. Warum in einen dichten Wald mit der Axt in der Hand eindringen wollen, wenn von allen Seiten gebahnte Fu߬ pfade hineinführen? Die Hauptsache aber ist, daß wir Zeit gewinnen müssen für die neuern Sprachen und vor allem für das Deutsche. Hier ist Reibung genug, wenn man nur fahren und nicht darüber hinfliegen will. Wie sehr auch die Altphilologen gegen jede Vermehrung der Stundenzahl für das Deutsche Protestiren, der philosophische Gedankengehalt unsrer klassischen Litteratur, die praktische Verwertung unsrer grammatischen Studien sür die Sprach- und Schreibweise aller Gebildeten, das sind Schätze, die gehoben werden wollen, und die sich ohne die schwerste Schädigung aller Stände nicht länger über¬ sehen lassen. Durch das Studium fremder Litteraturen und' fremder Sprachen allein erfassen wir nimmer den Gedankengehalt unsrer Litteratur und den Geist unsrer Sprache. Darum gilt es, das Studium der toten Sprachen soweit zu beschränken, daß die nationale und moderne Bildung daneben nicht Schaden leide. Mau sieht, daß diese Vorschläge, hervorgegangen aus den am Gymnasium selbst gemachten Erfahrungen, viel weiter reichen, als die eifrigsten Verteidiger der Einheitsschule zu gehen gewagt hätten, auch weiter, als es für die ein¬ heitliche Gestaltung des höhern Schulwesens unbedingt nötig ist. Diese ein¬ heitliche Gestaltung des höhern Schulwesens aber, diese Eingliederung der Realgymnasien uno Realschulen oder höhern Bürgerschulen in den Organismus des höhern Schulwesens ist eine unabweisbare Forderung des heutigen Unter- richtswesens, eine Forderung übrigens, die nicht die Schulmänner stellen, sondern das gesamte deutsche Volk, soweit es an höhern Schulwesen Interesse hat. Es ist auf die Dauer unhaltbar, daß man den Eltern zumutet, über den künftigen Beruf eines neun- oder zehnjährigen Knaben zu entscheiden. Mögen die für das Griechische begeisterten Philologen immerhin einen Teil davon im Gym¬ nasium festhalte», der größere Teil der griechischen Sprachstudien wird doch an die Universität abgegeben werden müssen. Diese Verschiebung wird nicht bewirkt durch die Lehrer des Realgymnasiums, wie man hänfig in den Kreisen der Gymnasiallehrer noch zu glauben scheint, sondern durch die steigende Be¬ deutung der zeitgemäßen Bildung und durch die Notwendigkeit, die gerechtesten Forderungen der Öffentlichkeit zu befriedigen. Zu dieser einheitlichen Gestal¬ tung wäre es nötig, daß das Griechische erst in Obersekundn begönne, also

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/79>, abgerufen am 01.09.2024.