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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die Gründi!, die Bahnsch für diese kühnen Behauptungen anführt, sind
von hohem Interesse. Er weist zunächst nach, daß die griechische Schullektüre
seit fünfzig Jahren bedeutend zurückgegangen ist. Während man früher Euri-
pides und Äschhlos, die beiden ersten Bücher des Thukydides und Platos
Phädon las, wagt man sich heute kaum noch an Sophokles Chöre und liest
vom Phädon höchstens das Anfangs- und das Schlußkapitel. Noch mehr ist
das grammatische Wissen zusammengeschrumpft, seit dem Griechischen durch den
Lehrplan von achtzig Lehrstunden entzogen worden sind. Schon jetzt
ist das grammatische Wissen weder für die Lektüre noch für das Übersetzen
aus dem Deutschen allsreichend. In den Mittelklassen, wo das Griechische
beginnt, schlägt man sich bis zur Ermüdung mit der Formenlehre herum, und
in den Oberklassen, bei der Lektüre, empfindet man es bitter, wie wenig sprach¬
liche Sicherheit überhaupt erreicht werden kann. Ist diese Plackerei mit den
Formen, fragt Bcihnsch, eine angemessene Übung der Geisteskraft? Und dann --
was bleibt von dem so mühsam erworbnen Wissen nach dem Abgang von der
Schule haften? Auch die wärmsten Freunde der altgrichischen Sprache und
Litteratur -- und wer beide kennt, zählt sich zu ihnen -- können sich der
Wahrnehmung uicht verschließen, daß die griechische Sprache -- wohlgemerkt:
die Sprache -- jetzt in dem Wissen und Können der Höhergebildeten eine recht
untergeordnete Rolle spielt. Das Griechische macht sich im praktischen Leben
der Gegenwart gar nicht und im wissenschaftlichen -- wenn wir von Theo¬
logen, Philologen und Philosophen absehen -- sehr wenig bemerkbar. Wo
kommt der Jurist oder der Mediziner durch seinen Beruf noch mit dem Grie¬
chischen in Berührung? Es ist schlechterdings nicht zu leugnen, daß jetzt die
wissenschaftliche Arbeit der Fachstudien ebenso wie die praktische Thätigkeit
weit vom Griechischen wegführt. Auch in dem, was sonst zur höhern Geistes¬
kultur unsrer Zeit gehört, tritt die griechische Sprache wenig hervor. Denn
die reiche Fülle großer und ursprünglicher Gedanken, die der griechischen
Litteratur ihren bleibenden Wert verleiht und unsre eigne befruchtet hat, ist
bei dem Übergange in unser Schrifttum vom griechischen Laute abgelöst, wird
deutsch gedacht und in deutschen Worten fortgepflanzt.

Aus diesen Gründen, behauptet Bahnsch, wird sich der obligatorische Be¬
trieb des griechischen Sprachunterrichts ans die Dauer nicht halten lassen. Er
wird in die weniger anspruchsvolle und deshalb keineswegs mißachtete Stellung
eines fakultativen Unterrichts zurücktreten und fortan -- dem gehässigen Streit
der Parteien entzogen -- eine stille Gemeinde von freiwilligen, glaubens¬
treuen und deshalb um so eifrigem Jüngern um sich sammeln. Obligatorisch
aber soll die Lektüre guter Übersetzungen sein, und sie wird viel tiefer in die
geistige Entwicklung des Schülers eingreifen, als es jetzt möglich ist, weil sie
in viel größrer Ausdehnung als jetzt wird betrieben werden können.

Man darf nicht glauben, daß der obligatorische Unterricht im Griechischen


Die Gründi!, die Bahnsch für diese kühnen Behauptungen anführt, sind
von hohem Interesse. Er weist zunächst nach, daß die griechische Schullektüre
seit fünfzig Jahren bedeutend zurückgegangen ist. Während man früher Euri-
pides und Äschhlos, die beiden ersten Bücher des Thukydides und Platos
Phädon las, wagt man sich heute kaum noch an Sophokles Chöre und liest
vom Phädon höchstens das Anfangs- und das Schlußkapitel. Noch mehr ist
das grammatische Wissen zusammengeschrumpft, seit dem Griechischen durch den
Lehrplan von achtzig Lehrstunden entzogen worden sind. Schon jetzt
ist das grammatische Wissen weder für die Lektüre noch für das Übersetzen
aus dem Deutschen allsreichend. In den Mittelklassen, wo das Griechische
beginnt, schlägt man sich bis zur Ermüdung mit der Formenlehre herum, und
in den Oberklassen, bei der Lektüre, empfindet man es bitter, wie wenig sprach¬
liche Sicherheit überhaupt erreicht werden kann. Ist diese Plackerei mit den
Formen, fragt Bcihnsch, eine angemessene Übung der Geisteskraft? Und dann —
was bleibt von dem so mühsam erworbnen Wissen nach dem Abgang von der
Schule haften? Auch die wärmsten Freunde der altgrichischen Sprache und
Litteratur — und wer beide kennt, zählt sich zu ihnen — können sich der
Wahrnehmung uicht verschließen, daß die griechische Sprache — wohlgemerkt:
die Sprache — jetzt in dem Wissen und Können der Höhergebildeten eine recht
untergeordnete Rolle spielt. Das Griechische macht sich im praktischen Leben
der Gegenwart gar nicht und im wissenschaftlichen — wenn wir von Theo¬
logen, Philologen und Philosophen absehen — sehr wenig bemerkbar. Wo
kommt der Jurist oder der Mediziner durch seinen Beruf noch mit dem Grie¬
chischen in Berührung? Es ist schlechterdings nicht zu leugnen, daß jetzt die
wissenschaftliche Arbeit der Fachstudien ebenso wie die praktische Thätigkeit
weit vom Griechischen wegführt. Auch in dem, was sonst zur höhern Geistes¬
kultur unsrer Zeit gehört, tritt die griechische Sprache wenig hervor. Denn
die reiche Fülle großer und ursprünglicher Gedanken, die der griechischen
Litteratur ihren bleibenden Wert verleiht und unsre eigne befruchtet hat, ist
bei dem Übergange in unser Schrifttum vom griechischen Laute abgelöst, wird
deutsch gedacht und in deutschen Worten fortgepflanzt.

Aus diesen Gründen, behauptet Bahnsch, wird sich der obligatorische Be¬
trieb des griechischen Sprachunterrichts ans die Dauer nicht halten lassen. Er
wird in die weniger anspruchsvolle und deshalb keineswegs mißachtete Stellung
eines fakultativen Unterrichts zurücktreten und fortan — dem gehässigen Streit
der Parteien entzogen — eine stille Gemeinde von freiwilligen, glaubens¬
treuen und deshalb um so eifrigem Jüngern um sich sammeln. Obligatorisch
aber soll die Lektüre guter Übersetzungen sein, und sie wird viel tiefer in die
geistige Entwicklung des Schülers eingreifen, als es jetzt möglich ist, weil sie
in viel größrer Ausdehnung als jetzt wird betrieben werden können.

Man darf nicht glauben, daß der obligatorische Unterricht im Griechischen


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[0077] Die Gründi!, die Bahnsch für diese kühnen Behauptungen anführt, sind von hohem Interesse. Er weist zunächst nach, daß die griechische Schullektüre seit fünfzig Jahren bedeutend zurückgegangen ist. Während man früher Euri- pides und Äschhlos, die beiden ersten Bücher des Thukydides und Platos Phädon las, wagt man sich heute kaum noch an Sophokles Chöre und liest vom Phädon höchstens das Anfangs- und das Schlußkapitel. Noch mehr ist das grammatische Wissen zusammengeschrumpft, seit dem Griechischen durch den Lehrplan von achtzig Lehrstunden entzogen worden sind. Schon jetzt ist das grammatische Wissen weder für die Lektüre noch für das Übersetzen aus dem Deutschen allsreichend. In den Mittelklassen, wo das Griechische beginnt, schlägt man sich bis zur Ermüdung mit der Formenlehre herum, und in den Oberklassen, bei der Lektüre, empfindet man es bitter, wie wenig sprach¬ liche Sicherheit überhaupt erreicht werden kann. Ist diese Plackerei mit den Formen, fragt Bcihnsch, eine angemessene Übung der Geisteskraft? Und dann — was bleibt von dem so mühsam erworbnen Wissen nach dem Abgang von der Schule haften? Auch die wärmsten Freunde der altgrichischen Sprache und Litteratur — und wer beide kennt, zählt sich zu ihnen — können sich der Wahrnehmung uicht verschließen, daß die griechische Sprache — wohlgemerkt: die Sprache — jetzt in dem Wissen und Können der Höhergebildeten eine recht untergeordnete Rolle spielt. Das Griechische macht sich im praktischen Leben der Gegenwart gar nicht und im wissenschaftlichen — wenn wir von Theo¬ logen, Philologen und Philosophen absehen — sehr wenig bemerkbar. Wo kommt der Jurist oder der Mediziner durch seinen Beruf noch mit dem Grie¬ chischen in Berührung? Es ist schlechterdings nicht zu leugnen, daß jetzt die wissenschaftliche Arbeit der Fachstudien ebenso wie die praktische Thätigkeit weit vom Griechischen wegführt. Auch in dem, was sonst zur höhern Geistes¬ kultur unsrer Zeit gehört, tritt die griechische Sprache wenig hervor. Denn die reiche Fülle großer und ursprünglicher Gedanken, die der griechischen Litteratur ihren bleibenden Wert verleiht und unsre eigne befruchtet hat, ist bei dem Übergange in unser Schrifttum vom griechischen Laute abgelöst, wird deutsch gedacht und in deutschen Worten fortgepflanzt. Aus diesen Gründen, behauptet Bahnsch, wird sich der obligatorische Be¬ trieb des griechischen Sprachunterrichts ans die Dauer nicht halten lassen. Er wird in die weniger anspruchsvolle und deshalb keineswegs mißachtete Stellung eines fakultativen Unterrichts zurücktreten und fortan — dem gehässigen Streit der Parteien entzogen — eine stille Gemeinde von freiwilligen, glaubens¬ treuen und deshalb um so eifrigem Jüngern um sich sammeln. Obligatorisch aber soll die Lektüre guter Übersetzungen sein, und sie wird viel tiefer in die geistige Entwicklung des Schülers eingreifen, als es jetzt möglich ist, weil sie in viel größrer Ausdehnung als jetzt wird betrieben werden können. Man darf nicht glauben, daß der obligatorische Unterricht im Griechischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/77>, abgerufen am 23.11.2024.