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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Alassenbemegnng und Nationalitätenpolitik in Österreich

zu ziehen. Die Bevölkerung der Kronländer Oberösterreichs, Salzburgs,
Steiermarks, Kärntens, Krains, Tirols und Vorarlbergs hat sich zwischen
1831 und 1800 nur von 3 260 000 Menschen auf 4 029 000 vermehrt, wäh¬
rend Böhmen, Mähren und Schlesien von 5 941 000 aus 8 711 000 angewachsen
sind. Die Vermehrung ist hier doppelt so groß als dort. Aber Haiuisch
schlägt uicht bloß das Machtelement, das dadurch dem Norden, insbesondre
den Slawen, zugefallen ist, hoch an, er findet -- und hier wird man doch
etwas bedenklich --, daß ein geschlossener Bauernstand wie in den Alpen keinen
Vorzug habe in Bezug auf Kraft, Sitte und Volksgesundheit. Er hält es
in jeder Beziehung für wünschenswert, daß die Alpenländer in den Strom der
modernen wirtschaftlichen Regsamkeit hineingezogen werden. Wenn der jetzige
Zustand fortdauere, so leide der Staat ebenso wie die deutsche Nationalität,
die in ihre Marken den Fremden einziehen und sich hier verbreiten sehn.

Lassen wir die Einwendungen beiseite, die gegen diese Beweisführung er¬
hoben werden können, wenn der Wert des Bauernstandes für die Gesellschaft
erwogen wird. Auch sonst fällt weiter auf, daß Hainisch nicht fragt, ob das
wirtschaftliche Emporblühen der Sndetenländer mehr den Deutschen oder den
Tschechen Böhmens und Mährens zu gute gekommen sei. Die Antwort ist
nicht einfach; jedenfalls hätte in Betracht gezogen werden sollen, daß derselbe
Unterschied, wie zwischen den Alpen- und den Sudetenländern, auch zwischen
den agrarischen (tschechischen) Bezirken des mittlern Böhmens und zwischen den
Jndnstriegegenden des Nordens besteht. Die agrarischen Bezirke Böhmens
stehen still, einige gehen selbst in der Bevölkerung zurück; der Norden des
Landes zeigt stellenweise eine fast amerikanische Verdichtung der Bevölkerung.
Am Anfange des Jahrhunderts war, wie die ältere Statistik zeigt, der alte
Königgrätzer (meist von Tschechen bewohnte) Kreis der am stärksten bevölkerte
Böhmens; jetzt ist es der einstige Leitmeritzer Kreis, wo fast ausschließlich
Deutsche leben. Auch in Böhmen hat eine Verschiebung der Bevölkerungs-
dichtigkeit und der Stenerkräfte stattgefunden, aber hier, wenigstens von
1830 bis 1860, zu Gunsten der Deutschen. Dann ist, wie die Volkszählung
zeigte, ein Zustand des Gleichgewichts eingetreten.

In dem vierten Abschnitt seines Buches führt der Verfasser deu Leser
scheinbar von dem Gegenstande ab und prüft mit alleu Hilfsmitteln der Wissen¬
schaft die wirtschaftliche Lage des Alpenbauers; zuletzt führen seine vielver-
schlnngneu Pfade, auf denen er die Frage der Erbteiluug, der Natural- und
der Geldwirtschaft und der Hhpothekenverschulduug sorgsam erörtert, auf deu
Ansgnngspunkt zurück, aus die Frage, wessen sich die deutsche Nationalität
von dem Eindringen der kapitalistischen Wirtschaft in die stillen Thäler Jnner-
österreichs zu versehen habe. Wenn Roseggcr in seinem schönen Buche "Jakob
der Letzte" das Aufsaugen der Bauernwirtschaften durch den Großbetrieb, den
Anbruch einer neuen Wirtschaftszeit, in einem besondern Menschenschicksale,


Grenzboten III 1893 63
Alassenbemegnng und Nationalitätenpolitik in Österreich

zu ziehen. Die Bevölkerung der Kronländer Oberösterreichs, Salzburgs,
Steiermarks, Kärntens, Krains, Tirols und Vorarlbergs hat sich zwischen
1831 und 1800 nur von 3 260 000 Menschen auf 4 029 000 vermehrt, wäh¬
rend Böhmen, Mähren und Schlesien von 5 941 000 aus 8 711 000 angewachsen
sind. Die Vermehrung ist hier doppelt so groß als dort. Aber Haiuisch
schlägt uicht bloß das Machtelement, das dadurch dem Norden, insbesondre
den Slawen, zugefallen ist, hoch an, er findet — und hier wird man doch
etwas bedenklich —, daß ein geschlossener Bauernstand wie in den Alpen keinen
Vorzug habe in Bezug auf Kraft, Sitte und Volksgesundheit. Er hält es
in jeder Beziehung für wünschenswert, daß die Alpenländer in den Strom der
modernen wirtschaftlichen Regsamkeit hineingezogen werden. Wenn der jetzige
Zustand fortdauere, so leide der Staat ebenso wie die deutsche Nationalität,
die in ihre Marken den Fremden einziehen und sich hier verbreiten sehn.

Lassen wir die Einwendungen beiseite, die gegen diese Beweisführung er¬
hoben werden können, wenn der Wert des Bauernstandes für die Gesellschaft
erwogen wird. Auch sonst fällt weiter auf, daß Hainisch nicht fragt, ob das
wirtschaftliche Emporblühen der Sndetenländer mehr den Deutschen oder den
Tschechen Böhmens und Mährens zu gute gekommen sei. Die Antwort ist
nicht einfach; jedenfalls hätte in Betracht gezogen werden sollen, daß derselbe
Unterschied, wie zwischen den Alpen- und den Sudetenländern, auch zwischen
den agrarischen (tschechischen) Bezirken des mittlern Böhmens und zwischen den
Jndnstriegegenden des Nordens besteht. Die agrarischen Bezirke Böhmens
stehen still, einige gehen selbst in der Bevölkerung zurück; der Norden des
Landes zeigt stellenweise eine fast amerikanische Verdichtung der Bevölkerung.
Am Anfange des Jahrhunderts war, wie die ältere Statistik zeigt, der alte
Königgrätzer (meist von Tschechen bewohnte) Kreis der am stärksten bevölkerte
Böhmens; jetzt ist es der einstige Leitmeritzer Kreis, wo fast ausschließlich
Deutsche leben. Auch in Böhmen hat eine Verschiebung der Bevölkerungs-
dichtigkeit und der Stenerkräfte stattgefunden, aber hier, wenigstens von
1830 bis 1860, zu Gunsten der Deutschen. Dann ist, wie die Volkszählung
zeigte, ein Zustand des Gleichgewichts eingetreten.

In dem vierten Abschnitt seines Buches führt der Verfasser deu Leser
scheinbar von dem Gegenstande ab und prüft mit alleu Hilfsmitteln der Wissen¬
schaft die wirtschaftliche Lage des Alpenbauers; zuletzt führen seine vielver-
schlnngneu Pfade, auf denen er die Frage der Erbteiluug, der Natural- und
der Geldwirtschaft und der Hhpothekenverschulduug sorgsam erörtert, auf deu
Ansgnngspunkt zurück, aus die Frage, wessen sich die deutsche Nationalität
von dem Eindringen der kapitalistischen Wirtschaft in die stillen Thäler Jnner-
österreichs zu versehen habe. Wenn Roseggcr in seinem schönen Buche „Jakob
der Letzte" das Aufsaugen der Bauernwirtschaften durch den Großbetrieb, den
Anbruch einer neuen Wirtschaftszeit, in einem besondern Menschenschicksale,


Grenzboten III 1893 63
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[0505] Alassenbemegnng und Nationalitätenpolitik in Österreich zu ziehen. Die Bevölkerung der Kronländer Oberösterreichs, Salzburgs, Steiermarks, Kärntens, Krains, Tirols und Vorarlbergs hat sich zwischen 1831 und 1800 nur von 3 260 000 Menschen auf 4 029 000 vermehrt, wäh¬ rend Böhmen, Mähren und Schlesien von 5 941 000 aus 8 711 000 angewachsen sind. Die Vermehrung ist hier doppelt so groß als dort. Aber Haiuisch schlägt uicht bloß das Machtelement, das dadurch dem Norden, insbesondre den Slawen, zugefallen ist, hoch an, er findet — und hier wird man doch etwas bedenklich —, daß ein geschlossener Bauernstand wie in den Alpen keinen Vorzug habe in Bezug auf Kraft, Sitte und Volksgesundheit. Er hält es in jeder Beziehung für wünschenswert, daß die Alpenländer in den Strom der modernen wirtschaftlichen Regsamkeit hineingezogen werden. Wenn der jetzige Zustand fortdauere, so leide der Staat ebenso wie die deutsche Nationalität, die in ihre Marken den Fremden einziehen und sich hier verbreiten sehn. Lassen wir die Einwendungen beiseite, die gegen diese Beweisführung er¬ hoben werden können, wenn der Wert des Bauernstandes für die Gesellschaft erwogen wird. Auch sonst fällt weiter auf, daß Hainisch nicht fragt, ob das wirtschaftliche Emporblühen der Sndetenländer mehr den Deutschen oder den Tschechen Böhmens und Mährens zu gute gekommen sei. Die Antwort ist nicht einfach; jedenfalls hätte in Betracht gezogen werden sollen, daß derselbe Unterschied, wie zwischen den Alpen- und den Sudetenländern, auch zwischen den agrarischen (tschechischen) Bezirken des mittlern Böhmens und zwischen den Jndnstriegegenden des Nordens besteht. Die agrarischen Bezirke Böhmens stehen still, einige gehen selbst in der Bevölkerung zurück; der Norden des Landes zeigt stellenweise eine fast amerikanische Verdichtung der Bevölkerung. Am Anfange des Jahrhunderts war, wie die ältere Statistik zeigt, der alte Königgrätzer (meist von Tschechen bewohnte) Kreis der am stärksten bevölkerte Böhmens; jetzt ist es der einstige Leitmeritzer Kreis, wo fast ausschließlich Deutsche leben. Auch in Böhmen hat eine Verschiebung der Bevölkerungs- dichtigkeit und der Stenerkräfte stattgefunden, aber hier, wenigstens von 1830 bis 1860, zu Gunsten der Deutschen. Dann ist, wie die Volkszählung zeigte, ein Zustand des Gleichgewichts eingetreten. In dem vierten Abschnitt seines Buches führt der Verfasser deu Leser scheinbar von dem Gegenstande ab und prüft mit alleu Hilfsmitteln der Wissen¬ schaft die wirtschaftliche Lage des Alpenbauers; zuletzt führen seine vielver- schlnngneu Pfade, auf denen er die Frage der Erbteiluug, der Natural- und der Geldwirtschaft und der Hhpothekenverschulduug sorgsam erörtert, auf deu Ansgnngspunkt zurück, aus die Frage, wessen sich die deutsche Nationalität von dem Eindringen der kapitalistischen Wirtschaft in die stillen Thäler Jnner- österreichs zu versehen habe. Wenn Roseggcr in seinem schönen Buche „Jakob der Letzte" das Aufsaugen der Bauernwirtschaften durch den Großbetrieb, den Anbruch einer neuen Wirtschaftszeit, in einem besondern Menschenschicksale, Grenzboten III 1893 63

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/505>, abgerufen am 25.11.2024.