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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Alassonbewegung und Nationalitätenpolitik in "Österreich

Weniger und Deutschkarnten gar nur 25,57 Prozent ausweist. Es ist also
keineswegs physische Überlegenheit, was der Slawenwelt den Vorsprung ver¬
schafft. Es müssen schwerwiegende wirtschaftliche Umstände sein, durch die
die Deutschen genötigt sind, sich stärkere Beschränkungen in der Eheschließung
aufzuerlegen.

Sorgfältige Untersuchungen stellen nur fest, daß es wesentlich die land¬
wirtschaftlichen Verhältnisse, insbesondre die Verteilung des Grundbesitzes ist,
durch die die Verschiedenheit der Bevölkernngsvermehrung in Osterreich hervor¬
gerufen wird. Wo Parzellenbesitz überwiegt, wo Grund und Boden stark zer¬
stückelt ist, wie in Galizien und in den südslawischen und welschen Gebieten,
wie Dalmatien und Südtirol, vermehrt sich die Bevölkerung außerordentlich
rasch; in der Mitte stehen die Gebiete wie die Sudetenländer, wo neben großem
Grundbesitz und neben mittlern Bauernhöfen viele Häusler leben; dagegen steht
die Bevölkerung still, wo der Bauernbesitz überwiegt, besonders, wo geschlossene
Bauernhöfe eine Zerteilung des Bodens unter mehrere Kinder unmöglich machen.
In Oberösterreich verfügt der mittlere Bauernstand fast über zwei Fünftel
der Grundflüche des Landes, noch günstiger stehen die Dinge in Körnten,
während in Böhmen jahraus jahrein Gutszerstücklungen in großem Maßstabe
vorkommen, und zwar nicht erst seit 1869, wo die Unteilbarkeit der Bauerngüter
aufgehoben wurde. Der große Grundbesitzer läßt sein Gut durch Tagelöhner
bewirtschaften, die häufig Kleinhäusler sind, und diese vermehren sich rasch,
wenn die Arbeitsgelegenheit steigt; der große geschlossene Bauernhof aber be¬
schränkt die Ehe, wie Hämisch ausführt, nach zwei Richtungen: er verzögert
die Ehe des Auerben so lange, bis der Bauer "in die Ausnahme geht" oder
stirbt, und er hindert die Ehe der Knechte und Mägde, die auf dem Hofe oft
ihr Leben lang beschäftigt sind. Dazu kommt, daß die Eheschließung in Deutsch-
tirol und Vorarlberg rechtlich, in Salzburg thatsächlich um die Zustimmung
der Gemeinde geknüpft ist. Dieselbe Agrarverfassung führt überall dieselben
Wirkungen herbei; in Baiern hat das Gebiet zwischen Jsar und Jnn, wo
gleichfalls der geschlossene Bauernhof vorherrscht, sogar einen Überschuß der
Sterbefälle über die Geburten aufzuweisen, sodaß die Bevölkerung ohne Ein¬
wanderung abnehmen würde.

So ist es denn, wie Hainisch ausführt, natürlich, daß das Deutschtum
Österreichs zurückgeht, da ein beträchtlicher Vvlksteil dem Stillstand verfallen
ist. Nur in den Sudetenlündern giebt es einen Überschuß an Arbeitskräften,
und hier hat sich die Industrie mächtig entfaltet. Sie zieht in Österreich
sichtbar von Süden nach Norden; noch im Jahre 1828 war, wie Hainisch
aus den Steuertabellcn nachweist, von einem Übergewichte der Sudetenländer
nichts zu bemerken. Jetzt ist die ganze Seidenindustrie von Wien nach Norden
gezogen; die Zuckeriudustrie ist ausschließlich dort vertreten, und auch die Baum-
wollenindustrie beginnt immer mehr sich nach Böhmen, Mähren und Schlesien


Alassonbewegung und Nationalitätenpolitik in «Österreich

Weniger und Deutschkarnten gar nur 25,57 Prozent ausweist. Es ist also
keineswegs physische Überlegenheit, was der Slawenwelt den Vorsprung ver¬
schafft. Es müssen schwerwiegende wirtschaftliche Umstände sein, durch die
die Deutschen genötigt sind, sich stärkere Beschränkungen in der Eheschließung
aufzuerlegen.

Sorgfältige Untersuchungen stellen nur fest, daß es wesentlich die land¬
wirtschaftlichen Verhältnisse, insbesondre die Verteilung des Grundbesitzes ist,
durch die die Verschiedenheit der Bevölkernngsvermehrung in Osterreich hervor¬
gerufen wird. Wo Parzellenbesitz überwiegt, wo Grund und Boden stark zer¬
stückelt ist, wie in Galizien und in den südslawischen und welschen Gebieten,
wie Dalmatien und Südtirol, vermehrt sich die Bevölkerung außerordentlich
rasch; in der Mitte stehen die Gebiete wie die Sudetenländer, wo neben großem
Grundbesitz und neben mittlern Bauernhöfen viele Häusler leben; dagegen steht
die Bevölkerung still, wo der Bauernbesitz überwiegt, besonders, wo geschlossene
Bauernhöfe eine Zerteilung des Bodens unter mehrere Kinder unmöglich machen.
In Oberösterreich verfügt der mittlere Bauernstand fast über zwei Fünftel
der Grundflüche des Landes, noch günstiger stehen die Dinge in Körnten,
während in Böhmen jahraus jahrein Gutszerstücklungen in großem Maßstabe
vorkommen, und zwar nicht erst seit 1869, wo die Unteilbarkeit der Bauerngüter
aufgehoben wurde. Der große Grundbesitzer läßt sein Gut durch Tagelöhner
bewirtschaften, die häufig Kleinhäusler sind, und diese vermehren sich rasch,
wenn die Arbeitsgelegenheit steigt; der große geschlossene Bauernhof aber be¬
schränkt die Ehe, wie Hämisch ausführt, nach zwei Richtungen: er verzögert
die Ehe des Auerben so lange, bis der Bauer „in die Ausnahme geht" oder
stirbt, und er hindert die Ehe der Knechte und Mägde, die auf dem Hofe oft
ihr Leben lang beschäftigt sind. Dazu kommt, daß die Eheschließung in Deutsch-
tirol und Vorarlberg rechtlich, in Salzburg thatsächlich um die Zustimmung
der Gemeinde geknüpft ist. Dieselbe Agrarverfassung führt überall dieselben
Wirkungen herbei; in Baiern hat das Gebiet zwischen Jsar und Jnn, wo
gleichfalls der geschlossene Bauernhof vorherrscht, sogar einen Überschuß der
Sterbefälle über die Geburten aufzuweisen, sodaß die Bevölkerung ohne Ein¬
wanderung abnehmen würde.

So ist es denn, wie Hainisch ausführt, natürlich, daß das Deutschtum
Österreichs zurückgeht, da ein beträchtlicher Vvlksteil dem Stillstand verfallen
ist. Nur in den Sudetenlündern giebt es einen Überschuß an Arbeitskräften,
und hier hat sich die Industrie mächtig entfaltet. Sie zieht in Österreich
sichtbar von Süden nach Norden; noch im Jahre 1828 war, wie Hainisch
aus den Steuertabellcn nachweist, von einem Übergewichte der Sudetenländer
nichts zu bemerken. Jetzt ist die ganze Seidenindustrie von Wien nach Norden
gezogen; die Zuckeriudustrie ist ausschließlich dort vertreten, und auch die Baum-
wollenindustrie beginnt immer mehr sich nach Böhmen, Mähren und Schlesien


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[0504] Alassonbewegung und Nationalitätenpolitik in «Österreich Weniger und Deutschkarnten gar nur 25,57 Prozent ausweist. Es ist also keineswegs physische Überlegenheit, was der Slawenwelt den Vorsprung ver¬ schafft. Es müssen schwerwiegende wirtschaftliche Umstände sein, durch die die Deutschen genötigt sind, sich stärkere Beschränkungen in der Eheschließung aufzuerlegen. Sorgfältige Untersuchungen stellen nur fest, daß es wesentlich die land¬ wirtschaftlichen Verhältnisse, insbesondre die Verteilung des Grundbesitzes ist, durch die die Verschiedenheit der Bevölkernngsvermehrung in Osterreich hervor¬ gerufen wird. Wo Parzellenbesitz überwiegt, wo Grund und Boden stark zer¬ stückelt ist, wie in Galizien und in den südslawischen und welschen Gebieten, wie Dalmatien und Südtirol, vermehrt sich die Bevölkerung außerordentlich rasch; in der Mitte stehen die Gebiete wie die Sudetenländer, wo neben großem Grundbesitz und neben mittlern Bauernhöfen viele Häusler leben; dagegen steht die Bevölkerung still, wo der Bauernbesitz überwiegt, besonders, wo geschlossene Bauernhöfe eine Zerteilung des Bodens unter mehrere Kinder unmöglich machen. In Oberösterreich verfügt der mittlere Bauernstand fast über zwei Fünftel der Grundflüche des Landes, noch günstiger stehen die Dinge in Körnten, während in Böhmen jahraus jahrein Gutszerstücklungen in großem Maßstabe vorkommen, und zwar nicht erst seit 1869, wo die Unteilbarkeit der Bauerngüter aufgehoben wurde. Der große Grundbesitzer läßt sein Gut durch Tagelöhner bewirtschaften, die häufig Kleinhäusler sind, und diese vermehren sich rasch, wenn die Arbeitsgelegenheit steigt; der große geschlossene Bauernhof aber be¬ schränkt die Ehe, wie Hämisch ausführt, nach zwei Richtungen: er verzögert die Ehe des Auerben so lange, bis der Bauer „in die Ausnahme geht" oder stirbt, und er hindert die Ehe der Knechte und Mägde, die auf dem Hofe oft ihr Leben lang beschäftigt sind. Dazu kommt, daß die Eheschließung in Deutsch- tirol und Vorarlberg rechtlich, in Salzburg thatsächlich um die Zustimmung der Gemeinde geknüpft ist. Dieselbe Agrarverfassung führt überall dieselben Wirkungen herbei; in Baiern hat das Gebiet zwischen Jsar und Jnn, wo gleichfalls der geschlossene Bauernhof vorherrscht, sogar einen Überschuß der Sterbefälle über die Geburten aufzuweisen, sodaß die Bevölkerung ohne Ein¬ wanderung abnehmen würde. So ist es denn, wie Hainisch ausführt, natürlich, daß das Deutschtum Österreichs zurückgeht, da ein beträchtlicher Vvlksteil dem Stillstand verfallen ist. Nur in den Sudetenlündern giebt es einen Überschuß an Arbeitskräften, und hier hat sich die Industrie mächtig entfaltet. Sie zieht in Österreich sichtbar von Süden nach Norden; noch im Jahre 1828 war, wie Hainisch aus den Steuertabellcn nachweist, von einem Übergewichte der Sudetenländer nichts zu bemerken. Jetzt ist die ganze Seidenindustrie von Wien nach Norden gezogen; die Zuckeriudustrie ist ausschließlich dort vertreten, und auch die Baum- wollenindustrie beginnt immer mehr sich nach Böhmen, Mähren und Schlesien

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/504>, abgerufen am 01.09.2024.