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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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le schulgerechte Ästhetik lehrt, das; die Form jeder Dichtung der
Art ihres Stoffes angepaßt sei und mit Naturnotwendigkeit aus
dieser Art hervorwachsen müsse. Und der gesunde Instinkt jeder
ursprünglichen, nicht verbildeten Künstlernatur fühlt, so lange
nicht äußere Bedingungen und Forderungen die künstlerische Frei¬
heit einschränken, daß die besondre Aufgabe die Besonderheit der Ausführung
in sich trägt. Gleichwohl läßt alle Kunst- und Litteraturgeschichte erkennen,
daß in der' geschaffnen Form eine selbständige Macht liegt, die, weiterwirkend,
die Phantasie und Gestaltungskraft beeinflußt, die Stvffwahl der Schaffenden
beengt, den Stil, der sich wie Farbe. Schmelz und Duft mit der Blüte selbst
entfalten soll, jeder Blüte wie eine Glasglocke überstülpt. Weit es aber eben
unvermeidlich ist, daß die bewährte, ja sogar die bloß modisch gewordne Form
eine geheime Gewalt nicht bloß über die Talente zweiten Ranges -- wenn auch
über diese am stärksten und unwiderstehlichsten -- erlangt, hat die Kritik viel
schärfer, als es nun gewöhnlich geschieht, auf die Entstehung oder die plötz¬
liche Herrschaft neuer Formen zu achten. Was im Beginn von innen heraus
vielleicht berechtigt, ja künstlerisch allein zulässig ist, kann im Fortgang zur
drückenden Fessel des schöpferischen Geistes, ja zur Abgeschmacktheit werden,
und doch erhebt sich leine Stimme gegen diese Abgeschmacktheit. Sils Racine
die französische Borzinunertragödie, die ein künstlich zu fünf Akten ausgedehnter
fünfter Akt ist, auf den Gipfel ihrer Vollendung hob, hatte er Ziele im Auge
und Stoffe nnter den Händen, bei denen die eigentümliche Anlage und Zu¬
sammenziehung ihr volles Recht hatte und poetische Wirkungen hervorrief, die
eben nur auf diesem Wege zu erreichen waren. Als aber dann die Form
dieser auf Stunden zusammengedrängten Tragödie -- im "Britanniens" und im
..Mithridat" ein Wunder von fortreißender Entwicklung und feinstem Schliff --
jedem Stoff aufgezwungen wurde, den ein französischer Tragiker überhaupt
behandelte, als eine greisenhaft gewordne Gewohnheit den Dichter, der seine
Schöpfung dargestellt sehen wollte, immer wieder in den überlieferte" Stil
hineinzwnng, während alle Motive und Stoffe, deren innerm Wesen dieser
Stil entsprach, längst verbraucht waren, da wurde es klar, daß man sich in
der überlieferten Form eine Tyrannin der bedenklichsten Art aufgezogen hatte.




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le schulgerechte Ästhetik lehrt, das; die Form jeder Dichtung der
Art ihres Stoffes angepaßt sei und mit Naturnotwendigkeit aus
dieser Art hervorwachsen müsse. Und der gesunde Instinkt jeder
ursprünglichen, nicht verbildeten Künstlernatur fühlt, so lange
nicht äußere Bedingungen und Forderungen die künstlerische Frei¬
heit einschränken, daß die besondre Aufgabe die Besonderheit der Ausführung
in sich trägt. Gleichwohl läßt alle Kunst- und Litteraturgeschichte erkennen,
daß in der' geschaffnen Form eine selbständige Macht liegt, die, weiterwirkend,
die Phantasie und Gestaltungskraft beeinflußt, die Stvffwahl der Schaffenden
beengt, den Stil, der sich wie Farbe. Schmelz und Duft mit der Blüte selbst
entfalten soll, jeder Blüte wie eine Glasglocke überstülpt. Weit es aber eben
unvermeidlich ist, daß die bewährte, ja sogar die bloß modisch gewordne Form
eine geheime Gewalt nicht bloß über die Talente zweiten Ranges — wenn auch
über diese am stärksten und unwiderstehlichsten — erlangt, hat die Kritik viel
schärfer, als es nun gewöhnlich geschieht, auf die Entstehung oder die plötz¬
liche Herrschaft neuer Formen zu achten. Was im Beginn von innen heraus
vielleicht berechtigt, ja künstlerisch allein zulässig ist, kann im Fortgang zur
drückenden Fessel des schöpferischen Geistes, ja zur Abgeschmacktheit werden,
und doch erhebt sich leine Stimme gegen diese Abgeschmacktheit. Sils Racine
die französische Borzinunertragödie, die ein künstlich zu fünf Akten ausgedehnter
fünfter Akt ist, auf den Gipfel ihrer Vollendung hob, hatte er Ziele im Auge
und Stoffe nnter den Händen, bei denen die eigentümliche Anlage und Zu¬
sammenziehung ihr volles Recht hatte und poetische Wirkungen hervorrief, die
eben nur auf diesem Wege zu erreichen waren. Als aber dann die Form
dieser auf Stunden zusammengedrängten Tragödie — im „Britanniens" und im
..Mithridat" ein Wunder von fortreißender Entwicklung und feinstem Schliff —
jedem Stoff aufgezwungen wurde, den ein französischer Tragiker überhaupt
behandelte, als eine greisenhaft gewordne Gewohnheit den Dichter, der seine
Schöpfung dargestellt sehen wollte, immer wieder in den überlieferte» Stil
hineinzwnng, während alle Motive und Stoffe, deren innerm Wesen dieser
Stil entsprach, längst verbraucht waren, da wurde es klar, daß man sich in
der überlieferten Form eine Tyrannin der bedenklichsten Art aufgezogen hatte.


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[0411] [Abbildung] Lauter Einbänder le schulgerechte Ästhetik lehrt, das; die Form jeder Dichtung der Art ihres Stoffes angepaßt sei und mit Naturnotwendigkeit aus dieser Art hervorwachsen müsse. Und der gesunde Instinkt jeder ursprünglichen, nicht verbildeten Künstlernatur fühlt, so lange nicht äußere Bedingungen und Forderungen die künstlerische Frei¬ heit einschränken, daß die besondre Aufgabe die Besonderheit der Ausführung in sich trägt. Gleichwohl läßt alle Kunst- und Litteraturgeschichte erkennen, daß in der' geschaffnen Form eine selbständige Macht liegt, die, weiterwirkend, die Phantasie und Gestaltungskraft beeinflußt, die Stvffwahl der Schaffenden beengt, den Stil, der sich wie Farbe. Schmelz und Duft mit der Blüte selbst entfalten soll, jeder Blüte wie eine Glasglocke überstülpt. Weit es aber eben unvermeidlich ist, daß die bewährte, ja sogar die bloß modisch gewordne Form eine geheime Gewalt nicht bloß über die Talente zweiten Ranges — wenn auch über diese am stärksten und unwiderstehlichsten — erlangt, hat die Kritik viel schärfer, als es nun gewöhnlich geschieht, auf die Entstehung oder die plötz¬ liche Herrschaft neuer Formen zu achten. Was im Beginn von innen heraus vielleicht berechtigt, ja künstlerisch allein zulässig ist, kann im Fortgang zur drückenden Fessel des schöpferischen Geistes, ja zur Abgeschmacktheit werden, und doch erhebt sich leine Stimme gegen diese Abgeschmacktheit. Sils Racine die französische Borzinunertragödie, die ein künstlich zu fünf Akten ausgedehnter fünfter Akt ist, auf den Gipfel ihrer Vollendung hob, hatte er Ziele im Auge und Stoffe nnter den Händen, bei denen die eigentümliche Anlage und Zu¬ sammenziehung ihr volles Recht hatte und poetische Wirkungen hervorrief, die eben nur auf diesem Wege zu erreichen waren. Als aber dann die Form dieser auf Stunden zusammengedrängten Tragödie — im „Britanniens" und im ..Mithridat" ein Wunder von fortreißender Entwicklung und feinstem Schliff — jedem Stoff aufgezwungen wurde, den ein französischer Tragiker überhaupt behandelte, als eine greisenhaft gewordne Gewohnheit den Dichter, der seine Schöpfung dargestellt sehen wollte, immer wieder in den überlieferte» Stil hineinzwnng, während alle Motive und Stoffe, deren innerm Wesen dieser Stil entsprach, längst verbraucht waren, da wurde es klar, daß man sich in der überlieferten Form eine Tyrannin der bedenklichsten Art aufgezogen hatte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/411>, abgerufen am 23.11.2024.