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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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auch Leopold I. das Ziel, die durch den westfälischen Frieden so sehr ge¬
schwächte Kaisergewalt wieder zu krustigen. Auf diese Weise befanden sich die
deutschen Stände gewissermaßen zwischen Scylla und Charybdis, und oft
genug mußten sie sich die Frage vorlegen, welche von beiden Gefahren eigentlich
die größere sei? und oft genug lautete die Autwort heute anders als gestern.
Ans dieser, auf relativ berechtigten Gründen des Rechts und der Politik ge¬
stütztem schwankenden Haltung der Stunde beruhte aber auch die gesteigerte
Zwiespältigkeit und Ohnmacht des Reichs, die den ganzen Zeitraum, um den
es sich handelt, in so auffallendem Maße kennzeichnet.

In eiuer ausführlichen, aber immer klaren und durchsichtigen Darstellung,
nnter vollster Berwertnng der uus vorliegenden Quellen verfolgt Erdmanns-
dörffer den Kampf der einander gegenüberstehenden Mächte und Bestrebungen
bis zu dem Augenblick, wo im Herbst 1688 der sogenannte Orleanssche Krieg
seinen Anfang nimmt. Langsam, aber stetig entwickelt sich von 1648 an
überall im Reiche das Gefühl, daß die schwerere Gefahr für alle Deutschen doch
von Westen her komme. Die Augsburger Liga vom Jahre 1686 mag bisher
meist überschätzt worden sein, insofern sich ihre Bedeutung, als es Ernst wurde,
uicht als groß erwies und ganz neue Gruppirungen der Möchte eintraten.
Aber ein Anzeichen der eingetretenen Änderung ist sie doch, und zwei Jahre
nachher fand Frankreich, als es dnrch die Umwandlung Ungarns in eine Erb-
mvnarchie erschreckt und gereizt sich ans das Reich stürzte, um ihm wenigstens
die bleibende Abtretung der Neunionen als Erfolg zu entreißen, eine gegen
alles Erwarten geeinigte Nation vor sich. Was seit langem nicht erlebt
worden war, das geschah jetzt; es begann ein Krieg, in dem kein einziger
deutscher Reichsfürst auf Seiten des Feindes stand. Jubelnd konnte Leibniz in
einem am Z0. Oktober 1688 aus Wien abgesandten Briefe ausrufen: l'^llo-
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ä'oso^rer cniölliuv ulmnAöiriönt! Und der Nyswyker Friede hat diese Hoff¬
nungen auch großenteils erfüllt und den Beweis geliefert, daß ein geeinigtes
Deutschland nicht bloß den Osmanen, sondern auch den Franzosen die Spitze
bieten konnte.




auch Leopold I. das Ziel, die durch den westfälischen Frieden so sehr ge¬
schwächte Kaisergewalt wieder zu krustigen. Auf diese Weise befanden sich die
deutschen Stände gewissermaßen zwischen Scylla und Charybdis, und oft
genug mußten sie sich die Frage vorlegen, welche von beiden Gefahren eigentlich
die größere sei? und oft genug lautete die Autwort heute anders als gestern.
Ans dieser, auf relativ berechtigten Gründen des Rechts und der Politik ge¬
stütztem schwankenden Haltung der Stunde beruhte aber auch die gesteigerte
Zwiespältigkeit und Ohnmacht des Reichs, die den ganzen Zeitraum, um den
es sich handelt, in so auffallendem Maße kennzeichnet.

In eiuer ausführlichen, aber immer klaren und durchsichtigen Darstellung,
nnter vollster Berwertnng der uus vorliegenden Quellen verfolgt Erdmanns-
dörffer den Kampf der einander gegenüberstehenden Mächte und Bestrebungen
bis zu dem Augenblick, wo im Herbst 1688 der sogenannte Orleanssche Krieg
seinen Anfang nimmt. Langsam, aber stetig entwickelt sich von 1648 an
überall im Reiche das Gefühl, daß die schwerere Gefahr für alle Deutschen doch
von Westen her komme. Die Augsburger Liga vom Jahre 1686 mag bisher
meist überschätzt worden sein, insofern sich ihre Bedeutung, als es Ernst wurde,
uicht als groß erwies und ganz neue Gruppirungen der Möchte eintraten.
Aber ein Anzeichen der eingetretenen Änderung ist sie doch, und zwei Jahre
nachher fand Frankreich, als es dnrch die Umwandlung Ungarns in eine Erb-
mvnarchie erschreckt und gereizt sich ans das Reich stürzte, um ihm wenigstens
die bleibende Abtretung der Neunionen als Erfolg zu entreißen, eine gegen
alles Erwarten geeinigte Nation vor sich. Was seit langem nicht erlebt
worden war, das geschah jetzt; es begann ein Krieg, in dem kein einziger
deutscher Reichsfürst auf Seiten des Feindes stand. Jubelnd konnte Leibniz in
einem am Z0. Oktober 1688 aus Wien abgesandten Briefe ausrufen: l'^llo-
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Deutschland nicht bloß den Osmanen, sondern auch den Franzosen die Spitze
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[0410] auch Leopold I. das Ziel, die durch den westfälischen Frieden so sehr ge¬ schwächte Kaisergewalt wieder zu krustigen. Auf diese Weise befanden sich die deutschen Stände gewissermaßen zwischen Scylla und Charybdis, und oft genug mußten sie sich die Frage vorlegen, welche von beiden Gefahren eigentlich die größere sei? und oft genug lautete die Autwort heute anders als gestern. Ans dieser, auf relativ berechtigten Gründen des Rechts und der Politik ge¬ stütztem schwankenden Haltung der Stunde beruhte aber auch die gesteigerte Zwiespältigkeit und Ohnmacht des Reichs, die den ganzen Zeitraum, um den es sich handelt, in so auffallendem Maße kennzeichnet. In eiuer ausführlichen, aber immer klaren und durchsichtigen Darstellung, nnter vollster Berwertnng der uus vorliegenden Quellen verfolgt Erdmanns- dörffer den Kampf der einander gegenüberstehenden Mächte und Bestrebungen bis zu dem Augenblick, wo im Herbst 1688 der sogenannte Orleanssche Krieg seinen Anfang nimmt. Langsam, aber stetig entwickelt sich von 1648 an überall im Reiche das Gefühl, daß die schwerere Gefahr für alle Deutschen doch von Westen her komme. Die Augsburger Liga vom Jahre 1686 mag bisher meist überschätzt worden sein, insofern sich ihre Bedeutung, als es Ernst wurde, uicht als groß erwies und ganz neue Gruppirungen der Möchte eintraten. Aber ein Anzeichen der eingetretenen Änderung ist sie doch, und zwei Jahre nachher fand Frankreich, als es dnrch die Umwandlung Ungarns in eine Erb- mvnarchie erschreckt und gereizt sich ans das Reich stürzte, um ihm wenigstens die bleibende Abtretung der Neunionen als Erfolg zu entreißen, eine gegen alles Erwarten geeinigte Nation vor sich. Was seit langem nicht erlebt worden war, das geschah jetzt; es begann ein Krieg, in dem kein einziger deutscher Reichsfürst auf Seiten des Feindes stand. Jubelnd konnte Leibniz in einem am Z0. Oktober 1688 aus Wien abgesandten Briefe ausrufen: l'^llo- NIÄFIIS n'g,)linkt jxung,i8 6Le» witmx unis eilt'vllo S8t ü, xrvssnt, 0N Ä lieu ä'oso^rer cniölliuv ulmnAöiriönt! Und der Nyswyker Friede hat diese Hoff¬ nungen auch großenteils erfüllt und den Beweis geliefert, daß ein geeinigtes Deutschland nicht bloß den Osmanen, sondern auch den Franzosen die Spitze bieten konnte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/410>, abgerufen am 01.09.2024.