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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Charles Aingsley als Dichter und Sozialreformer

Wasser wurde nur selten erneuert --, ein paar von den großen Larven und
andern umherschwimmenden Ungeheuern fischen, die einen so wichtigen Teil
meiner Naturwunder ausmachten. Da packte mich plötzlich ein Entsetzen vor
diesem Orte. Die düstern Kerkermauern über mir mit ihrem Baldachin von
fahlem Rauch, das trübselige, schlüpfrige, unebne Pflaster, der schauderhafte
Gestank des faulenden Pfuhls, der völlige Mangel an Form, Farbe und Leben
ringsum drückte!? mich nieder, ohne daß ich mir damals meine Gefühle so
hätte erklären können, wie ich es jetzt kann. Dann aber überkam mich jener
Traina von den Südseeinseln und der freien, offnen See. Ich glitt hinab
von meinem hohen Sitz. Mit heißen Thränen warf ich mich im Hof auf
die Kniee und betete laut zu Gott, er möchte mich Missionar werden lassen."

Aber der erste Missionar, den Akkon in seiner Familie zu sehen bekommt,
widerspricht so sehr der Vorstellung, die er sich von einem solchen Murne
gemacht hat, daß er seine welterobernden Träume aufgiebt und als Lehrling
in eine Londoner Schneiderwerkstatt eintritt. Mit unübertrefflicher Wahrheit
schildert nun Kingsleh das erbärmliche Leben, das die Arbeiter in den Lon¬
doner Werkstätten führen, bis sie, von den Arbeitgebern aufs äußerste aus¬
genutzt, endlich an der Schwindsucht zu Grunde gehen: "Eine niedrige Stube
mit schiefer Wand, in der mir eine erstickende Luft entgegenschlng, ein Gemisch
von Menschenatem und Schweiß, abgestandnem Bier, dem süßlichen, ekel¬
erregenden Geruch des Wachholderbranntweins und dem sauern, kaum minder
ekelhaften des neuen Tuchs. Auf dem Fußboden, der dick mit Staub und
Schmutz, Tuchschnitzeln und Fadenenden bedeckt war, saßen etwa ein Dutzend
hagere, nachlässig gekleidete Männer ohne Schuhe, mit halb abgehärmten, halb
gleichgiltigen Gesichtern, vor denen mir graute. Die Fenster waren fest ge¬
schlossen, um. die kalte Winterluft abzuhalten. Von den Scheiben lief der
verdichtete Atem in Strömen herab und verwischte die trübe Aussicht aus
Schornsteine und Rauch."

In dieser Werkstatt lernt Akkon den Chartisten oder Sozialdemokraten
John Croßthwaite kennen. Durch einen alten Buchhändler, Sands Mackah,
in dessen Charakter Kingsleh einige Züge seines Freundes Carlhlc verwoben
hat, werden ihm Bücher zum Studiren überlassen. Akkon nutzt, vom Wissens¬
durst ergriffen, jede freie Stunde morgens, abends und nachts aus, um seine
Bildung zu erweitern. Seine Mutter und die Geistlichen geraten in Ent¬
rüstung über sein weltliches Treiben. Es kommt zum offnen Bruch zwischen
Mutter und Sohn. Akkon braust in wildem Zorne auf. "Religion? ruft er.
Kein Mensch glaubt daran. Die Reichen nicht, sonst würden sie ihre Kirchen
nicht mit verschlossenen Stühlen anfüllen und die Armen ausschließen, die sich
doch mit ihnen die ganze Zeit in der Kirche Brüder nennen. Die Reichen
sollten an das Evangelinm glauben? Warum lassen sie denn die Männer,
die ihnen die Kleider machen, in einer solchen Hölle auf Erden verhungern,


Charles Aingsley als Dichter und Sozialreformer

Wasser wurde nur selten erneuert —, ein paar von den großen Larven und
andern umherschwimmenden Ungeheuern fischen, die einen so wichtigen Teil
meiner Naturwunder ausmachten. Da packte mich plötzlich ein Entsetzen vor
diesem Orte. Die düstern Kerkermauern über mir mit ihrem Baldachin von
fahlem Rauch, das trübselige, schlüpfrige, unebne Pflaster, der schauderhafte
Gestank des faulenden Pfuhls, der völlige Mangel an Form, Farbe und Leben
ringsum drückte!? mich nieder, ohne daß ich mir damals meine Gefühle so
hätte erklären können, wie ich es jetzt kann. Dann aber überkam mich jener
Traina von den Südseeinseln und der freien, offnen See. Ich glitt hinab
von meinem hohen Sitz. Mit heißen Thränen warf ich mich im Hof auf
die Kniee und betete laut zu Gott, er möchte mich Missionar werden lassen."

Aber der erste Missionar, den Akkon in seiner Familie zu sehen bekommt,
widerspricht so sehr der Vorstellung, die er sich von einem solchen Murne
gemacht hat, daß er seine welterobernden Träume aufgiebt und als Lehrling
in eine Londoner Schneiderwerkstatt eintritt. Mit unübertrefflicher Wahrheit
schildert nun Kingsleh das erbärmliche Leben, das die Arbeiter in den Lon¬
doner Werkstätten führen, bis sie, von den Arbeitgebern aufs äußerste aus¬
genutzt, endlich an der Schwindsucht zu Grunde gehen: „Eine niedrige Stube
mit schiefer Wand, in der mir eine erstickende Luft entgegenschlng, ein Gemisch
von Menschenatem und Schweiß, abgestandnem Bier, dem süßlichen, ekel¬
erregenden Geruch des Wachholderbranntweins und dem sauern, kaum minder
ekelhaften des neuen Tuchs. Auf dem Fußboden, der dick mit Staub und
Schmutz, Tuchschnitzeln und Fadenenden bedeckt war, saßen etwa ein Dutzend
hagere, nachlässig gekleidete Männer ohne Schuhe, mit halb abgehärmten, halb
gleichgiltigen Gesichtern, vor denen mir graute. Die Fenster waren fest ge¬
schlossen, um. die kalte Winterluft abzuhalten. Von den Scheiben lief der
verdichtete Atem in Strömen herab und verwischte die trübe Aussicht aus
Schornsteine und Rauch."

In dieser Werkstatt lernt Akkon den Chartisten oder Sozialdemokraten
John Croßthwaite kennen. Durch einen alten Buchhändler, Sands Mackah,
in dessen Charakter Kingsleh einige Züge seines Freundes Carlhlc verwoben
hat, werden ihm Bücher zum Studiren überlassen. Akkon nutzt, vom Wissens¬
durst ergriffen, jede freie Stunde morgens, abends und nachts aus, um seine
Bildung zu erweitern. Seine Mutter und die Geistlichen geraten in Ent¬
rüstung über sein weltliches Treiben. Es kommt zum offnen Bruch zwischen
Mutter und Sohn. Akkon braust in wildem Zorne auf. „Religion? ruft er.
Kein Mensch glaubt daran. Die Reichen nicht, sonst würden sie ihre Kirchen
nicht mit verschlossenen Stühlen anfüllen und die Armen ausschließen, die sich
doch mit ihnen die ganze Zeit in der Kirche Brüder nennen. Die Reichen
sollten an das Evangelinm glauben? Warum lassen sie denn die Männer,
die ihnen die Kleider machen, in einer solchen Hölle auf Erden verhungern,


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[0372] Charles Aingsley als Dichter und Sozialreformer Wasser wurde nur selten erneuert —, ein paar von den großen Larven und andern umherschwimmenden Ungeheuern fischen, die einen so wichtigen Teil meiner Naturwunder ausmachten. Da packte mich plötzlich ein Entsetzen vor diesem Orte. Die düstern Kerkermauern über mir mit ihrem Baldachin von fahlem Rauch, das trübselige, schlüpfrige, unebne Pflaster, der schauderhafte Gestank des faulenden Pfuhls, der völlige Mangel an Form, Farbe und Leben ringsum drückte!? mich nieder, ohne daß ich mir damals meine Gefühle so hätte erklären können, wie ich es jetzt kann. Dann aber überkam mich jener Traina von den Südseeinseln und der freien, offnen See. Ich glitt hinab von meinem hohen Sitz. Mit heißen Thränen warf ich mich im Hof auf die Kniee und betete laut zu Gott, er möchte mich Missionar werden lassen." Aber der erste Missionar, den Akkon in seiner Familie zu sehen bekommt, widerspricht so sehr der Vorstellung, die er sich von einem solchen Murne gemacht hat, daß er seine welterobernden Träume aufgiebt und als Lehrling in eine Londoner Schneiderwerkstatt eintritt. Mit unübertrefflicher Wahrheit schildert nun Kingsleh das erbärmliche Leben, das die Arbeiter in den Lon¬ doner Werkstätten führen, bis sie, von den Arbeitgebern aufs äußerste aus¬ genutzt, endlich an der Schwindsucht zu Grunde gehen: „Eine niedrige Stube mit schiefer Wand, in der mir eine erstickende Luft entgegenschlng, ein Gemisch von Menschenatem und Schweiß, abgestandnem Bier, dem süßlichen, ekel¬ erregenden Geruch des Wachholderbranntweins und dem sauern, kaum minder ekelhaften des neuen Tuchs. Auf dem Fußboden, der dick mit Staub und Schmutz, Tuchschnitzeln und Fadenenden bedeckt war, saßen etwa ein Dutzend hagere, nachlässig gekleidete Männer ohne Schuhe, mit halb abgehärmten, halb gleichgiltigen Gesichtern, vor denen mir graute. Die Fenster waren fest ge¬ schlossen, um. die kalte Winterluft abzuhalten. Von den Scheiben lief der verdichtete Atem in Strömen herab und verwischte die trübe Aussicht aus Schornsteine und Rauch." In dieser Werkstatt lernt Akkon den Chartisten oder Sozialdemokraten John Croßthwaite kennen. Durch einen alten Buchhändler, Sands Mackah, in dessen Charakter Kingsleh einige Züge seines Freundes Carlhlc verwoben hat, werden ihm Bücher zum Studiren überlassen. Akkon nutzt, vom Wissens¬ durst ergriffen, jede freie Stunde morgens, abends und nachts aus, um seine Bildung zu erweitern. Seine Mutter und die Geistlichen geraten in Ent¬ rüstung über sein weltliches Treiben. Es kommt zum offnen Bruch zwischen Mutter und Sohn. Akkon braust in wildem Zorne auf. „Religion? ruft er. Kein Mensch glaubt daran. Die Reichen nicht, sonst würden sie ihre Kirchen nicht mit verschlossenen Stühlen anfüllen und die Armen ausschließen, die sich doch mit ihnen die ganze Zeit in der Kirche Brüder nennen. Die Reichen sollten an das Evangelinm glauben? Warum lassen sie denn die Männer, die ihnen die Kleider machen, in einer solchen Hölle auf Erden verhungern,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/372>, abgerufen am 23.11.2024.