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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Lharles Ringsley als Dichter und Sozialreformer

Aber beide Studien führen ihn nicht zum Idealismus, sondern zur Sinnlich¬
keit, zum Genuß des Weibes. "Bon seinen Eltern und Lehrern war, wie
üblich, jede Unterhaltung über das Thema der Liebe ängstlich vermieden
worden. Die Bibelstellen, die es berühren, hatte man ihm sern gehalten.
Die Liebe war ihm in der Wirklichkeit verbotnes Gebiet gewesen, galt für
"fleischlich." Was konnte man erwarten? Gerade was geschah. War nichts
Heiliges in weiblicher Schönheit, warum sollte seine Neigung zu ihr eine
heilige sein? O Väter, Väter! und ihr Geistlichen, die ihr Mustererzieher zu
sein glaubt, sagt entweder dem Knaben die Wahrheit über die Liebe, oder gebt
ihm nicht ohne Anleitung und Erklärung die bösen Teufelslügen darüber, die
den Hauptstoff der lateinischen Dichtungen bilden, in die Hand."

Bei einer Fuchsjagd, die Lancelot Smith mitmacht, kommt er zu dem
Bewußtsein der unerträglichen Leere, in der er sein ganzes Leben zubringt.
Dieses Leben ohne Arbeit, ohne ernste Pflichten, ohne würdige Ziele, wie es
ein reicher Engländer führt, beginnt ihn anzuwidern. Der Sport, dieses Ge¬
misch von Geistesroheit, Überhebung, Selbstsucht und falscher Ritterlichkeit,
wird ihm zur Qual. Ohne rechtes Juteresse und ohne Freudigkeit macht er
die tolle Fuchsjagd mit, die der Baron Laviugtou auf seiner Besitzung Whit-
ford veranstaltet hat. Sein Freund, der Oberst Bracebridge, sieht in Laneelots
Tasche das Buch, Anleitung zu einem frommen Leben von Sankt Franziskus
von Sales, und ein schallendes Gelächter der Spvrtgesellschaft begleitet Brace-
bridges Bemerkung. Ingrimm und Trauer schleichen sich in Lmicelvts Herz.
"Da waren rings die unwandelbaren Hügel, die ans unendlich fernen Zeiten
stammten. Und hier war er, die Eintagsfliege -- auf ihnen fuchsjagcnd!
Er schämte sich, und umsomehr, als ihm eine innere Stimme zuflüsterte: Fuchs-
jageu ist nicht schimpflich, aber deiner selbst schäme dich! Bist du eine bloße
Eintagsfliege, so ist es deine Sunde, daß du eine bist."

Die Schilderung der Fuchsjagd gehört zu dem Besten, was Kingsley ge¬
schrieben hat. Selten hat er eine gleiche Kraft, Schönheit und Anschaulichkeit
der Sprache erreicht, wie an dieser Stelle. Es ist einem beim Lesen zu Mute,
als machte man selbst den tollen Reitersport mit. Wir sehen die Landschaft
vor uns mit ihren mannichfaltigen Bildern, den Wäldern und Hügeln, deu
Brachfeldern und Morästen, den stachligen Hecken und schäumenden Bächen.
Wir atmen die frische, feuchte Luft, nur sehen die wechselnde Beleuchtung, den
Duftschleier des Tannenwaldes und die Nebelstreifen der Niederungen. Wir
hören das Gekläff der Meute, das Wiehern der Pferde und das Geschrei der
Treiber. Wir sehen die Reiter herankommen. "Der langsame Gang wurde
zum Trab, der Trab zum Galopp. Dann scholl ein ferner, schwacher, melancho¬
lischer Ruf, dem ein: Fort, ahoi! vom Felde her antwortete. Ein klagendes
Signal des Waldhorns; das dumpfe Donnern vieler Roßhufe, die auf der
andern Waldseite einherpolterten -- dann blitzten Rotröcke wie helle Funken


Lharles Ringsley als Dichter und Sozialreformer

Aber beide Studien führen ihn nicht zum Idealismus, sondern zur Sinnlich¬
keit, zum Genuß des Weibes. „Bon seinen Eltern und Lehrern war, wie
üblich, jede Unterhaltung über das Thema der Liebe ängstlich vermieden
worden. Die Bibelstellen, die es berühren, hatte man ihm sern gehalten.
Die Liebe war ihm in der Wirklichkeit verbotnes Gebiet gewesen, galt für
»fleischlich.« Was konnte man erwarten? Gerade was geschah. War nichts
Heiliges in weiblicher Schönheit, warum sollte seine Neigung zu ihr eine
heilige sein? O Väter, Väter! und ihr Geistlichen, die ihr Mustererzieher zu
sein glaubt, sagt entweder dem Knaben die Wahrheit über die Liebe, oder gebt
ihm nicht ohne Anleitung und Erklärung die bösen Teufelslügen darüber, die
den Hauptstoff der lateinischen Dichtungen bilden, in die Hand."

Bei einer Fuchsjagd, die Lancelot Smith mitmacht, kommt er zu dem
Bewußtsein der unerträglichen Leere, in der er sein ganzes Leben zubringt.
Dieses Leben ohne Arbeit, ohne ernste Pflichten, ohne würdige Ziele, wie es
ein reicher Engländer führt, beginnt ihn anzuwidern. Der Sport, dieses Ge¬
misch von Geistesroheit, Überhebung, Selbstsucht und falscher Ritterlichkeit,
wird ihm zur Qual. Ohne rechtes Juteresse und ohne Freudigkeit macht er
die tolle Fuchsjagd mit, die der Baron Laviugtou auf seiner Besitzung Whit-
ford veranstaltet hat. Sein Freund, der Oberst Bracebridge, sieht in Laneelots
Tasche das Buch, Anleitung zu einem frommen Leben von Sankt Franziskus
von Sales, und ein schallendes Gelächter der Spvrtgesellschaft begleitet Brace-
bridges Bemerkung. Ingrimm und Trauer schleichen sich in Lmicelvts Herz.
„Da waren rings die unwandelbaren Hügel, die ans unendlich fernen Zeiten
stammten. Und hier war er, die Eintagsfliege — auf ihnen fuchsjagcnd!
Er schämte sich, und umsomehr, als ihm eine innere Stimme zuflüsterte: Fuchs-
jageu ist nicht schimpflich, aber deiner selbst schäme dich! Bist du eine bloße
Eintagsfliege, so ist es deine Sunde, daß du eine bist."

Die Schilderung der Fuchsjagd gehört zu dem Besten, was Kingsley ge¬
schrieben hat. Selten hat er eine gleiche Kraft, Schönheit und Anschaulichkeit
der Sprache erreicht, wie an dieser Stelle. Es ist einem beim Lesen zu Mute,
als machte man selbst den tollen Reitersport mit. Wir sehen die Landschaft
vor uns mit ihren mannichfaltigen Bildern, den Wäldern und Hügeln, deu
Brachfeldern und Morästen, den stachligen Hecken und schäumenden Bächen.
Wir atmen die frische, feuchte Luft, nur sehen die wechselnde Beleuchtung, den
Duftschleier des Tannenwaldes und die Nebelstreifen der Niederungen. Wir
hören das Gekläff der Meute, das Wiehern der Pferde und das Geschrei der
Treiber. Wir sehen die Reiter herankommen. „Der langsame Gang wurde
zum Trab, der Trab zum Galopp. Dann scholl ein ferner, schwacher, melancho¬
lischer Ruf, dem ein: Fort, ahoi! vom Felde her antwortete. Ein klagendes
Signal des Waldhorns; das dumpfe Donnern vieler Roßhufe, die auf der
andern Waldseite einherpolterten — dann blitzten Rotröcke wie helle Funken


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[0365] Lharles Ringsley als Dichter und Sozialreformer Aber beide Studien führen ihn nicht zum Idealismus, sondern zur Sinnlich¬ keit, zum Genuß des Weibes. „Bon seinen Eltern und Lehrern war, wie üblich, jede Unterhaltung über das Thema der Liebe ängstlich vermieden worden. Die Bibelstellen, die es berühren, hatte man ihm sern gehalten. Die Liebe war ihm in der Wirklichkeit verbotnes Gebiet gewesen, galt für »fleischlich.« Was konnte man erwarten? Gerade was geschah. War nichts Heiliges in weiblicher Schönheit, warum sollte seine Neigung zu ihr eine heilige sein? O Väter, Väter! und ihr Geistlichen, die ihr Mustererzieher zu sein glaubt, sagt entweder dem Knaben die Wahrheit über die Liebe, oder gebt ihm nicht ohne Anleitung und Erklärung die bösen Teufelslügen darüber, die den Hauptstoff der lateinischen Dichtungen bilden, in die Hand." Bei einer Fuchsjagd, die Lancelot Smith mitmacht, kommt er zu dem Bewußtsein der unerträglichen Leere, in der er sein ganzes Leben zubringt. Dieses Leben ohne Arbeit, ohne ernste Pflichten, ohne würdige Ziele, wie es ein reicher Engländer führt, beginnt ihn anzuwidern. Der Sport, dieses Ge¬ misch von Geistesroheit, Überhebung, Selbstsucht und falscher Ritterlichkeit, wird ihm zur Qual. Ohne rechtes Juteresse und ohne Freudigkeit macht er die tolle Fuchsjagd mit, die der Baron Laviugtou auf seiner Besitzung Whit- ford veranstaltet hat. Sein Freund, der Oberst Bracebridge, sieht in Laneelots Tasche das Buch, Anleitung zu einem frommen Leben von Sankt Franziskus von Sales, und ein schallendes Gelächter der Spvrtgesellschaft begleitet Brace- bridges Bemerkung. Ingrimm und Trauer schleichen sich in Lmicelvts Herz. „Da waren rings die unwandelbaren Hügel, die ans unendlich fernen Zeiten stammten. Und hier war er, die Eintagsfliege — auf ihnen fuchsjagcnd! Er schämte sich, und umsomehr, als ihm eine innere Stimme zuflüsterte: Fuchs- jageu ist nicht schimpflich, aber deiner selbst schäme dich! Bist du eine bloße Eintagsfliege, so ist es deine Sunde, daß du eine bist." Die Schilderung der Fuchsjagd gehört zu dem Besten, was Kingsley ge¬ schrieben hat. Selten hat er eine gleiche Kraft, Schönheit und Anschaulichkeit der Sprache erreicht, wie an dieser Stelle. Es ist einem beim Lesen zu Mute, als machte man selbst den tollen Reitersport mit. Wir sehen die Landschaft vor uns mit ihren mannichfaltigen Bildern, den Wäldern und Hügeln, deu Brachfeldern und Morästen, den stachligen Hecken und schäumenden Bächen. Wir atmen die frische, feuchte Luft, nur sehen die wechselnde Beleuchtung, den Duftschleier des Tannenwaldes und die Nebelstreifen der Niederungen. Wir hören das Gekläff der Meute, das Wiehern der Pferde und das Geschrei der Treiber. Wir sehen die Reiter herankommen. „Der langsame Gang wurde zum Trab, der Trab zum Galopp. Dann scholl ein ferner, schwacher, melancho¬ lischer Ruf, dem ein: Fort, ahoi! vom Felde her antwortete. Ein klagendes Signal des Waldhorns; das dumpfe Donnern vieler Roßhufe, die auf der andern Waldseite einherpolterten — dann blitzten Rotröcke wie helle Funken

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/365>, abgerufen am 24.11.2024.