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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Oolksmoral im Drama

haben wir bei andrer Gelegenheit gehandelt, und dein Sklavenleben der Alten
gedenken wir später eine besondre Abhandlung zu widmen. Für diesmal be¬
schränken wir uns auf die Bemerkung, daß die landläufige Vorstellung, bei
den Alten seien sämtliche Freie Faulenzer gewesen und nnr die Sklaven hätten
gearbeitet, grundfalsch und nur aus der bekannten Stelle des Aristoteles, ans
dem juristischen Begriffe der Sklaverei und aus den Anekdoten abgezogen ist,
die Rom in der Zeit geliefert hat, wo es Weltstadt und Weltbeherrscherin
geworden und der italienische Bauernstand großenteils durch Latifundien ver¬
drängt war, die natürlicherweise durch Sklaven bewirtschaftet wurden. Wer
fleißig und aufmerksam im Neuen Testamente liest, der wundert sich manchmal
darüber, daß es in diesen Geschichten, die doch beinahe vor neunzehnhundert
Jahren in einem entfernten Lande gespielt haben, bei der Haus- und Land¬
wirtschaft, zwischen Herrschaften und Gesinde und in vielen andern Verhält¬
nissen ganz so zugeht wie bei uns. Aus den Zustünden Palästinas, Klein¬
asiens und Mazedoniens aber, die den Schauplatz der neutestamentlichen Ge¬
schichten bilden, dürfen wir Schlüsse ziehen auf die Zustünde des ganzen
Römerreichs, da sich beim lebhaften Verkehr aller seiner Provinzen uuter
einander deren Verschiedenheiten ähnlich ausglichen, wie heute die Verschieden¬
heiten der Völker durch den Weltverkehr. Denselben Eindruck empfängt man,
wenn man Aristophanes und die Gedichte von Theokrit, Bion und Moschvs
liest, die hundertfünfzig bis zweihundertfunfzig Jahre später unter der grie¬
chischen Bevölkerung Siziliens entstanden sind. Es geht da in der Stadt wie
auf dem Lande ganz so zu wie bei uus, nur daß, um zunächst die bukolischen
Gedichte abzufertigen, unsre Hirtenjungen viel Prügel bekommen, wovon bei
den Idyllikern nichts steht, und daß die Schnadahüpfl der Burschen und
Dirnen in den Alpenländern -- in Mittel- und Norddeutschland entbehrt das
ländliche Liebesleben des veredelnden Schmelzes der Poesie vollständig --
meist weniger zart ausfallen, als die Welt- und Wechselgesüuge der alt¬
griechischen Hirtenjugend, die jn freilich der Dichter stark retouchirt und
idealisirt haben mag. Nur einmal, in Theokrits vierzehnter Idylle, kommt eine
Handlung vor, die roh genannt werden kann, aber bei weitem nicht so roh
ist wie vieles, was man täglich bei uns erlebt, und die noch dazu vollkommen
gerechtfertigt erscheint. Der junge Äschines, offenbar ein kleiner Bauer, be¬
wirtet ein Paar Gäste mit zwei Hühnlein, einem Spanferkel, Zwiebeln und
Schnecken; sein Mädchen ist anch von der Gesellschaft. Beim Trinken wird
ausgemacht, daß jeder eine Gesundheit auszubringen habe, aber den Namen zu
nennen verpflichtet sei. Kynisla müßte natürlich auf daS Wohl ihres Liebsten
trinken, aber sie bleibt stumm wie ein Fisch. Nun fällt dem Äschines ein,
daß man munkelt, sie halte es hinter seinem Rücken mit Lhkvs, dem noch
nnbürtigen Buben des Nachbars, und als nun einer der Gäste neckend ein Lied
vom Wolfe singt (Lykos heißt Wolf), da bricht das Mädchen in Thränen


Die ätherische Oolksmoral im Drama

haben wir bei andrer Gelegenheit gehandelt, und dein Sklavenleben der Alten
gedenken wir später eine besondre Abhandlung zu widmen. Für diesmal be¬
schränken wir uns auf die Bemerkung, daß die landläufige Vorstellung, bei
den Alten seien sämtliche Freie Faulenzer gewesen und nnr die Sklaven hätten
gearbeitet, grundfalsch und nur aus der bekannten Stelle des Aristoteles, ans
dem juristischen Begriffe der Sklaverei und aus den Anekdoten abgezogen ist,
die Rom in der Zeit geliefert hat, wo es Weltstadt und Weltbeherrscherin
geworden und der italienische Bauernstand großenteils durch Latifundien ver¬
drängt war, die natürlicherweise durch Sklaven bewirtschaftet wurden. Wer
fleißig und aufmerksam im Neuen Testamente liest, der wundert sich manchmal
darüber, daß es in diesen Geschichten, die doch beinahe vor neunzehnhundert
Jahren in einem entfernten Lande gespielt haben, bei der Haus- und Land¬
wirtschaft, zwischen Herrschaften und Gesinde und in vielen andern Verhält¬
nissen ganz so zugeht wie bei uns. Aus den Zustünden Palästinas, Klein¬
asiens und Mazedoniens aber, die den Schauplatz der neutestamentlichen Ge¬
schichten bilden, dürfen wir Schlüsse ziehen auf die Zustünde des ganzen
Römerreichs, da sich beim lebhaften Verkehr aller seiner Provinzen uuter
einander deren Verschiedenheiten ähnlich ausglichen, wie heute die Verschieden¬
heiten der Völker durch den Weltverkehr. Denselben Eindruck empfängt man,
wenn man Aristophanes und die Gedichte von Theokrit, Bion und Moschvs
liest, die hundertfünfzig bis zweihundertfunfzig Jahre später unter der grie¬
chischen Bevölkerung Siziliens entstanden sind. Es geht da in der Stadt wie
auf dem Lande ganz so zu wie bei uus, nur daß, um zunächst die bukolischen
Gedichte abzufertigen, unsre Hirtenjungen viel Prügel bekommen, wovon bei
den Idyllikern nichts steht, und daß die Schnadahüpfl der Burschen und
Dirnen in den Alpenländern — in Mittel- und Norddeutschland entbehrt das
ländliche Liebesleben des veredelnden Schmelzes der Poesie vollständig —
meist weniger zart ausfallen, als die Welt- und Wechselgesüuge der alt¬
griechischen Hirtenjugend, die jn freilich der Dichter stark retouchirt und
idealisirt haben mag. Nur einmal, in Theokrits vierzehnter Idylle, kommt eine
Handlung vor, die roh genannt werden kann, aber bei weitem nicht so roh
ist wie vieles, was man täglich bei uns erlebt, und die noch dazu vollkommen
gerechtfertigt erscheint. Der junge Äschines, offenbar ein kleiner Bauer, be¬
wirtet ein Paar Gäste mit zwei Hühnlein, einem Spanferkel, Zwiebeln und
Schnecken; sein Mädchen ist anch von der Gesellschaft. Beim Trinken wird
ausgemacht, daß jeder eine Gesundheit auszubringen habe, aber den Namen zu
nennen verpflichtet sei. Kynisla müßte natürlich auf daS Wohl ihres Liebsten
trinken, aber sie bleibt stumm wie ein Fisch. Nun fällt dem Äschines ein,
daß man munkelt, sie halte es hinter seinem Rücken mit Lhkvs, dem noch
nnbürtigen Buben des Nachbars, und als nun einer der Gäste neckend ein Lied
vom Wolfe singt (Lykos heißt Wolf), da bricht das Mädchen in Thränen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/355>, abgerufen am 27.11.2024.