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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

Und brachtest Stammverwandten gern der Thränen Zoll,

So ost ein Mann Achaias fiel in deine Hanoi

Nun, nach dem Traumgesichte, das mich aufgeschreckt,

Als weile mein Orestes nicht im Lichte mehr,

Sollt ihr mich grausam finden, wer mir immer naht!


So zartgcstimmt und erhabnen Sinns wie Goethes Iphigenie ist also freilich
die des Euripides nicht, man darf aber auch nicht vergessen, daß unsre deutsche
Iphigenie uicht eben zu den Bühnenzugstückeu gehört, also dem bei uns
herrschenden Geschmack wenig entspricht, und daß Goethe selbst die Stimmung,
aus der er sie geschrieben hat, halb und halb hat erzwingen müssen; seine
Alltagsstimmung war es nicht. Und welch eine würdige Rolle läßt Aischylos
die Perser spielen in seinem gleichnamigen Stück! Keine Spur von Gering¬
schätzung des Feindes ist darin zu gewahren. Wie behandeln dagegen die
Deutschen und die Franzosen einander heute gegenseitig in der Presse und in
der Litteratur!

Wenn sich aber die Griechen selbst für das edelste und von den Göttern
auserwählte Volk hielten und zur Herrschaft, wenigstens zur geistigen Herr¬
schaft über alle andern Völker berufen zu sein glaubten, hatten sie da nicht
vollkommen Recht? Sollten sie etwa die Neger für schöner halten als die
Modelle ihrer Skulpturen? Sollten sie das Hebräische der Sprache Homers
vorziehn? Sollten sie nicht stolz sein auf eine Kultur, die ihnen keine härtere
Todesstrafe gegen Staatsverbrecher gestattete, als den schmerzlos tötenden
Giftbecher, während bei den benachbarten Barbaren das Pfählen, lebendig
Schinder, lebendig Verbrennen, Augen ausstechen, Hände und Füße abhacken,
Entmannen an der Tagesordnung war? Sollten sie ihr Familienleben nicht
höher schützen als den orientalischen Harem, die Werke ihrer bildenden Kunst
nicht höher als orientalische Fratzen, ihre wenn auch unvollkommne Freiheit
nicht höher als orientalische Despotenhcrrschaft und Sklavengesinnung? Denken
wir Deutschen nicht ganz ebenso, und verachten wir nicht mit Recht solche,
die anders denken, als schlechte Patrioten? Wenn die griechischen Philosophen
und Staatsmänner den Gegensatz zwischen ihrem Volk und den Barbaren und
das höhere Recht ihres Volkes in schürferu Worten formulirt haben, als es
deutsche Moralisten und Staatsrechtslehrer mit Beziehung auf unser Volk
thun, so kommt das nicht von geringerer Menschlichkeit des griechischen Volkes,
sondern nnr daher, daß sie nicht gezwungen waren, eine Moral zu heucheln,
die bei uns nur in der Theorie gilt, und anch daher, daß sie nicht wie wir
mitten nnter Völkern lebten, die sich Gleichberechtigung erzwungen und die
auch wirklich auf derselben Kulturstufe gestanden hätten; ist doch ihre geistige
Überlegenheit sogar von den Römern, ihren Besiegern, anerkannt worden.

Von der Sklavcntheorie des Aristoteles, die heute von der Rechten wie
von der Linken mit demselben sittlichen Pathos als unsittlich verurteilt wird,


Die ätherische Volksmoral im Drama

Und brachtest Stammverwandten gern der Thränen Zoll,

So ost ein Mann Achaias fiel in deine Hanoi

Nun, nach dem Traumgesichte, das mich aufgeschreckt,

Als weile mein Orestes nicht im Lichte mehr,

Sollt ihr mich grausam finden, wer mir immer naht!


So zartgcstimmt und erhabnen Sinns wie Goethes Iphigenie ist also freilich
die des Euripides nicht, man darf aber auch nicht vergessen, daß unsre deutsche
Iphigenie uicht eben zu den Bühnenzugstückeu gehört, also dem bei uns
herrschenden Geschmack wenig entspricht, und daß Goethe selbst die Stimmung,
aus der er sie geschrieben hat, halb und halb hat erzwingen müssen; seine
Alltagsstimmung war es nicht. Und welch eine würdige Rolle läßt Aischylos
die Perser spielen in seinem gleichnamigen Stück! Keine Spur von Gering¬
schätzung des Feindes ist darin zu gewahren. Wie behandeln dagegen die
Deutschen und die Franzosen einander heute gegenseitig in der Presse und in
der Litteratur!

Wenn sich aber die Griechen selbst für das edelste und von den Göttern
auserwählte Volk hielten und zur Herrschaft, wenigstens zur geistigen Herr¬
schaft über alle andern Völker berufen zu sein glaubten, hatten sie da nicht
vollkommen Recht? Sollten sie etwa die Neger für schöner halten als die
Modelle ihrer Skulpturen? Sollten sie das Hebräische der Sprache Homers
vorziehn? Sollten sie nicht stolz sein auf eine Kultur, die ihnen keine härtere
Todesstrafe gegen Staatsverbrecher gestattete, als den schmerzlos tötenden
Giftbecher, während bei den benachbarten Barbaren das Pfählen, lebendig
Schinder, lebendig Verbrennen, Augen ausstechen, Hände und Füße abhacken,
Entmannen an der Tagesordnung war? Sollten sie ihr Familienleben nicht
höher schützen als den orientalischen Harem, die Werke ihrer bildenden Kunst
nicht höher als orientalische Fratzen, ihre wenn auch unvollkommne Freiheit
nicht höher als orientalische Despotenhcrrschaft und Sklavengesinnung? Denken
wir Deutschen nicht ganz ebenso, und verachten wir nicht mit Recht solche,
die anders denken, als schlechte Patrioten? Wenn die griechischen Philosophen
und Staatsmänner den Gegensatz zwischen ihrem Volk und den Barbaren und
das höhere Recht ihres Volkes in schürferu Worten formulirt haben, als es
deutsche Moralisten und Staatsrechtslehrer mit Beziehung auf unser Volk
thun, so kommt das nicht von geringerer Menschlichkeit des griechischen Volkes,
sondern nnr daher, daß sie nicht gezwungen waren, eine Moral zu heucheln,
die bei uns nur in der Theorie gilt, und anch daher, daß sie nicht wie wir
mitten nnter Völkern lebten, die sich Gleichberechtigung erzwungen und die
auch wirklich auf derselben Kulturstufe gestanden hätten; ist doch ihre geistige
Überlegenheit sogar von den Römern, ihren Besiegern, anerkannt worden.

Von der Sklavcntheorie des Aristoteles, die heute von der Rechten wie
von der Linken mit demselben sittlichen Pathos als unsittlich verurteilt wird,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/354>, abgerufen am 27.11.2024.