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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

Odysseus

Ich kenne keinen. Ist er auch mein schlimmster Feind
Gewesen, dennoch jammert mich sein Leiden tief.

Und als sich dann Aias entleibt hat, und Agamemnon die ehrenvolle Bestat¬
tung verhindern will, da mahnt Odysseus, den Toten nicht zu beschimpfen;
Aias sei doch nun einmal der Argeier bester gewesen;


Verletzen würdest du nicht ihn, doch das Gebot
Der Götter. Denn dem edeln Manu geziemt es nicht,
Am Toten sich zu rächen, ist er ihm auch feind.

A gamemnon

Du nimmst, Odysseus, diesen gegen mich in Schutz?

Odysseus

Gewiß! Als ichs mit Ehren durfte, haßt' ich ihn.

A game in n o n

Bedenke, welchem Manne Liebe dn erzeigst!

Odysseus

Er war mein Gegner, aber einst ein edler Mann.

Agamemnon

Wilh doch verlangst du? Ehrst du so den toten Feind?

Odysseus

Hoch steht des Helden Große über meinem Haß.


Steht solche Gesinnung gar so tief unter dem, was man täglich bei unsern
"Christen" erlebt, die auf die Tugenden der Heiden als auf "glänzende Laster"
mit hochmütigem Mitleid herabblicken? Auch Euripides läßt seine Elektrci
sprechen: "Ans Tote Schmach zu häufen -- Haß wär' unser Lohn!"

Daß dem Griechen, wie allen Völkern des Altertums, der Fremde der
Feind gewesen, und daß ihm gegen den Feind alles erlaubt gewesen sei, daß er
den Begriff der Menschheit nicht gekannt und alle Nichtgriechen als Barbaren
verachtet habe, das sind bei uns alltägliche Redensarten, an deren Wahrheit
niemand zu zweifeln scheint. Und doch findet sich in den Tragikern nichts,
was ihre Berechtigung bewiese. Es kommen da häufig Ausländer vor, na¬
mentlich kriegsgefangne Sklavinnen, aber ihnen allen wird Mitleid und mensch¬
liche Teilnahme gewidmet, nirgends sehen wir, daß sie ein edler Mann ver¬
ächtlich oder grausam behandelte oder sich nicht durch alle Pflichten der
Menschlichkeit und Gerechtigkeit auch ihnen gegenüber gebunden fühlte. Beweise
dafür sind u. a. aus des Aischhlos Agamemnon und aus des Euripides He-
kabe und Troerinnen schon angeführt worden. Es ist richtig, daß sich der
Grieche dein Griechen stärker verpflichtet fühlte als dem Ausländer, aber fühlt
der heutige Deutsche nicht auch so? Iphigenie in Tauris sagt:


Ich weihe nur das Opfer, andre schlachten es --
O grause Pflicht! -- im Innern dieses Heiligtums.....
Mein armes Herz, du wärest immerdar zuvor
sanftmütig und mitleidig gegen Fremdlinge

Grenzboten III 1893 44
Die ätherische Volksmoral im Drama

Odysseus

Ich kenne keinen. Ist er auch mein schlimmster Feind
Gewesen, dennoch jammert mich sein Leiden tief.

Und als sich dann Aias entleibt hat, und Agamemnon die ehrenvolle Bestat¬
tung verhindern will, da mahnt Odysseus, den Toten nicht zu beschimpfen;
Aias sei doch nun einmal der Argeier bester gewesen;


Verletzen würdest du nicht ihn, doch das Gebot
Der Götter. Denn dem edeln Manu geziemt es nicht,
Am Toten sich zu rächen, ist er ihm auch feind.

A gamemnon

Du nimmst, Odysseus, diesen gegen mich in Schutz?

Odysseus

Gewiß! Als ichs mit Ehren durfte, haßt' ich ihn.

A game in n o n

Bedenke, welchem Manne Liebe dn erzeigst!

Odysseus

Er war mein Gegner, aber einst ein edler Mann.

Agamemnon

Wilh doch verlangst du? Ehrst du so den toten Feind?

Odysseus

Hoch steht des Helden Große über meinem Haß.


Steht solche Gesinnung gar so tief unter dem, was man täglich bei unsern
„Christen" erlebt, die auf die Tugenden der Heiden als auf „glänzende Laster"
mit hochmütigem Mitleid herabblicken? Auch Euripides läßt seine Elektrci
sprechen: „Ans Tote Schmach zu häufen — Haß wär' unser Lohn!"

Daß dem Griechen, wie allen Völkern des Altertums, der Fremde der
Feind gewesen, und daß ihm gegen den Feind alles erlaubt gewesen sei, daß er
den Begriff der Menschheit nicht gekannt und alle Nichtgriechen als Barbaren
verachtet habe, das sind bei uns alltägliche Redensarten, an deren Wahrheit
niemand zu zweifeln scheint. Und doch findet sich in den Tragikern nichts,
was ihre Berechtigung bewiese. Es kommen da häufig Ausländer vor, na¬
mentlich kriegsgefangne Sklavinnen, aber ihnen allen wird Mitleid und mensch¬
liche Teilnahme gewidmet, nirgends sehen wir, daß sie ein edler Mann ver¬
ächtlich oder grausam behandelte oder sich nicht durch alle Pflichten der
Menschlichkeit und Gerechtigkeit auch ihnen gegenüber gebunden fühlte. Beweise
dafür sind u. a. aus des Aischhlos Agamemnon und aus des Euripides He-
kabe und Troerinnen schon angeführt worden. Es ist richtig, daß sich der
Grieche dein Griechen stärker verpflichtet fühlte als dem Ausländer, aber fühlt
der heutige Deutsche nicht auch so? Iphigenie in Tauris sagt:


Ich weihe nur das Opfer, andre schlachten es —
O grause Pflicht! — im Innern dieses Heiligtums.....
Mein armes Herz, du wärest immerdar zuvor
sanftmütig und mitleidig gegen Fremdlinge

Grenzboten III 1893 44
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[0353] Die ätherische Volksmoral im Drama Odysseus Ich kenne keinen. Ist er auch mein schlimmster Feind Gewesen, dennoch jammert mich sein Leiden tief. Und als sich dann Aias entleibt hat, und Agamemnon die ehrenvolle Bestat¬ tung verhindern will, da mahnt Odysseus, den Toten nicht zu beschimpfen; Aias sei doch nun einmal der Argeier bester gewesen; Verletzen würdest du nicht ihn, doch das Gebot Der Götter. Denn dem edeln Manu geziemt es nicht, Am Toten sich zu rächen, ist er ihm auch feind. A gamemnon Du nimmst, Odysseus, diesen gegen mich in Schutz? Odysseus Gewiß! Als ichs mit Ehren durfte, haßt' ich ihn. A game in n o n Bedenke, welchem Manne Liebe dn erzeigst! Odysseus Er war mein Gegner, aber einst ein edler Mann. Agamemnon Wilh doch verlangst du? Ehrst du so den toten Feind? Odysseus Hoch steht des Helden Große über meinem Haß. Steht solche Gesinnung gar so tief unter dem, was man täglich bei unsern „Christen" erlebt, die auf die Tugenden der Heiden als auf „glänzende Laster" mit hochmütigem Mitleid herabblicken? Auch Euripides läßt seine Elektrci sprechen: „Ans Tote Schmach zu häufen — Haß wär' unser Lohn!" Daß dem Griechen, wie allen Völkern des Altertums, der Fremde der Feind gewesen, und daß ihm gegen den Feind alles erlaubt gewesen sei, daß er den Begriff der Menschheit nicht gekannt und alle Nichtgriechen als Barbaren verachtet habe, das sind bei uns alltägliche Redensarten, an deren Wahrheit niemand zu zweifeln scheint. Und doch findet sich in den Tragikern nichts, was ihre Berechtigung bewiese. Es kommen da häufig Ausländer vor, na¬ mentlich kriegsgefangne Sklavinnen, aber ihnen allen wird Mitleid und mensch¬ liche Teilnahme gewidmet, nirgends sehen wir, daß sie ein edler Mann ver¬ ächtlich oder grausam behandelte oder sich nicht durch alle Pflichten der Menschlichkeit und Gerechtigkeit auch ihnen gegenüber gebunden fühlte. Beweise dafür sind u. a. aus des Aischhlos Agamemnon und aus des Euripides He- kabe und Troerinnen schon angeführt worden. Es ist richtig, daß sich der Grieche dein Griechen stärker verpflichtet fühlte als dem Ausländer, aber fühlt der heutige Deutsche nicht auch so? Iphigenie in Tauris sagt: Ich weihe nur das Opfer, andre schlachten es — O grause Pflicht! — im Innern dieses Heiligtums..... Mein armes Herz, du wärest immerdar zuvor sanftmütig und mitleidig gegen Fremdlinge Grenzboten III 1893 44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/353>, abgerufen am 27.11.2024.