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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Lhärles Kingsley als Dichter und Sozialreformer

menschen, die zu raffinirt sind, um männlich zu sein, und die gütig erscheinen,
weil sie weibisch sind. Zu dem schleichenden Gewürm, das in frommen Zeiten
ausschwärmt, weil es durch die Springflut der Religion aus seinen Höhlen
fortgeschwemmt wird, das aus der Frömmigkeit ein Geschäft macht und ganz
oben auf deu Wellen schwimmt, bis diese es an das feste Gestade des Reich¬
tums und der Stellung werfen."

Das Drama ist reich an satirischen Seitenhieben gegen das Muckertum
mit seinem Wahlspruch: dö8t, gegen die van den Traktarianern ge¬
priesene Askese und gegen die Unlust der Kirche, die wahre Not der Mensch¬
heit zu lindern. Es ist kein Bühnendrama; wenn auch die Sprache in ihrer
kraftvollen Kürze, in ihrem Bilderreichtum und ihren Antithesen an Shake¬
speare erinnert, so fehlt ihr doch zu sehr die Gewalt der fortreißenden Hand¬
lung, als daß wir Bunsens Meinung beistimmen konnten, in Kingsley sei ein
neuer Shakespeare erstanden, ^us Leine's Ira.""^ ist denn auch Kingslehs
einziges Drama geblieben. Er trieb nicht die Dichtkunst der Kunst wegen.
Sie war ihm ein flammendes Schwert, das er von der Gottheit in die Hand
bekommen hatte, um für Recht und Wahrheit zu kämpfen. Er sah ein, daß
die kirchlichen Streitfragen vor den gewaltigen sozialen Bestrebungen bald ver¬
schwinden würden, wie wogender Nebel vor dem Sturm. Jus i-sal struAZIs
0k tus ctg,^ -- schrieb er -- pill b"z, not ostvvscili ?ox0r^ g.mal 1'rotöstiZ.uti8in,
vnd the,v<Zkir ^tlzsism g.na (Ari^t. An die christlichsoziale Bewegung, die deu
Sozialismus christianisiren und das Christentum sozialisireu wollte, schlössen
sich bald viele hervorragende Männer, unter ihnen der bekannte Philologe
Furnivall und der Dichter Thomas Hughes, der Verfasser des auch in Deutsch¬
land vielgelesenen Buches "loin Lmvvn's O^s.

Kingslehs christlicher Sozialismus verfolgte in England ganz andre Ziele
als Stöckers christlichsoziale Partei in Deutschland. Er hatte gar nichts zu
schaffen mit feudal-reaktionären, kirchlichen, agrarischen und antisemitischen Be¬
strebungen. Im Gegenteil wollte Kingsley gegen den Torysmus eine wirk¬
liche Arbeiterpartei gründen und eine Reform nicht von oben herab bewerk¬
stelligen, sondern von unten hinauf durchkämpfen. Seine Anhänger waren
keine einseitigen Parteipvlitiker, keine konfessionellen Hetzer. "Niemals -- so
hieß ein Grundsatz in ihrem Programm -- soll der, der nicht Christ ist, wegen
seines Unglaubens von uns angegriffen oder geschmäht, niemals soll von den
Anhängern ein christliches Bekenntnis verlangt werden." Für die Haupt¬
bedeutung und Hauptstärke des in dem verfallenden Römerreich entstehenden
Christentums hielt Kingsley die soziale; sozialistisch müsse das Christentum
wieder werden, wenn es seine wahre Bestimmung in der Gegenwart erfüllen
wolle; das wahrhaft sozialistische Buch, das, richtig ausgelegt, schon alle Ideen,
Grundsätze und Forderungen der Chartisten enthalte, sei die Bibel. Die Bibel
sei das wahre Buch des armen Mannes, die wahre Stimme Gottes gegen


Lhärles Kingsley als Dichter und Sozialreformer

menschen, die zu raffinirt sind, um männlich zu sein, und die gütig erscheinen,
weil sie weibisch sind. Zu dem schleichenden Gewürm, das in frommen Zeiten
ausschwärmt, weil es durch die Springflut der Religion aus seinen Höhlen
fortgeschwemmt wird, das aus der Frömmigkeit ein Geschäft macht und ganz
oben auf deu Wellen schwimmt, bis diese es an das feste Gestade des Reich¬
tums und der Stellung werfen."

Das Drama ist reich an satirischen Seitenhieben gegen das Muckertum
mit seinem Wahlspruch: dö8t, gegen die van den Traktarianern ge¬
priesene Askese und gegen die Unlust der Kirche, die wahre Not der Mensch¬
heit zu lindern. Es ist kein Bühnendrama; wenn auch die Sprache in ihrer
kraftvollen Kürze, in ihrem Bilderreichtum und ihren Antithesen an Shake¬
speare erinnert, so fehlt ihr doch zu sehr die Gewalt der fortreißenden Hand¬
lung, als daß wir Bunsens Meinung beistimmen konnten, in Kingsley sei ein
neuer Shakespeare erstanden, ^us Leine's Ira.»«^ ist denn auch Kingslehs
einziges Drama geblieben. Er trieb nicht die Dichtkunst der Kunst wegen.
Sie war ihm ein flammendes Schwert, das er von der Gottheit in die Hand
bekommen hatte, um für Recht und Wahrheit zu kämpfen. Er sah ein, daß
die kirchlichen Streitfragen vor den gewaltigen sozialen Bestrebungen bald ver¬
schwinden würden, wie wogender Nebel vor dem Sturm. Jus i-sal struAZIs
0k tus ctg,^ — schrieb er — pill b«z, not ostvvscili ?ox0r^ g.mal 1'rotöstiZ.uti8in,
vnd the,v<Zkir ^tlzsism g.na (Ari^t. An die christlichsoziale Bewegung, die deu
Sozialismus christianisiren und das Christentum sozialisireu wollte, schlössen
sich bald viele hervorragende Männer, unter ihnen der bekannte Philologe
Furnivall und der Dichter Thomas Hughes, der Verfasser des auch in Deutsch¬
land vielgelesenen Buches "loin Lmvvn's O^s.

Kingslehs christlicher Sozialismus verfolgte in England ganz andre Ziele
als Stöckers christlichsoziale Partei in Deutschland. Er hatte gar nichts zu
schaffen mit feudal-reaktionären, kirchlichen, agrarischen und antisemitischen Be¬
strebungen. Im Gegenteil wollte Kingsley gegen den Torysmus eine wirk¬
liche Arbeiterpartei gründen und eine Reform nicht von oben herab bewerk¬
stelligen, sondern von unten hinauf durchkämpfen. Seine Anhänger waren
keine einseitigen Parteipvlitiker, keine konfessionellen Hetzer. „Niemals — so
hieß ein Grundsatz in ihrem Programm — soll der, der nicht Christ ist, wegen
seines Unglaubens von uns angegriffen oder geschmäht, niemals soll von den
Anhängern ein christliches Bekenntnis verlangt werden." Für die Haupt¬
bedeutung und Hauptstärke des in dem verfallenden Römerreich entstehenden
Christentums hielt Kingsley die soziale; sozialistisch müsse das Christentum
wieder werden, wenn es seine wahre Bestimmung in der Gegenwart erfüllen
wolle; das wahrhaft sozialistische Buch, das, richtig ausgelegt, schon alle Ideen,
Grundsätze und Forderungen der Chartisten enthalte, sei die Bibel. Die Bibel
sei das wahre Buch des armen Mannes, die wahre Stimme Gottes gegen


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[0327] Lhärles Kingsley als Dichter und Sozialreformer menschen, die zu raffinirt sind, um männlich zu sein, und die gütig erscheinen, weil sie weibisch sind. Zu dem schleichenden Gewürm, das in frommen Zeiten ausschwärmt, weil es durch die Springflut der Religion aus seinen Höhlen fortgeschwemmt wird, das aus der Frömmigkeit ein Geschäft macht und ganz oben auf deu Wellen schwimmt, bis diese es an das feste Gestade des Reich¬ tums und der Stellung werfen." Das Drama ist reich an satirischen Seitenhieben gegen das Muckertum mit seinem Wahlspruch: dö8t, gegen die van den Traktarianern ge¬ priesene Askese und gegen die Unlust der Kirche, die wahre Not der Mensch¬ heit zu lindern. Es ist kein Bühnendrama; wenn auch die Sprache in ihrer kraftvollen Kürze, in ihrem Bilderreichtum und ihren Antithesen an Shake¬ speare erinnert, so fehlt ihr doch zu sehr die Gewalt der fortreißenden Hand¬ lung, als daß wir Bunsens Meinung beistimmen konnten, in Kingsley sei ein neuer Shakespeare erstanden, ^us Leine's Ira.»«^ ist denn auch Kingslehs einziges Drama geblieben. Er trieb nicht die Dichtkunst der Kunst wegen. Sie war ihm ein flammendes Schwert, das er von der Gottheit in die Hand bekommen hatte, um für Recht und Wahrheit zu kämpfen. Er sah ein, daß die kirchlichen Streitfragen vor den gewaltigen sozialen Bestrebungen bald ver¬ schwinden würden, wie wogender Nebel vor dem Sturm. Jus i-sal struAZIs 0k tus ctg,^ — schrieb er — pill b«z, not ostvvscili ?ox0r^ g.mal 1'rotöstiZ.uti8in, vnd the,v<Zkir ^tlzsism g.na (Ari^t. An die christlichsoziale Bewegung, die deu Sozialismus christianisiren und das Christentum sozialisireu wollte, schlössen sich bald viele hervorragende Männer, unter ihnen der bekannte Philologe Furnivall und der Dichter Thomas Hughes, der Verfasser des auch in Deutsch¬ land vielgelesenen Buches "loin Lmvvn's O^s. Kingslehs christlicher Sozialismus verfolgte in England ganz andre Ziele als Stöckers christlichsoziale Partei in Deutschland. Er hatte gar nichts zu schaffen mit feudal-reaktionären, kirchlichen, agrarischen und antisemitischen Be¬ strebungen. Im Gegenteil wollte Kingsley gegen den Torysmus eine wirk¬ liche Arbeiterpartei gründen und eine Reform nicht von oben herab bewerk¬ stelligen, sondern von unten hinauf durchkämpfen. Seine Anhänger waren keine einseitigen Parteipvlitiker, keine konfessionellen Hetzer. „Niemals — so hieß ein Grundsatz in ihrem Programm — soll der, der nicht Christ ist, wegen seines Unglaubens von uns angegriffen oder geschmäht, niemals soll von den Anhängern ein christliches Bekenntnis verlangt werden." Für die Haupt¬ bedeutung und Hauptstärke des in dem verfallenden Römerreich entstehenden Christentums hielt Kingsley die soziale; sozialistisch müsse das Christentum wieder werden, wenn es seine wahre Bestimmung in der Gegenwart erfüllen wolle; das wahrhaft sozialistische Buch, das, richtig ausgelegt, schon alle Ideen, Grundsätze und Forderungen der Chartisten enthalte, sei die Bibel. Die Bibel sei das wahre Buch des armen Mannes, die wahre Stimme Gottes gegen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/327>, abgerufen am 23.11.2024.