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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Lharles Aingsley als Dichter und Sozialreformer

Tyrannei, Faulenzer und Schwindler. "Unser ist die Schuld -- ruft Kingsleh
den englischen Geistlichen und den Arbeitern zu --, wir haben uns der Bibel
bedient, als wäre sie nichts andres als ein Leitfaden für Polizeidiener, eine
Dosis Opium für Lasttiere, während sie überladen werden, ein Buch, ledig¬
lich um die Armen in Ordnung zu halten. Wir haben euch gesagt, daß die
bestehenden Gewalten eingesetzt seien von Gott, ohne euch zu sagen, wer die
nur zu oft bestehende Unfähigkeit und Erbärmlichkeit eingesetzt hat! Wir haben
euch gesagt, die Bibel predige euch Geduld, während wir euch verschwiegen,
daß sie euch die Freiheit versprach. Wir haben euch gesagt, die Bibel predige
die Rechte des Eigentums und die Pflichten der Arbeit, während sie, weiß
Gott! für einmal, wo sie dies thut, zehnmal über die Pflichten des Eigentums
und die Rechte der Arbeit predigt. Wir haben eine Fülle von Texten aus¬
findig gemacht, um die Sünden der Armen zu tadeln, aber sehr wenig Texte,
um die Sünden der Reichen zu tadeln. Ihr sagt, wir hätten euch nicht ge¬
predigt. In der That, ich denke, daß wir euch sehr viel mehr gepredigt haben,
als billigerweise auf euern Anteil kommt. Deal für eine einzige heilsame
Strafpredigt, die wir den Reichen gegeben haben, gaben wir euch tausend. Ich
war ebenso schlecht wie irgend ein andrer, aber nun habe ich es satt!"

Die französische Februarrevolution 1848 förderte die chartistische Be¬
wegung in England gewaltig. Die Arbeitermassen traten in London zu lär¬
menden Kundgebungen zusammen. Am 10. April desselben Jahres wollten
die Chartisten in einer Stärke von 300 000 Mann vor das Unterhaus ziehen
nud ihre Charte mit mehr als einer Million Unterschriften überreichen. Sie
verlangten darin: allgemeines Stimmrecht der Männer, geheime Abstimmung,
Beseitigung des Gesetzes, daß nur Vermögende zu wählen seien, Tagegeld für
die Abgeordneten, gleich große Wahlbezirke, jährliche Parlamentswahlen. Mit
Schrecken sah mau den 10. April herannahen. Ganz London war in Ver-
teidigungszustaud versetzt worden; man fürchtete Vergewaltigungen, Plünde¬
rung, Raub und Mord. Kingsleh hielt es bei diesen drohenden Zuständen
auf seiner Landpfarre nicht aus. Er eilte nach London, um die Chartisten
zu vernünftigen Handeln und ruhigen Maßregeln zu bewegen. Die große
Demonstration am 10. April zerschlug sich. Aber in den Arbeitermassen gährte
und tobte es gefährlich weiter. Kingsleh schrieb sofort ein wuchtiges "Manifest
an die Arbeiter" und ließ es am nächsten Tage an die Mauern schlagen. Die
Wirkung blieb nicht aus. Der Aufruhr war im Keime erstickt, und die Char¬
tisten traten von dem Wege der Gewalt wieder auf die Bahn ruhiger Ver¬
handlungen. Das Manifest ist für Kingslehs sozialpolitische Ideen, für seinen
Charakter und seine Menschenliebe so bezeichnend, aber auch für die Geschichte
des Sozialismus so wichtig, daß wir es hier aufnehmen müssen:

Arbeiter von England! Ihr sagt, es geschehe euch Unrecht. Bei vielen von
euch ist es so, und viele nnßer euch selbst wissen es. Beinahe alle Männer von


Lharles Aingsley als Dichter und Sozialreformer

Tyrannei, Faulenzer und Schwindler. „Unser ist die Schuld — ruft Kingsleh
den englischen Geistlichen und den Arbeitern zu —, wir haben uns der Bibel
bedient, als wäre sie nichts andres als ein Leitfaden für Polizeidiener, eine
Dosis Opium für Lasttiere, während sie überladen werden, ein Buch, ledig¬
lich um die Armen in Ordnung zu halten. Wir haben euch gesagt, daß die
bestehenden Gewalten eingesetzt seien von Gott, ohne euch zu sagen, wer die
nur zu oft bestehende Unfähigkeit und Erbärmlichkeit eingesetzt hat! Wir haben
euch gesagt, die Bibel predige euch Geduld, während wir euch verschwiegen,
daß sie euch die Freiheit versprach. Wir haben euch gesagt, die Bibel predige
die Rechte des Eigentums und die Pflichten der Arbeit, während sie, weiß
Gott! für einmal, wo sie dies thut, zehnmal über die Pflichten des Eigentums
und die Rechte der Arbeit predigt. Wir haben eine Fülle von Texten aus¬
findig gemacht, um die Sünden der Armen zu tadeln, aber sehr wenig Texte,
um die Sünden der Reichen zu tadeln. Ihr sagt, wir hätten euch nicht ge¬
predigt. In der That, ich denke, daß wir euch sehr viel mehr gepredigt haben,
als billigerweise auf euern Anteil kommt. Deal für eine einzige heilsame
Strafpredigt, die wir den Reichen gegeben haben, gaben wir euch tausend. Ich
war ebenso schlecht wie irgend ein andrer, aber nun habe ich es satt!"

Die französische Februarrevolution 1848 förderte die chartistische Be¬
wegung in England gewaltig. Die Arbeitermassen traten in London zu lär¬
menden Kundgebungen zusammen. Am 10. April desselben Jahres wollten
die Chartisten in einer Stärke von 300 000 Mann vor das Unterhaus ziehen
nud ihre Charte mit mehr als einer Million Unterschriften überreichen. Sie
verlangten darin: allgemeines Stimmrecht der Männer, geheime Abstimmung,
Beseitigung des Gesetzes, daß nur Vermögende zu wählen seien, Tagegeld für
die Abgeordneten, gleich große Wahlbezirke, jährliche Parlamentswahlen. Mit
Schrecken sah mau den 10. April herannahen. Ganz London war in Ver-
teidigungszustaud versetzt worden; man fürchtete Vergewaltigungen, Plünde¬
rung, Raub und Mord. Kingsleh hielt es bei diesen drohenden Zuständen
auf seiner Landpfarre nicht aus. Er eilte nach London, um die Chartisten
zu vernünftigen Handeln und ruhigen Maßregeln zu bewegen. Die große
Demonstration am 10. April zerschlug sich. Aber in den Arbeitermassen gährte
und tobte es gefährlich weiter. Kingsleh schrieb sofort ein wuchtiges „Manifest
an die Arbeiter" und ließ es am nächsten Tage an die Mauern schlagen. Die
Wirkung blieb nicht aus. Der Aufruhr war im Keime erstickt, und die Char¬
tisten traten von dem Wege der Gewalt wieder auf die Bahn ruhiger Ver¬
handlungen. Das Manifest ist für Kingslehs sozialpolitische Ideen, für seinen
Charakter und seine Menschenliebe so bezeichnend, aber auch für die Geschichte
des Sozialismus so wichtig, daß wir es hier aufnehmen müssen:

Arbeiter von England! Ihr sagt, es geschehe euch Unrecht. Bei vielen von
euch ist es so, und viele nnßer euch selbst wissen es. Beinahe alle Männer von


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[0328] Lharles Aingsley als Dichter und Sozialreformer Tyrannei, Faulenzer und Schwindler. „Unser ist die Schuld — ruft Kingsleh den englischen Geistlichen und den Arbeitern zu —, wir haben uns der Bibel bedient, als wäre sie nichts andres als ein Leitfaden für Polizeidiener, eine Dosis Opium für Lasttiere, während sie überladen werden, ein Buch, ledig¬ lich um die Armen in Ordnung zu halten. Wir haben euch gesagt, daß die bestehenden Gewalten eingesetzt seien von Gott, ohne euch zu sagen, wer die nur zu oft bestehende Unfähigkeit und Erbärmlichkeit eingesetzt hat! Wir haben euch gesagt, die Bibel predige euch Geduld, während wir euch verschwiegen, daß sie euch die Freiheit versprach. Wir haben euch gesagt, die Bibel predige die Rechte des Eigentums und die Pflichten der Arbeit, während sie, weiß Gott! für einmal, wo sie dies thut, zehnmal über die Pflichten des Eigentums und die Rechte der Arbeit predigt. Wir haben eine Fülle von Texten aus¬ findig gemacht, um die Sünden der Armen zu tadeln, aber sehr wenig Texte, um die Sünden der Reichen zu tadeln. Ihr sagt, wir hätten euch nicht ge¬ predigt. In der That, ich denke, daß wir euch sehr viel mehr gepredigt haben, als billigerweise auf euern Anteil kommt. Deal für eine einzige heilsame Strafpredigt, die wir den Reichen gegeben haben, gaben wir euch tausend. Ich war ebenso schlecht wie irgend ein andrer, aber nun habe ich es satt!" Die französische Februarrevolution 1848 förderte die chartistische Be¬ wegung in England gewaltig. Die Arbeitermassen traten in London zu lär¬ menden Kundgebungen zusammen. Am 10. April desselben Jahres wollten die Chartisten in einer Stärke von 300 000 Mann vor das Unterhaus ziehen nud ihre Charte mit mehr als einer Million Unterschriften überreichen. Sie verlangten darin: allgemeines Stimmrecht der Männer, geheime Abstimmung, Beseitigung des Gesetzes, daß nur Vermögende zu wählen seien, Tagegeld für die Abgeordneten, gleich große Wahlbezirke, jährliche Parlamentswahlen. Mit Schrecken sah mau den 10. April herannahen. Ganz London war in Ver- teidigungszustaud versetzt worden; man fürchtete Vergewaltigungen, Plünde¬ rung, Raub und Mord. Kingsleh hielt es bei diesen drohenden Zuständen auf seiner Landpfarre nicht aus. Er eilte nach London, um die Chartisten zu vernünftigen Handeln und ruhigen Maßregeln zu bewegen. Die große Demonstration am 10. April zerschlug sich. Aber in den Arbeitermassen gährte und tobte es gefährlich weiter. Kingsleh schrieb sofort ein wuchtiges „Manifest an die Arbeiter" und ließ es am nächsten Tage an die Mauern schlagen. Die Wirkung blieb nicht aus. Der Aufruhr war im Keime erstickt, und die Char¬ tisten traten von dem Wege der Gewalt wieder auf die Bahn ruhiger Ver¬ handlungen. Das Manifest ist für Kingslehs sozialpolitische Ideen, für seinen Charakter und seine Menschenliebe so bezeichnend, aber auch für die Geschichte des Sozialismus so wichtig, daß wir es hier aufnehmen müssen: Arbeiter von England! Ihr sagt, es geschehe euch Unrecht. Bei vielen von euch ist es so, und viele nnßer euch selbst wissen es. Beinahe alle Männer von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/328>, abgerufen am 28.07.2024.