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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Oolksmoral im Drama

Ja, werdet glücklich, aber dort! Der Erde Glück
Nahm euch der Vater. Lieblich hold Umfangen, ach
Du süßer Hauch des Atems, weicher Wangen Rot!
Geht, geht, v Kinder! Ich vermag nicht länger mehr
Euch anzublicken, ich erliege meinem Leid.
Wohl fühl ich, welche Greuel ich vollbringen will;
Doch über mein Erbarmen siegt des Zornes Wut,
Die stets die größten Leiden bringt den Sterblichen.

Als rührende Beispiele der Liebe zu den Eltern sind aus Sophokles "Anti¬
gone" mF"Ödipus aufKolonos" Antigone und Jsmene weltbekannt. Ähnlich
stellt Euripides in den Phönizierinnen den Charakter der Antigone dar. Hier
verzichtet sie auf das Ehebündnis mit Kreons Sohn, um mit ihrem Vater
ins Elend zu ziehn. Kreon beantwortet ihre Erklärung mit den Worten:
"Wohl edel bist du, aber Thorheit blendet dich." Sehr schön hat Sophokles
in den Trachinierinnen den Gewissenskonflikt zwischen zarter Liebe zur Mutter
und ehrfurchtsvollem Gehorsam gegen den Vater geschildert, worein der junge
Hyllos dnrch einen Befehl des Herakles gestürzt ward. Der Halbgott hatte
die erbeutete Jole uach Hause vorausgeschickt. Dejaueira vermag den Ge¬
danken nicht zu ertragen, das eheliche Lager mit einem Kebsweibe zu teilen,
und schickt dem Gemahl, um seine ausschließliche Liebe wieder zu gewinnen,
das Nessosgewand. Nachdem sie erfahren hat, welche furchtbare Wirkung
dieses hervorgebracht hat, bringt sie sich ums Leben. Hyllos, der die Mutter
schon des Mordes angeklagt hatte, kommt, findet sie tot und erfährt den Zu¬
sammenhang. "Laut um sie jammernd küßt' er sie auf ihren Mund, er warf
sich zu ihr, seine Seite schmiegte sich an ihre Seite, und oft seufzend klagte
er, daß ohne Grund er sie der schweren Schuld geziehn." Der sterbende Held
aber, der dann herbeigetragen wird, befiehlt seinem Sohn, die Jole zu heiraten.
Hyllos erwidert:


Weh mir, zu zürnen auf den Vater ziemt mir nicht;
Und doch, so denken ihn zu sehn, wer trüge das?

Herakles

Du sprichst, als wenn du meinem Wunsche dich versagst?

Hyllos

Kann ich die Jungfrau, die allein der Mutter Tod
Verschuldet, und daß dich ein solches Los ereilt.
Kann ich sie -- wenn nicht kranker Wahnwitz mich bethört --
Zur meinen machen? Besser, Vater, sturb much ich,
AIS ihr mich zu verbinden, die verhaßt mir ist.. ..
Ich Armer, wie bedrängen Zweifel mein Gemüt!

Herakles

Nur weil du den nicht hören willst, der dich erzeugt.

Hyllos

Soll ich, dir folgend, Vater, Frevelthat begehn?


Die ätherische Oolksmoral im Drama

Ja, werdet glücklich, aber dort! Der Erde Glück
Nahm euch der Vater. Lieblich hold Umfangen, ach
Du süßer Hauch des Atems, weicher Wangen Rot!
Geht, geht, v Kinder! Ich vermag nicht länger mehr
Euch anzublicken, ich erliege meinem Leid.
Wohl fühl ich, welche Greuel ich vollbringen will;
Doch über mein Erbarmen siegt des Zornes Wut,
Die stets die größten Leiden bringt den Sterblichen.

Als rührende Beispiele der Liebe zu den Eltern sind aus Sophokles „Anti¬
gone" mF„Ödipus aufKolonos" Antigone und Jsmene weltbekannt. Ähnlich
stellt Euripides in den Phönizierinnen den Charakter der Antigone dar. Hier
verzichtet sie auf das Ehebündnis mit Kreons Sohn, um mit ihrem Vater
ins Elend zu ziehn. Kreon beantwortet ihre Erklärung mit den Worten:
„Wohl edel bist du, aber Thorheit blendet dich." Sehr schön hat Sophokles
in den Trachinierinnen den Gewissenskonflikt zwischen zarter Liebe zur Mutter
und ehrfurchtsvollem Gehorsam gegen den Vater geschildert, worein der junge
Hyllos dnrch einen Befehl des Herakles gestürzt ward. Der Halbgott hatte
die erbeutete Jole uach Hause vorausgeschickt. Dejaueira vermag den Ge¬
danken nicht zu ertragen, das eheliche Lager mit einem Kebsweibe zu teilen,
und schickt dem Gemahl, um seine ausschließliche Liebe wieder zu gewinnen,
das Nessosgewand. Nachdem sie erfahren hat, welche furchtbare Wirkung
dieses hervorgebracht hat, bringt sie sich ums Leben. Hyllos, der die Mutter
schon des Mordes angeklagt hatte, kommt, findet sie tot und erfährt den Zu¬
sammenhang. „Laut um sie jammernd küßt' er sie auf ihren Mund, er warf
sich zu ihr, seine Seite schmiegte sich an ihre Seite, und oft seufzend klagte
er, daß ohne Grund er sie der schweren Schuld geziehn." Der sterbende Held
aber, der dann herbeigetragen wird, befiehlt seinem Sohn, die Jole zu heiraten.
Hyllos erwidert:


Weh mir, zu zürnen auf den Vater ziemt mir nicht;
Und doch, so denken ihn zu sehn, wer trüge das?

Herakles

Du sprichst, als wenn du meinem Wunsche dich versagst?

Hyllos

Kann ich die Jungfrau, die allein der Mutter Tod
Verschuldet, und daß dich ein solches Los ereilt.
Kann ich sie — wenn nicht kranker Wahnwitz mich bethört —
Zur meinen machen? Besser, Vater, sturb much ich,
AIS ihr mich zu verbinden, die verhaßt mir ist.. ..
Ich Armer, wie bedrängen Zweifel mein Gemüt!

Herakles

Nur weil du den nicht hören willst, der dich erzeugt.

Hyllos

Soll ich, dir folgend, Vater, Frevelthat begehn?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/212>, abgerufen am 23.11.2024.