Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.Die ätherische volksmoral im Drama
Die Mutterliebe, die much bei den Wilden und bei den Tieren unüber¬ Nein nein, v Seele, denke dies verwegne nicht! Und doch, wendet sie sich selbst ein, sei die Unthat fest beschlossen. Noch einen Gruß deu Söhnen! Reicht, o Kinder, reicht Die ätherische volksmoral im Drama
Die Mutterliebe, die much bei den Wilden und bei den Tieren unüber¬ Nein nein, v Seele, denke dies verwegne nicht! Und doch, wendet sie sich selbst ein, sei die Unthat fest beschlossen. Noch einen Gruß deu Söhnen! Reicht, o Kinder, reicht <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0211" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215301"/> <fw type="header" place="top"> Die ätherische volksmoral im Drama</fw><lb/> <quote> <p xml:id="ID_674"> Zu welchen Festen, wo ihr weinend nicht<lb/> Ins Haus zurückkehrt statt vom Schaun ergötzt?<lb/> Und wenn alsdann ihr zur Vermählung reift,<lb/> Wer wird es sein, wer wird es wagen, Kinder,<lb/> Die Schmach sich aufzuladen, die an meinen<lb/> Und euren Eltern gleich verderbend klebt? ....</p> <p xml:id="ID_675"> O Sohn Menökens, da allein als Bater<lb/> Du ihnen bleibst — denn wir, die sie erzeugt,<lb/> Wir starben beide —, so verlaß sie nicht,<lb/> Daß bettelnd, manulvs nicht die Deinen schweifen;<lb/> Und mache nie sie meinen Leiden gleich!<lb/> Erbarn dich ihrer, sie so jung erblickend,<lb/> Entblößt von allem, was von dir nicht kommt!<lb/> Versprich mirs, Edler! Reich mir deine Hand!<lb/> Euch aber, Kinder, faßtet ihr es schon,<lb/> Ermahnt' ich viel noch; doch ich wünsch euch jetzt,<lb/> Stets recht zu lebe», und ein bessres Los<lb/> Als des zu schauen, der euch Bater war.</p> </quote><lb/> <p xml:id="ID_676"> Die Mutterliebe, die much bei den Wilden und bei den Tieren unüber¬<lb/> windlich ist und nur durch die Verschrobenheit höherer Kulturstufen hie und<lb/> da in ihr Gegenteil verkehrt wird, bei den Athenern nachweisen zu wollen, ist<lb/> wohl überflüssig. Doch ist es interessant, zu sehen, wie Euripides einen Aus¬<lb/> nahmefall, den einzigen, den ihm nicht das Leben, sondern die Mythologie<lb/> darbot, behandelt und den Konflikt zwischen der natürlichen mütterlichen Em¬<lb/> pfindung und verbrecherischer Leidenschaft schildert. Nicht eine Griechin war<lb/> es ^_ „kein Weib in Hellas hätte dies vermocht" — die sich dnrch Nachsucht<lb/> und Eifersucht hinreißen ließ, ihre Kinder zu morden, sondern die Tochter<lb/> des Kolcherkvnigs, die böse Zauberin Mcdeia, die schon ihren kleinen Bruder<lb/> rasender Liebesleidenschaft grausam geopfert hatte, das Mannweib, das den<lb/> Gemahl Memme schalt, das „ruchlose Scheusal, Löwin du, uicht Weib," wie<lb/> sie Jason nennt. Es kennzeichnet den Athener, daß er auch noch in einem<lb/> solchen Weibe die dämonische Leidenschaft erst einen schweren Kampf mit der<lb/> Mutterliebe bestehen läßt, ehe sie sich zu ihrem verruchten Entschlüsse durchringt.</p><lb/> <quote> Nein nein, v Seele, denke dies verwegne nicht!<lb/> O laß die Kinder, schone sie, Unselige!<lb/> Mit dir im Banne lebend, sind sie Wonne dir.<lb/> Nein, bei den Rachcgeistern dort in Hades Nacht!<lb/> Nie solls geschehen, daß ich meine Kinder selbst<lb/> Hingabe, meiner Widersacher Spott zu sein.</quote><lb/> <p xml:id="ID_677"> Und doch, wendet sie sich selbst ein, sei die Unthat fest beschlossen.</p><lb/> <quote> Noch einen Gruß deu Söhnen! Reicht, o Kinder, reicht<lb/> Der Mutter eure Rechte, sie zu küssen, dar.<lb/> O liebe Hände, lieber Mund, liebreizende<lb/> Gestalt, o meiner Kinder edles Angesicht!</quote><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0211]
Die ätherische volksmoral im Drama
Zu welchen Festen, wo ihr weinend nicht
Ins Haus zurückkehrt statt vom Schaun ergötzt?
Und wenn alsdann ihr zur Vermählung reift,
Wer wird es sein, wer wird es wagen, Kinder,
Die Schmach sich aufzuladen, die an meinen
Und euren Eltern gleich verderbend klebt? ....
O Sohn Menökens, da allein als Bater
Du ihnen bleibst — denn wir, die sie erzeugt,
Wir starben beide —, so verlaß sie nicht,
Daß bettelnd, manulvs nicht die Deinen schweifen;
Und mache nie sie meinen Leiden gleich!
Erbarn dich ihrer, sie so jung erblickend,
Entblößt von allem, was von dir nicht kommt!
Versprich mirs, Edler! Reich mir deine Hand!
Euch aber, Kinder, faßtet ihr es schon,
Ermahnt' ich viel noch; doch ich wünsch euch jetzt,
Stets recht zu lebe», und ein bessres Los
Als des zu schauen, der euch Bater war.
Die Mutterliebe, die much bei den Wilden und bei den Tieren unüber¬
windlich ist und nur durch die Verschrobenheit höherer Kulturstufen hie und
da in ihr Gegenteil verkehrt wird, bei den Athenern nachweisen zu wollen, ist
wohl überflüssig. Doch ist es interessant, zu sehen, wie Euripides einen Aus¬
nahmefall, den einzigen, den ihm nicht das Leben, sondern die Mythologie
darbot, behandelt und den Konflikt zwischen der natürlichen mütterlichen Em¬
pfindung und verbrecherischer Leidenschaft schildert. Nicht eine Griechin war
es ^_ „kein Weib in Hellas hätte dies vermocht" — die sich dnrch Nachsucht
und Eifersucht hinreißen ließ, ihre Kinder zu morden, sondern die Tochter
des Kolcherkvnigs, die böse Zauberin Mcdeia, die schon ihren kleinen Bruder
rasender Liebesleidenschaft grausam geopfert hatte, das Mannweib, das den
Gemahl Memme schalt, das „ruchlose Scheusal, Löwin du, uicht Weib," wie
sie Jason nennt. Es kennzeichnet den Athener, daß er auch noch in einem
solchen Weibe die dämonische Leidenschaft erst einen schweren Kampf mit der
Mutterliebe bestehen läßt, ehe sie sich zu ihrem verruchten Entschlüsse durchringt.
Nein nein, v Seele, denke dies verwegne nicht!
O laß die Kinder, schone sie, Unselige!
Mit dir im Banne lebend, sind sie Wonne dir.
Nein, bei den Rachcgeistern dort in Hades Nacht!
Nie solls geschehen, daß ich meine Kinder selbst
Hingabe, meiner Widersacher Spott zu sein.
Und doch, wendet sie sich selbst ein, sei die Unthat fest beschlossen.
Noch einen Gruß deu Söhnen! Reicht, o Kinder, reicht
Der Mutter eure Rechte, sie zu küssen, dar.
O liebe Hände, lieber Mund, liebreizende
Gestalt, o meiner Kinder edles Angesicht!
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