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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

Da Herakles von seiner Forderung nicht abgeht, so fügt sich Hyllos endlich,
"vor den Göttern mich auf dein Gebot berufend," und tröstet sich damit, daß
es kein Unrecht sein könne, dem Vater zu folgen.

Nicht minder ergreifend wird in mehr als einem Stück der schon er¬
wähnte Gewissenskonflikt des Orestes geschildert. In der Elektra des Euri-
pides hält ihn die Schwester zum Muttermorde an.



Und als Iphigenie auf Tauris dem Thoas die Unthat berichtet, da ruft der
Barbarenkönig entsetzt: "O Phoibos! Auch kein Wilder hätte das gewagt!"
In allen Dramen, die diesen Gegenstand behandeln, wird anch die Gelegenheit
wahrgenommen, die zärtliche Geschwisterliebe zwischen Orest und Elektra zu
schildern.

Die Ehrfurcht vor dem Alter freilich konnte in einem Volke, das mehr
geneigt war, die Kinder zu verzärteln als zu züchtigen, das die Individualität
pflegte und demokratischer Gleichheit zustrebte, nicht stark entwickelt sein. Jeder¬
mann kennt die Anekdote, wie die Athener einmal im Theater von den lakedämo¬
nischen Gesandten beschämt wurden, die einem zu spät kommenden Greise Platz
machten. Da konnten denn auch leicht Verletzungen der Pietät gegen die
eignen Eltern vorkommen. Aber so weit wie die Germanen sind die Athener
darin doch nicht gegangen. Bei den Germanen galt, wie Wackernagel mitteilt,
die Regel: Kann der Greis nicht mehr gehen, stehen oder reiten "uugehabt
und ungcstcibt, mit wohlbedachten Mute, freiem Willen und guter Vernunft,"
so vertauschen Vater und Sohn die Stellung; der Sohn wird Vormund des
Vaters, damit zugleich auch der Mutter, und schickt die Alten mit den Knechten
das Vieh hüten, oder wozu sie sonst etwa noch zu gebrauchen sind. Wenn
da Sophokles Söhne den greisen Vater wegen Liederlichkeit verklagen und
beantragen, daß er für unmündig erklärt werde, so war das doch nur ein


Die ätherische Volksmoral im Drama

Da Herakles von seiner Forderung nicht abgeht, so fügt sich Hyllos endlich,
„vor den Göttern mich auf dein Gebot berufend," und tröstet sich damit, daß
es kein Unrecht sein könne, dem Vater zu folgen.

Nicht minder ergreifend wird in mehr als einem Stück der schon er¬
wähnte Gewissenskonflikt des Orestes geschildert. In der Elektra des Euri-
pides hält ihn die Schwester zum Muttermorde an.



Und als Iphigenie auf Tauris dem Thoas die Unthat berichtet, da ruft der
Barbarenkönig entsetzt: „O Phoibos! Auch kein Wilder hätte das gewagt!"
In allen Dramen, die diesen Gegenstand behandeln, wird anch die Gelegenheit
wahrgenommen, die zärtliche Geschwisterliebe zwischen Orest und Elektra zu
schildern.

Die Ehrfurcht vor dem Alter freilich konnte in einem Volke, das mehr
geneigt war, die Kinder zu verzärteln als zu züchtigen, das die Individualität
pflegte und demokratischer Gleichheit zustrebte, nicht stark entwickelt sein. Jeder¬
mann kennt die Anekdote, wie die Athener einmal im Theater von den lakedämo¬
nischen Gesandten beschämt wurden, die einem zu spät kommenden Greise Platz
machten. Da konnten denn auch leicht Verletzungen der Pietät gegen die
eignen Eltern vorkommen. Aber so weit wie die Germanen sind die Athener
darin doch nicht gegangen. Bei den Germanen galt, wie Wackernagel mitteilt,
die Regel: Kann der Greis nicht mehr gehen, stehen oder reiten „uugehabt
und ungcstcibt, mit wohlbedachten Mute, freiem Willen und guter Vernunft,"
so vertauschen Vater und Sohn die Stellung; der Sohn wird Vormund des
Vaters, damit zugleich auch der Mutter, und schickt die Alten mit den Knechten
das Vieh hüten, oder wozu sie sonst etwa noch zu gebrauchen sind. Wenn
da Sophokles Söhne den greisen Vater wegen Liederlichkeit verklagen und
beantragen, daß er für unmündig erklärt werde, so war das doch nur ein


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[0213] Die ätherische Volksmoral im Drama Da Herakles von seiner Forderung nicht abgeht, so fügt sich Hyllos endlich, „vor den Göttern mich auf dein Gebot berufend," und tröstet sich damit, daß es kein Unrecht sein könne, dem Vater zu folgen. Nicht minder ergreifend wird in mehr als einem Stück der schon er¬ wähnte Gewissenskonflikt des Orestes geschildert. In der Elektra des Euri- pides hält ihn die Schwester zum Muttermorde an. Und als Iphigenie auf Tauris dem Thoas die Unthat berichtet, da ruft der Barbarenkönig entsetzt: „O Phoibos! Auch kein Wilder hätte das gewagt!" In allen Dramen, die diesen Gegenstand behandeln, wird anch die Gelegenheit wahrgenommen, die zärtliche Geschwisterliebe zwischen Orest und Elektra zu schildern. Die Ehrfurcht vor dem Alter freilich konnte in einem Volke, das mehr geneigt war, die Kinder zu verzärteln als zu züchtigen, das die Individualität pflegte und demokratischer Gleichheit zustrebte, nicht stark entwickelt sein. Jeder¬ mann kennt die Anekdote, wie die Athener einmal im Theater von den lakedämo¬ nischen Gesandten beschämt wurden, die einem zu spät kommenden Greise Platz machten. Da konnten denn auch leicht Verletzungen der Pietät gegen die eignen Eltern vorkommen. Aber so weit wie die Germanen sind die Athener darin doch nicht gegangen. Bei den Germanen galt, wie Wackernagel mitteilt, die Regel: Kann der Greis nicht mehr gehen, stehen oder reiten „uugehabt und ungcstcibt, mit wohlbedachten Mute, freiem Willen und guter Vernunft," so vertauschen Vater und Sohn die Stellung; der Sohn wird Vormund des Vaters, damit zugleich auch der Mutter, und schickt die Alten mit den Knechten das Vieh hüten, oder wozu sie sonst etwa noch zu gebrauchen sind. Wenn da Sophokles Söhne den greisen Vater wegen Liederlichkeit verklagen und beantragen, daß er für unmündig erklärt werde, so war das doch nur ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/213>, abgerufen am 23.11.2024.